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»Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?'

Hans Calmeyer - »Rassereferent' in den Niederlanden 1941-1945

AutorMathias Middelberg
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783835327283
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Hans Calmeyer sollte als »Rassereferent' über Fälle unklarer Abstammung entscheiden: War er Mittäter oder Widerständler? Der Anwalt Hans Calmeyer (1903-1972) entschied als Beamter der deutschen Besatzungsverwaltung in den Niederlanden täglich über Leben und Tod: Nach der NS-Rassenpolitik sollte er »rassische Zweifelsfälle' klären. »Arier' oder Jude? Was zugleich bedeutete: Rettung oder Deportation. In ihrer Verzweiflung erfanden tausende Verfolgte neue Abstammungsgeschichten. Der Jurist hätte diese »Zweifelsfälle' in Holland genauso entscheiden müssen wie die Behörden in Berlin. Tatsächlich legten seine Mitarbeiter und er andere Maßstäbe an und versuchten, einzelne, aber auch ganze Gruppen vor der Verfolgung zu bewahren - auch Anne Franks beste Freundin. Dennoch ist Calmeyer bis heute umstritten: »Schindler oder Schwindler?' titelte der »Stern'. 1992 nahm ihn Yad Vashem unter den »Gerechten unter den Völkern' auf. Andere sehen in ihm ein funktionierendes Rädchen im Getriebe der Mordmaschinerie. Mathias Middelberg legt an konkreten Fällen die Handlungsweisen und -spielräume des »Rassereferenten' dar. - Wer war dieser Hans Calmeyer? War er Mittäter oder Widerständler?

Mathias Middelberg, geb. 1964, ist Rechtsanwalt und Mitglied des Deutschen Bundestages. 2003 wurde er mit einer rechtshistorischen Arbeit über Hans Calmeyers Wirken in der deutschen Besatzungsverwaltung der Niederlande während des Zweiten Weltkriegs promoviert. Veröffentlichungen u. a.: Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer (2005).

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Leseprobe

Hans Calmeyer


Hans Georg Calmeyer wurde als jüngster von drei Brüdern am 23. Juni 1903 in Osnabrück geboren.1 Es war ein konservativ-humanistisch geprägtes Elternhaus, in dem Hans heranwuchs. Vater Georg Rudolf Calmeyer war Richter. Er machte eine typische Justizkarriere mit häufigen Versetzungen, die ihn und die ganze Familie quer durch die preußischen Provinzen führten. Mutter Elisabeth entstammte der alteingesessenen Kaufmannsfamilie Abeken, die zur Oberschicht in Osnabrück zählte. Die Abekens waren das, was man heute »Bildungbürger« nennt. Vorfahre Bernhard Rudolf Abeken hatte in engem Kontakt zu Goethe gestanden und war in Weimar Hauslehrer der Kinder Friedrich Schillers gewesen.2 »Diesem Elternhaus«, berichtete Calmeyer später, »verdanke ich eine überdurchschnittlich vielseitige Erziehung.«3

Die Brüder Alfred und Rudolf (»Rudel«) waren deutlich älter, um vier und fünf Jahre. Hans blickte zu ihnen auf, nahm sie in vielem als Vorbild. Schon als Kind fiel er durch außergewöhnliche Intelligenz und ein hohes Maß an Sensibilität auf. Der Nachbarsjunge, Schulkamerad und schließlich lebenslange Freund Eberhard Westerkamp berichtete:

»Die drei Calmeyer-Jungens, von denen Hans der jüngste war, hatten von Hause aus ihre – später hervorstechende – besondere Intelligenz, Hans, für ein primitiveres Gemüt wie mich, seinen leicht genialischen ›Abekenschen Spleen‹ dazu; […] mit einer gewissen Sonderlingszumischung.«4

Diese »Sonderlingszumischung« blieb ein Leben lang. Als »Sonderling« oder als Einzelgänger, so wurde Calmeyer von vielen gesehen, so erkannte er sich auch selbst.

Wie seine Brüder erhielt auch der jüngste eine klassisch-humanistische Schulausbildung – am Osnabrücker Ratsgymnasium, am Domgymnasium in Naumburg und vier Jahre auch am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Gnesen, in der damals noch preußischen Provinz Posen. Griechisch und Latein wurde da »gebimst«. Fast militärischer Drill bestimmte das Lernen. – »Eine fürchterliche Penne«, schrieb Calmeyer. »In diesem Kaiser-Wilhelm-Schwitzkasten wurde ich zum überzeugten Nichtpreußen.« Zugeben musste er aber: »Auf ostdeutschen Schulen war man den gleichen Jahrgängen im Westen und Süden um gute zwei Jahre voraus.«5

Ansonsten war Calmeyers Jugend behütet und unbeschwert. Eine heile Familienwelt – bis zum Ersten Weltkrieg. Das Kriegsjahr 1918 wurde auch für die Calmeyers zu einem Schicksalsjahr. Hans’ Brüder, der 21-jährige »Rudel« und der 20 Jahre alte Alfred, starben im belgischen Flandern den »Heldentod für Kaiser und Vaterland«. Im Abstand von nur vier Tagen erreichten den Vater zwei Todesnachrichten:

»Im Felde, den 26.IV.18

Mit aufrichtiger Trauer muss ich die traurige Pflicht erfüllen, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn Rudolf, der als Fahnenjunker in meiner Batterie diente, am 25.IV. abends gegen 9 Uhr gefallen ist. Er fiel bei den Kanonen in Feuerstellung in treuester Erfüllung seiner Soldatenpflicht durch den Volltreffer einer englischen Granate. Sie traf so unglücklich, dass ihm das rechte Bein vollständig, das linke Bein zum größten Teil abgerissen wurde. Auch der Unterleib war teilweise zerrissen.«6

Sohn Alfred versuchte mit paralleler Post, den Schmerz der Eltern wenigstens etwas zu dämpfen:

»Gestern Abend ist Rudel gefallen. Er hat einen wunderschönen Tod gehabt, hat bis zum Ende nicht die geringsten Schmerzen gehabt. Ein großer Splitter hat ihn in der Herzgegend getroffen. Die 5 Minuten, die er noch lebte, hat er besinnunglos gelegen. Sein Gesicht zeigt nicht die geringste Spur eines Leidens oder eines großen Schmerzes, ist auch gar nicht verletzt. […] Wie oft haben wir Soldaten uns einen solchen Tod gewünscht. Denn wir fürchten ja nicht den Tod, nur die Wunden. […] Dankbar müssen wir dem lieben Gott sein, dass er ihn so friedvoll und schmerzlos hat sterben lassen.«7

Für sich selbst stellte er in Aussicht:

»Die Ablösung steht unmittelbar bevor. Die Verluste sind zu groß. Und wir hier im Felde hoffen mit Bestimmtheit auf einen baldigen Frieden. – Ihr lieben, lieben Eltern bald komme ich auf Urlaub.«

 

Schüler Calmeyer in Gnesen 1915

 

Dazu sollte es nicht mehr kommen. Stattdessen, nur vier Tage später, ein zweiter Brief:

»Nun hat der Soldatentod auch Ihren Ältesten dahingerafft. Am Sonntag haben wir den Jüngeren zur letzten Ruhe bestattet. Und so schnell sollte der Ältere folgen! […] Ich höre gemeldet, dass der Ärmste in der Feuerstellung einen Bauchschuss erhalten haben soll, dem er auf dem Transport zum Verbandsplatz erlegen ist.«8

Ein Schock, ein tiefer Schnitt für die ganze Familie – die Eltern zerbrachen fast daran. 1930 fuhr Calmeyer mit seiner Mutter ins nordfranzösische Sailly sur la Lys und besuchte die Gräber von Rudel und Alfred. Noch Jahre und Jahrzehnte später fühlte er sich von den verstorbenen Brüdern begleitet. »Sie blieben mir Instanz, durch fünf Jahrzehnte hindurch. Und immer wieder befragt die Jung-Gefallenen der kleine Hans.«9 Als 22-jähriger Student notierte er in seinem Tagebuch:

»Noch ist die Melodie meines Lebens nicht gefunden, noch finde ich zweierlei Menschen in mir, Rudel und Alfred, aber irgendwo klingen vielleicht schon ein paar Akkorde; mir selbst, diesen Blättern unfühlbar, unerkennbar, wächst ein Inhalt heran.«10

1946 hielt er fest:

»Die zwei älteren Brüder fallen Ende des Ersten Weltkrieges […], wirken aber in dem allein zurückbleibenden Jüngsten noch lange nach. Die disziplinierte Geistigkeit und logische Bestimmtheit des älteren Bruders begleiten ihn auf seinem Bildungsweg als Jurist, die musische Empfänglichkeit und Begabung des zweiten Bruders erschliessen ihm Dichtung und Musik, Rilke und Bach.«11

Im Februar 1922 bestand Hans Calmeyer sein Abitur. Dem Vorbild und Wunsch des Vaters folgend, entschied sich der 18-Jährige für das Jurastudium. »Ein ausgeprägtes Empfinden für Rechtlichkeit ist Erbgut der im hannoverschen Land bodenständigen Familie«, schrieb er später.12 Ein Semester in Freiburg, eines in Marburg, zwei in München, die restlichen vier im thüringischen Jena. Und wie der Vater wurde auch Hans Calmeyer zunächst Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung. »In Freiburg, da trug er noch einen ›Stürmer‹ auf dem Kopf, war also Corpsstudent«, erinnerte sich ein Kommilitone.13 Es war das Corps Hasso Borussia im Kösener SC.14 Konservativ und vor allem national eingestellt waren diese Corps.

Auch an der Münchener Universität blieb Calmeyer seiner nationalkonservativen Orientierung zunächst noch treu. Mit seinem Freund Eberhard Westerkamp, mit dem er sich in München eine »Bude« teilte, besuchte er im Zirkus Krone »aus Neugier« eine »politische Massenversammlung« der damals noch jungen und unbedeutenden NSDAP. Hauptredner: Adolf Hitler, »von dem man so viel hörte hier in Bayern«.15 Bei alledem, so Westerkamp, »war unser nationalpolitisches Engagement gleich bleibend auf Hochtouren«. In München beteiligten sich die Studiosi an »freiwilligen militärischen Geländeübungen«. Calmeyer wurde sogar Mitglied des berüchtigten »Freikorps Epp«.16 »Innerhalb dieses Verbandes erfolgte die Ausbildung mit der Waffe der aktiven Maschinengewehrkompanie in München«, schrieb er. »Freikorps«, wie das des Franz Ritter von Epp, damals wehrpolitischer Sprecher der NSDAP, waren irreguläre Freiwilligentruppen, die sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg vielfach in Deutschland gebildet hatten. Sie rekrutierten sich überwiegend aus ehemaligen Soldaten, die in der – gemäß den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages – stark reduzierten Reichswehr keinen Platz mehr gefunden hatten. Diese Paramilitärs bildeten nun die sogenannte Schwarze, weil verbotene, Reichswehr. Politisch war die Ausrichtung streng konservativ bis extrem rechts. Ursprünglich nach der Novemberrevolution 1918 gebildet, um die neue Regierung des Rates der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert zu stützen, engagierten sich die Freikorps von Anfang an auch in paramilitärischen Auseinandersetzungen gegen sozialistische oder kommunistische Gruppen.17 Die Freikorpseinheiten bildeten das Reservoir, aus dem später Rechtsparteien wie die NSDAP und deren Wehrverbände, die SA und die SS, ihr Personal rekrutierten. Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, SA-Chef Ernst Röhm und Hitlers Rechtsberater Hans Frank – sie alle waren Mitglieder des Freikorps Epp.

 

Kriegsversehrter an Rudolf Calmeyers Grab
im nordfranzösischen Sailly sur la Lys

 

Als Mitglied des Freikorps Epp erlebte Calmeyer auch den 9. November 1923 in München, den sogenannten Hitler-Putsch, Hitlers ersten – gescheiterten – Versuch, an die Macht zu gelangen. 1923 war ein Krisenjahr für die junge deutsche Demokratie: Rasende Inflation, Rekord-Arbeitslosigkeit, zahlreiche Streiks, Armut, Hunger und der Einmarsch der Franzosen ins Rheinland bestimmten das politische Geschehen. In diesem Chaos versuchten links- wie rechtsextreme Kräfte den Sturz der gewählten, aber wenig geschätzten Regierung....

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