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Wer-Identität und Alltagskonflikte von Schwulen

Theorie, Empirie und ein Vorschlag für ein Trainingskonzept für die Erwachsenenbildung von schwulen Männern

AutorDominik Sommer
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl99 Seiten
ISBN9783656984931
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2012 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,2, Fachhochschule Potsdam (Soziale Arbeit), Veranstaltung: Master-Thesis, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Leben schwuler Männer unterscheidet sich in zentralen Lebensbereichen von dem heterosexueller. In der Masterarbeit wurden an Hand qualitativer Interviews die besonderen Herausforderungen und Alltagskonflikte, die von Schwulen in den Bereichen Beruf, Beziehung, Herkunftsfamilie und Kinderwunsch, Szene, Männlichkeit und Sexualität bewältigt werden müssen herausgearbeitet. Die Arbeitet bietet darüber hinaus ein Konzept, an Hand dessen Schwule sich ihrer Identität bewusst werden können.

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Leseprobe

0. Einleitung


 

Ein Drittel der deutschen Bevölkerung reagiert auf Schwule offen positiv und ohne Berührungsängste oder Vorbehalte. Ungefähr ein weiteres Drittel reagiert situationsbezogen-opportunistisch, mal akzeptierend, mal ablehnend und klischeehaft. Das letzte Drittel kann als stark schwulenfeindlich eingeschätzt werden (vgl. Wiesendanger 2005; Bochow 1994). Gleichzeitig gibt eine Studie von Cabaj und Stein (1996) die Suizidrate von Schwulen als viermal höher an als die der Gesamtbevölkerung. Laut einer anderen, unter schwulen Männern in Genf durchgeführten Studie haben sechsmal mehr Schwule in ihrem Leben einen Suizidversuch unternommen als in der gesamten männlichen Bevölkerung (Häusermann/Wang 2003). 55 Prozent der Befragten haben nach derselben Studie lebensgeschichtlich betrachtet mindestens einmal ernsthafte Suizidgedanken gehabt, davon wiederum 22 Prozent in den letzten 12 Monaten. Auch das Suizidrisiko von Lesben und Schwulen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren ist um vier- bis siebenmal höher als in der heterosexuellen Vergleichsgruppe (vgl. Meurer 2003).

 

In dieses, wie ich finde, erschreckende statistische Bild passt auch der Befund von Häusermann und Wang (ebd.), nach dem 40 Prozent der befragten Schwulen das Erleben depressiver Lebensphasen oder irrationaler Ängste angaben. Kurt Wiesendanger fasst das Ergebnis der Studie wie folgt zusammen: „Über 20 Prozent der schwulen Männer in der Studie wünschten sich, nicht schwul zu sein, während lediglich gut 30 Prozent mit ihrem Schwulsein positiv identifiziert sind“ (2005: 13). Er geht davon aus, dass „fast jeder Zweite seine Homosexualität sehr ambivalent erlebt. So steht auch bloß gut die Hälfte der befragten Schwulen zu ihrer Sexualität, hat also ihre Homosexualität innerlich akzeptiert […] Oder umgekehrt ausgedrückt: Fast jeder Zweite muss Tag für Tag mit einem nicht integrierten und nicht kommunizierten Teil von sich selbst umgehen, der aber grundlegend identitätsstiftend wäre“ (ebd.).

 

Diese Zahlen mögen überraschen oder auch nicht, sie drücken den derzeitigen Stand von Schwulen in einer heteronormativen und heterosexistischen Mehrheitsgesellschaft aus. Sie zeigen die Ängste und Projektionen eines großen Teils heterosexueller Männer[1], deren Ursachen im Kern mit der Angst vor Verlust von Macht und Männlichkeitsnormen sowie der Angst vor dem Abweichenden schlechthin zu tun haben (vgl. Rauchfleisch 2001: 165 ff.; Wiesendanger 2005: 27). Und sie zeigen die Ängste und Projektionen eines erheblichen Teils aller Schwulen davor, einen offensiven und bewussten Umgang mit den Konflikten einer abweichenden Sexualität zu finden (Wiesendanger 2005: 52 f.). Sie zeigen die Bedeutung der sexuellen Identität im Leben von Menschen. So finden wir in homophoben und frauenfeindlichen heterosexuellen Männlichkeitsschemata nach wie vor ein tragendes Konzept gängiger gesellschaftlicher Herrschaftspraxis. Die Kehrseite davon ist die Unterdrückung schwuler sexueller Identität im gesellschaftlichen Leben, externalisierte und internalisierte Homophobie. Beide Konzepte verhindern den Weg zu einer freien Entfaltung schwuler sexueller Identität. Schwule Selbstentfaltung bleibt kompliziert.

 

Schwule wachsen, ebenso wie alle anderen abweichenden sexuellen Identitäten, in den allermeisten Fällen mit der „heterosexuellen Vorannahme“ (vgl. z. B. Wiesendanger 2005: 27) auf. Von Kindesbeinen an sehen sie sich unbewusst oder bewusst mit Abwertung und Verständnislosigkeit gegenüber dem eigenen sexuell-emotionalen Empfinden konfrontiert. Elternhaus, soziales Umfeld und Institutionen nehmen Schwule über mehr oder weniger lange Lebensabschnitte nicht als eine Person in ihrer Ganzheit wahr. Ausgehend von diesen Bedingungen erschwerter Identitätsbildung, also ausgehend von der gesellschaftlichen Verletzung sexueller Integrität bei einer Vielzahl von Schwulen, hat sich diese Arbeit zum Ziel gesetzt, ein Training für schwule Identitäten zu konzipieren.

 

Voraussetzung für diesen praktischen Output schwuler Erwachsenenbildung ist jedoch die theoretische wie empirische Bestimmung schwulen Identitätserlebens und spezifisch schwuler Alltagskonflikte. Dieser Arbeit liegt eine psychoanalytische Axiomatik zugrunde. Danach ist für die Entfaltung des Individuums die Bewusstwerdung, das Austragen und – wenn möglich – die Lösung von Konflikten existentiell (Wiesendanger 2005). Auf dieser Basis wird die Forschungsfrage gestellt, welchen besonderen Alltagskonflikten sich Schwule stellen müssen und von welchen sexuellen Ideologien diese Konflikte getragen werden? Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf gesellschaftlich bedingte Konflikte und Ideologien schwulen Identitätserlebens in den Bereichen Sexualität und Männlichkeit, Beziehung, Beruf, Szene, Herkunftsfamilie und Kinderwunsch. Durch einen Vergleich zwischen theoretisch erarbeiteten und empirisch erhobenen Alltagskonflikten von Schwulen sollen die Sexualideologien, mit denen sich Schwule konfrontiert sehen, transparent gemacht und ihre Auswirkungen auf die Lebenspraxis von Schwulen verdeutlicht werden.

 

Weiterhin sollen folgende Unterforschungsfragen beantwortet werden: Inwieweit können schwule Identitäten anhand des herkömmlichen Identitätsbegriffs und seiner herrschaftlichen Konzeption bearbeitet werden? Inwieweit sind das schwule Identitätserleben und die damit verbundenen Konflikte gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und Ideologien geschuldet? Wie kann eine schwule Identitätsbildung aussehen, die als Antwort auf heteronormative Unterdrückung nicht gängige Identitätspolitiken reproduziert? Wie kann eine Identitätsarbeit aussehen, die das Ich nicht in Abgrenzung zum Anderen, sondern das Ich in der fortlaufenden Auseinandersetzung zwischen Autonomie und Interdependenz versteht?

Das Ergebnis dient als theoretischer und praktischer Bezugspunkt für die Konzeptionalisierung des Identitätstrainings. Ziel der Bearbeitung der Forschungsfrage und des Trainingskonzepts ist somit die Unterstützung des schwulen Individuums bei der Bewusstwerdung seiner persönlichen wie gesellschaftlichen Bedingtheit und seines damit verbundenen Gefühlserlebens. Das erarbeitete Konzept soll eine Identitätsbildung fördern, die sich der Sonderrolle schwuler Sexualität und Männlichkeit in der jeweils gegebenen gesellschaftlichen Umwelt bewusst ist und gleichzeitig gestaltend und offensiv mit der sexuellen Lebensform umgeht.

 

Zur Beantwortung der Forschungsfragen werde ich im ersten Kapitel die Queertheorie, ihre Kritik und den herkömmlichen Identitätsbegriff diskutieren. Das Identitätskonzept wurde in den letzten zwei Jahrzehnten durch Gender- und Queerforschung grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. Butler 1996; Perko 2006 und 2007). Die Ausblendung gesellschaftlicher Machtverhältnisse im Identitätsbegriff sowie dessen Heteronormativität (kritisch vgl. Jungwirt 2007) bei Erikson (1997) und Mead (1998) stellte sich für die theoretische Bestimmung schwulen Identitätserlebens als Dilemma heraus. Mit Hilfe des imaginierenden, fragenden, offenen und prozesshaften Identitätskonzepts der „Wer-Identität“ in Anlehnung an die politische Philosophie Castoriadis (1984) sowie mit verschiedenen Elementen der Queertheorie konnte ein Analyseinstrument zur Erfassung schwuler Identitäten und ihrer Problemfelder gefunden werden, das neben der Betonung der Differenz von Identität gleichzeitig deren Verbundenheit mit allen anderen abweichenden Identitäten betont.

 

Welchen Besonderheiten Wer-Identitäten von Schwulen unterliegen, untersucht das zweite Kapitel des theoretischen Teils in den Lebensbereichen Sexualität und Männlichkeit, Coming-out, Szene, Beruf, Familie, Beziehung sowie Herkunftsfamilie und eigener Kinderwunsch. Bei dieser Kennzeichnung schwuler Lebensformen und ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit berufe ich mich im Kern auf Robert Connell (1999), Kurt Wiesendanger (2005), Udo Rauchfleisch (1997; 2001) und Volker Woltersdorff (2005). Wesentliche Konstanten schwulen Alltagslebens verdichten sich hier von der heterosexuellen Vorannahme über hegemoniale Männlichkeit bis hin zu wiederkehrenden Alltagskonflikten schwuler Männer zwischen Rebellion und Unterwerfung, Privatismus und Politik.

 

Im zweiten Kapitel wird der Focus auf die Empirie schwulen Identitätserlebens gerichtet. Zur Empirie zählt einerseits der rechtliche Rahmen schwulen Lebens. Dazu werden die Gesetze zur Partnerschaft, Adoption, Kinderwunsch und Teilnahme am zivilen Leben sowie der ehemalige § 175 StGB genauer betrachtet. Anderseits werden hier die Ergebnisse meiner qualitativ-empirischen Erhebung „Alltagskonflikte schwuler Männer“ vorgestellt. Diese Arbeit wurde von mir im Rahmen des Masterstudiengangs Soziale Arbeit als Handlungsforschungsprojekt verfasst.

 

Im dritten Kapitel wird ein Vergleich durchgeführt: Die Ergebnisse von Theorie und Empirie werden mit der diskurstheoretischen Methode der Cambridge-School (Skinner 1988) in ein kritisches Verhältnis bezüglich ihrer ideologischen Ausrichtung zueinander gesetzt. Hier stößt die Ideologie kirchlicher Sexualmoral auf dekonstruktivistische Theoriestränge. Die herkömmliche Identitätstheorie verhält sich zur Wer-Identität wie schwule hegemoniale Männlichkeit (Connell 1999) zum Rollentausch und zu Geschlechterrollenverhandlungen schwuler Beziehungspartner.

 

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