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Wer nicht schreibt, bleibt dumm

Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen

AutorMaria-Anna Schulze Brüning, Stephan Clauss
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783492976879
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Die engagierte Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning beobachtet seit Jahren, wie sich die Handschrift ihrer Schüler rapide verschlechtert. Unsere Kinder sind jedoch keine Generation lernunwilliger Grobmotoriker, wie sie betont, sondern Opfer einer fehlgeleiteten Schulpolitik. Handschrift und Rechtschreibung werden in den Grundschulen vernachlässigt und dem Experimentieren preisgegeben. Lernfreude und vernetztes Denken bleiben dabei auf der Strecke, denn Krakelschriften werden für Kinder immer mehr zum Handicap. Gemeinsam mit dem Journalisten Stephan Clauss zeigt die erfahrene Pädagogin, wie ein kostbares Kulturgut aufs Spiel gesetzt wird und welche Konzepte Schülern wirklich helfen, um aus einer »Sauklaue« eine Handschrift zu machen. Denn gut und lesbar zu schreiben ist auch im digitalen Zeitalter kein Luxus, sondern elementar für die Zukunft unserer Kinder.

Maria-Anna Schulze Brüning ist seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Lehrerin für Kunst und Französisch an einer Gesamtschule in Hamm. Vor allem bei unterschiedlichen Startbedingungen liegt ihr die individuelle Förderung ihrer Schüler am Herzen. Die von ihr erstellten Studien finden seit vielen Jahren Eingang in Fachpublikationen und ihr eigens entwickeltes Handschriften-Trainingsprogramm wird bundesweit eingesetzt.

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Leseprobe

2. Entwertung und Verfall der Handschrift

Handschriftprobleme – die neue Volkskrankheit

Jahrtausende hat es gedauert, bis die Schrift in Europa zum allgemeinen Kulturgut wurde und alle sozialen Schichten erreicht hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten fast alle Deutschen, ob sie nun auf den Bauernhöfen, im Bergbau oder in den Fabriken arbeiteten, in der Volksschule eine Handschrift erlernt, die man lesen konnte. Nur die sprichwörtlichen Arzthandschriften galten als unleserlich. Natürlich: Wer Tag für Tag ähnliche oder identische Kurztexte schreibt, verkürzt und ökonomisiert die Schrift in hohem Maße. Diese Verschleißerscheinungen der Schrift im Berufsalltag sind aber nicht mit fehlender Schreibfertigkeit zu verwechseln.

Wenn jedoch heute Einträge in Schulheften aussehen wie ebensolche Arztrezepte oder -berichte, dann handelt es sich nicht um individuelle Vereinfachungen einer erlernten Normschrift, sondern um das sichtbare Ergebnis einer grundsätzlich fehlenden Schriftkompetenz. Und dieses Nicht-schreiben-Können ist nun seit mehr als drei Jahrzehnten bei einer zunehmenden Zahl von Kindern und Jugendlichen festzustellen. Immer mehr Kinder können nicht leserlich und oft nur mit großer Anstrengung schreiben. Krakelschriften sind keine Einzelfälle mehr, sondern in den Klassenzimmern längst zur Normalität geworden.

Erstaunlich ist, dass sich dieser schleichende Verfall der Handschrift so lange scheinbar unbemerkt fortsetzen konnte. Erst im Jahre 2015 schlug der Deutsche Lehrerverband Alarm und gab eine Umfrage in Auftrag, um das ganze Ausmaß des Schriftdesasters zu verdeutlichen. Insgesamt 2002 Lehrerinnen und Lehrer aus 16 Bundesländern wurden befragt und stellten fest, dass etwa 51 Prozent der Schüler und 31 Prozent der Schülerinnen Schwierigkeiten beim Handschreiben haben. Aus Sicht der befragten Lehrkräfte können nur etwa 29 Prozent der Kinder des fünften und sechsten Jahrgangs über eine Zeitspanne von mindestens 30 Minuten beschwerdefrei mit der Hand schreiben (Deutscher Lehrerverband, 2015).

Eine Untersuchung, die ich 2011 in der Stadt Hamm (Westfalen) durchführte, ergab, dass dort jedes sechste Schulkind nicht leserlich schreiben konnte. Als Grundlage dienten 1091 Schriftproben der 5. und 6. Klassen von sechs Schulen: zwei Gymnasien, zwei Realschulen, einer Gesamtschule und einer Hauptschule. Interessanterweise gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Schulformen! Das heißt, Krakelschriften sind an allen Schulen gleichermaßen zu finden und offenbar nicht abhängig vom Lernniveau (Maria-Anna Schulze Brüning 2011). Jedes sechste Kind kann nicht richtig schreiben! Das sind in einer kleinen Grundschulklasse vier Kinder – eine Anzahl, die dort noch nicht unbedingt besorgniserregend erscheint, zumal bei Grundschülern noch Entwicklungsverzögerungen angenommen werden können. In einem sechszügigen Jahrgang einer weiterführenden Schule ist es schon eine ganze Schulklasse, bei circa 4,8 Millionen Schülern weiterführender Schulen wären es 800 000 Betroffene!

Der allmähliche Verfall der Handschrift ist ein für die Gesellschaft insgesamt folgenreiches Problem, weil es das Lernen in unseren Schulen massiv beeinträchtigt. Nicht-Betroffene denken oft, es gehe nur um mangelnde Schönschrift, es handle sich vornehmlich um ein ästhetisches Manko. Nein! Es geht um ein fehlendes Fundament des Lernens. Deutlicher formuliert: Für sehr viele Kinder ist die mangelnde Schriftkompetenz eine Katastrophe. Sie kann im Extremfall aus einem normal begabten Schüler einen Schulversager machen, der immer dann, wenn es ums schriftliche Arbeiten geht, nicht mithalten kann und frustriert das Handtuch wirft. Erstaunlicherweise leiden Kinder aller sozialer Schichten und unterschiedlichster Lernniveaus unter diesem neuen Phänomen. Mancher Förderschüler kann unter Umständen leserlicher schreiben als sein Altersgenosse vom Gymnasium nebenan. Wie ist das möglich?

Wenn es weder eine Frage der Intelligenz noch eine Frage der sozialen Herkunft ist, ob ein Kind eine lesbare Handschrift erlernt oder nicht, woran liegt es dann? An motorischen Störungen? Die gibt es sicherlich auch und die hat es immer gegeben. In den allermeisten Fällen ist es jedoch eindeutig eine Frage der Vermittlung! Und dabei geht es um zweierlei: um den Stellenwert der Handschrift im Bildungskanon und um die konkrete Didaktik. Also erstens: Welche Bedeutung wird der Handschrift und ihrem korrekten Erwerb überhaupt beigemessen? Zweitens: Wie erfolgt der Schrifterwerb genau? Welche Buchstaben und Buchstabenformen werden in welcher Reihenfolge erlernt und auf welche Art und Weise? Wie ist die Schrift aufgebaut? Diesem zweiten Part widmet sich dieses Buch sehr ausführlich, denn Eltern und Lehrer können nur intervenieren, wenn sie ganz konkrete Ansatzpunkte finden, wie sie Fehlentwicklungen verhindern, Falsches korrigieren und eine geläufige Handschrift mit dem Kind trainieren können.

Die tieferen Ursachen für das Verkommen dieser Kulturtechnik liegen jedoch in einer Neubewertung ihres Stellenwerts im bildungspolitischen Gesamtkonzept. Und da hat es seit den Sechzigerjahren entscheidende Veränderungen gegeben, die man kennen muss, um die aktuelle Situation zu verstehen. Schule ist einerseits Spiegel der Gesellschaft und andererseits ihr Motor für Veränderungen. Die Schriftdidaktik ist wie alle anderen Gegenstandsbereiche der Schule eingebettet in eine Vorstellung oder Vision davon, welche Werte und Einstellungen Grundlagen der Gesellschaft sein sollen. Es geht darum, Persönlichkeiten zu formen, die den vermuteten und gewünschten Erfordernissen einer sich wandelnden Gesellschaft entsprechen. Bildungsvorgaben sind also zwangsläufig ideologiegeprägt. Was hat das Erlernen der Handschrift damit zu tun? Ist dieser Unterrichtsgegenstand nicht eigentlich wertneutral? Er ist es schon allein deshalb nicht, weil die Bedeutung der Handschrift und damit ihr Platz in der Schule heute angesichts der digitalen Medien-Revolution diskutiert und neu bewertet wird. Während die meisten die Frage, ob wir in Zukunft überhaupt noch eine Handschrift brauchen, für abseitig halten, haben andere sie längst beantwortet und betrachten die Tastatur als vollwertigen Ersatz für das Schreiben mit der Hand.

Vom Drill zum Laissez-faire

Diese neue, grundsätzliche Infragestellung der Handschrift hat aber nichts mit den schon viel länger existierenden Schriftproblemen der Schüler zu tun. In den Schulen hat sich in den vergangenen 50 Jahren ein grundlegender Wandel vollzogen, der nicht nur Auswirkungen auf die Bildungsinhalte und ihre Gewichtung, sondern insbesondere auf die Art zu lernen und zu unterrichten hatte. Auch das Selbstverständnis von Schülern und Lehrern hat sich stark verändert. Diese Entwicklungen sind von der Öffentlichkeit teilweise unbemerkt geblieben.

»Alles schläft und einer spricht, das Ganze nennt man Unterricht.« Dieser Spruch gibt eine weit verbreitete Vorstellung von Unterricht wieder, die einem traditionellen, längst überholten Bild der Schule verhaftet ist, wie sie noch in der Nachkriegszeit anzutreffen war. Die damals herrschenden Unterrichts-Prinzipien werden gern mit dem Begriff Paukschule beschrieben. Es galt, einen festen Fächerkanon mit streng strukturiertem Inventar zu vermitteln – und die Methoden dazu waren nicht gerade zimperlich. Körperliche Züchtigung beispielsweise war durchaus noch üblich und kam nicht nur bei schlechtem Betragen, sondern auch bei Lernversäumnissen zum Einsatz. Auch ermüdendes Abschreiben in Strafarbeiten war ein beliebtes Sanktionsmittel, das sicher dazu beigetragen hat, dass das Handschreiben später als Drill und Qual in Verruf geraten konnte.

Gehorsam und Anpassung waren die Tugenden, die auf dem heimlichen Lehrplan der frühen Bundesrepublik standen und die Sozialisation dieser nachhaltig prägten. Kritik und Protest der Studentenbewegung der Sechzigerjahre galten ebendiesen verkrusteten Autoritätsstrukturen, die in allen gesellschaftlichen Bereichen auch nach 1945 noch anzutreffen waren. Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren! lautete ein bekannter Protestslogan der Studenten gegen das Establishment in den Universitäten. Das Aufbrechen der Autoritätsstrukturen in Schule, Staat und Familie wurde als Grundvoraussetzung einer gesellschaftlichen Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit und Demokratie gesehen.

Einen Schlüssel zur gesellschaftlichen Neugestaltung sah man in der Umstrukturierung der Kommunikation. Der herrschaftsfreie Diskurs, den vor allem der Philosoph Jürgen Habermas als Grundlage einer emanzipierten Gesellschaft definierte, wurde zum Leitbegriff, auch in den Schulen. Dort leitete er einen Paradigmenwechsel ein, die sogenannte kommunikative Wende. Frontalunterricht und Instruktion durch den Lehrer galten nun als Einbahnstraßenkommunikation. Im Mittelpunkt sollte die gleichberechtigte Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern stehen. Inhalte und sachlogische Zusammenhänge traten in den Hintergrund zugunsten der sozialen Interaktion. Im Fremdsprachenunterricht beispielsweise galt die kommunikative Kompetenz als oberstes Ziel. Kommunizieren, reale Sprechintentionen verwirklichen, Redemittel für Sprechsituationen zusammenstellen – diese kommunikativen Prioritäten lösten die alte Herangehensweise des Übens und Wiederholens von Grammatik und Vokabular ab. Damit sind zwangsläufig die Anforderungen an formale Korrektheit gesunken. Kommunikation gilt als gelungen, wenn die Botschaft herübergekommen ist. Die äußere Form spielt dabei eine...

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