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E-Book

Werte für die Medizin

Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen

AutorGiovanni Maio
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641215781
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Eine neue Ethik der Fürsorge
Dieses Buch macht all denen Mut, die sich tagtäglich um ihre Patienten sorgen. Es zeigt ihnen auf, wie wertvoll und unverzichtbar ihre Tätigkeit ist. Denn in der Heilkunde geht es immer um alles. Es geht um Entscheidungen, die sich auf die ganze Biografie eines Menschen auswirken. Dass dabei heute die Ökonomie vorherrscht, widerspricht den Werten, die Grundlage des Heilens sind. Giovanni Maio plädiert daher für eine Rückbesinnung auf Werte wie Geduld, Behutsamkeit, Reflexivität und Demut, ohne die Fürsorge für den Menschen nicht möglich ist.

Ein Buch über Werte, die verloren zu gehen drohen und die doch für viele der Motor waren, sich für einen Heilberuf zu entscheiden.

Giovanni Maio, geboren 1964, ist Philosoph und Arzt mit langjähriger klinischer Erfahrung. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität und leitet außerdem das dortige interdisziplinäre Ethikzentrum. Giovanni Maio ist langjähriger Berater der Deutschen Bischofskonferenz, der Bundesregierung und der Bundesärztekammer.

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Leseprobe

1. Von der Bestimmung der Werte durch Bürokratie und Ökonomie

Wir leben in einer Zeit, in der die Wirklichkeit medizinischen Handelns unter die Direktive einer sozial-politischen Tendenz geraten ist, die ihrerseits die Identität der Medizin bedroht. Die moderne Medizin wird heute weitgehend unreflektiert nach dem Modell der industriellen Produktion gesteuert und immer mehr nach ökonomischen Gesichtspunkten bewertet. Dadurch gerät die Medizin in einen Strudel, der ihre eigenen Werte geradezu auf den Kopf stellt, denn in einem ökonomisierten und industrialisierten System wird das Anliegen von Pflegenden und Ärzten, die sich bewusst für einen Helferberuf entschieden haben, immer mehr zur Nebensache. In einem existenzbedrohenden Verdrängungswettbewerb sind es die Erlöse, die am Ende über das Schicksal einer Einrichtung entscheiden. So sehen sich auch die Heilberufe ständig mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob sie mit ihrer Arbeit zur Konsolidierung der Finanzen beitragen oder nicht. Wohlgemerkt erzieht das gegenwärtige System – entgegen anderslautenden politischen Proklamationen – nicht dazu, zu fragen, wie man am besten Verschwendung vermeiden kann, sondern es erzieht vielmehr dazu, zu fragen, wie man eine Erlösoptimierung, also eine Umsatzsteigerung, erreichen kann. Folge dieser unheilvollen Entwicklung ist eine sukzessive Entwertung der sozialen Zielsetzung der Pflegenden und der Ärzte. Die prosoziale Einstellung, die die Grundlage etwa des Berufswunsches Arzt gewesen sein mag, erscheint in einem monetarisierten Kontext, in dem es primär um Erlösrelevanz geht, geradezu als dysfunktional, weil sie als etwas gesehen wird, was den ganzen Betrieb nur aufhält. Wenn im Zuge solcher Kapitalisierung der ärztlichen Tätigkeit die Behandlung primär unter dem Gesichtspunkt einer betrieblichen Investition beurteilt wird, dann verliert die ärztliche Betreuung ihren ursprünglichen und eigentlichen Sinn. Vor dem Hintergrund eines grundlegenden Unverständnisses für die soziale Zielsetzung der Medizin findet momentan eine problematische Überformung medizinischer Rationalität durch betriebswirtschaftliche Logik statt.

Das Grundproblem der modernen industrialisierten Medizin besteht darin, dass die Ärzte und Pflegenden ihre eigentliche Leistung jeden Tag unter Wert verkaufen und deswegen glauben, sich dem System beugen und in seiner Ausrichtung agieren zu müssen. Man darf sich aber den Blick auf den Kern der pflegerischen und ärztlichen Leistung, die weithin unbemerkt vollzogen wird, durch unangemessene Vorgaben nicht versperren lassen.

Im folgenden Kapitel geht es in einem ersten Schritt um die grundsätzliche Charakterisierung der erwähnten Tendenz, die die Medizin in der angemessenen Wahrnehmung ihrer Aufgabe bedroht. Ein zweiter Schritt konkretisiert diese Tendenz unter vier Gesichtspunkten. Demgegenüber wird in einem dritten Schritt herausgearbeitet, was den eigentlichen Kern der Medizin und ihrer Arbeitsweise ausmacht.

Herrschaft betrieblicher Rationalität

Die Normen des ökonomisierten Systems stammen aus der industriellen Massenproduktion. Bedingt durch eine dementsprechende vereinfachende Vorstellung von ärztlicher Betreuung wird in den Köpfen der Verantwortlichen die Leistung der Ärzte reduziert auf das Anbieten standardisierter Behandlungsschablonen. Dabei wird vorausgesetzt, dass alle Herausforderungen im Umgang mit Patienten einfach schematisiert und nach einem strikten Regelwerk bewältigt werden können. Ideal einer solchen technokratischen Herangehensweise ist es, zunächst eine typisierende Problemdeutung vorzunehmen, um dann die auf ein Musterproblem heruntergebrochene Wirklichkeit durch stereotypes Handeln in Form von Algorithmen zu lösen. Eine solche Konzeption steht in Zusammenhang mit einer politischen Ideologie, die das Handeln der Heilberufe über bürokratische Normierung restlos steuerbar machen möchte. Dass sich überhaupt eine solche Steuerungsfantasie herausbilden konnte, hängt mit einer heimlichen Neudefinition der Ärzte zu Ingenieuren für den Menschen zusammen. Das ist einer der vielen eklatanten Denkfehler, die die gegenwärtige Wirklichkeit der Medizin bestimmen. Gerade weil man irrtümlich davon ausgeht, dass die Behandlung von Patienten einer Technik am Objekt gleichkommt, übernimmt man nicht nur eine Qualitätssicherung, die ursprünglich für den ingenieurwissenschaftlichen Kontext konzipiert war, sondern – viel gravierender – man unterwirft die gesamte Medizin einer Checklisten-Rationalität, die zu verhängnisvoller Überformalisierung, Überregulierung und Bürokratisierung führt. Im Zuge der Bürokratisierung erfolgt eine numerische Wirklichkeitskonstruktion, die sukzessiv zu einem radikalen Umbau der Legitimationsstrukturen führt, dergestalt, dass nicht mehr soziale Werte, sondern sich nackte Zahlen als Legitimationsquelle medizinisch-pflegerischen Handelns in den Vordergrund schieben. Nicht die Orientierung an einem sozialen Ziel gilt als Rechtfertigung des Handelns, sondern die Maximierung der Zahl, und was nicht gezählt werden kann, gilt als wertlos.

Die Verbürokratisierung der modernen Medizin führt somit zu einer Abwertung anderer Verhaltensrationalitäten, anderer Entscheidungskriterien und somit genau der Gesichtspunkte, die für Personen in Heilberufen bei ihrer Berufswahl und Sozialisation motivationsleitend und identitätsstiftend waren. Es wird der Anschein erzeugt, als sei ein System jenseits der betriebswirtschaftlichen Logik ein von Grund auf dysfunktionales System. Diese Fiktion beruht auf der unausgesprochenen Überzeugung, dass nur die betriebswirtschaftliche Logik Funktionierendes hervorbringen könne. Dass medizinisches Denken nach eigenen Prinzipien verfährt, wird vollkommen ausgeblendet, ja direkt negiert. Die Hegemonialmacht betriebswirtschaftlichen Denkens führt sukzessive zu einer Delegitimierung aller nicht-instrumentellen Rationalitätsformen. Auf diese Weise droht der soziale Gehalt der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit aus dem Bewusstsein der Heilberufe verdrängt zu werden.

Im durchbürokratisierten System steht die detaillierte Regulierung an der Stelle der kreativen Lösung, das deduktive Ableiten an der Stelle des induktiven Erschließens. Im Hintergrund steht das Konzept standardisierter Routineübungen. Dass es zu solch einer ausgeprägten Bürokratisierungsspirale kommen konnte, liegt an einem weiteren folgenschweren Gedankenfehler: Aus der Erkenntnis, dass die Dokumentation des Messbaren etwas Sinnvolles ist, wird kurzerhand geschlossen, dass alles Sinnvolle auch dokumentierbar sein müsse.

Die vorangehende Skizze dürfte gezeigt haben: In der modernen Medizin ist eine betriebswirtschaftliche Formallogik etabliert worden, die nicht nur Abläufe, sondern auch Werte vorgibt. Durch den betriebswirtschaftlichen Zuschnitt findet eine Umwertung der Werte in der Medizin statt; hochgeschätzt werden formalisierungsaffine Werte wie Regelmäßigkeit und Reibungslosigkeit, unterschätzt und aus dem Wahrnehmungsmuster verbannt werden alle interaktionsbezogenen und beziehungsstabilisierenden Werte. Gefördert wird somit nicht Kreativität und individuelle Anpassung, sondern das Repetitive, nicht das Singuläre, sondern das Standardisierte, nicht das Besondere, sondern das Gewöhnliche. Finale Folge ist die Beförderung eines Trends zur Entdifferenzierung medizinisch-pflegerischen Denkens.

Wie die politisch zu verantwortende Umwertung der gesamten Medizin konkret aussieht, sei im folgenden Abschnitt anhand von vier problematischen Vorannahmen umrissen.

Produktionslogische Umwertungen in der Medizin

1. Negativierung der Zeit

Unter der Perspektive einer industriellen Produktionslogik wird die personalintensive Kontaktzeit zum Patienten als ein zu minimierender Aufwand betrachtet; der Ruf nach Effizienzsteigerung ist im Grunde nichts anderes als eine Legitimation der Verknappung von Zeit. Das mag unter produktionstechnischem Gesichtspunkt auch rational erscheinen, denn es ist selbstverständlich, dass man in der Industrie versucht, ein Ergebnis mit einem Minimum an Aufwand zu erzielen. In der Industrie liegt der einzige Wert, der generiert wird, im Produkt selbst, das verkauft werden kann. Den Weg zum Produkt zu beschleunigen oder abzukürzen ist unter dieser Prämisse auch tatsächlich rational, weil man damit den Ressourcenverbrauch minimieren kann. Überträgt man nun diese Denkweise auf die Behandlung von kranken Menschen, so gerät derjenige, der sich Zeit nimmt und somit Ressourcen verbraucht, automatisch in Verdacht, nämlich in den Verdacht der Verschwendung, in den Verdacht der Ineffizienz. Innerhalb einer produktionstechnischen Logik findet also nicht nur eine Verknappung, sondern geradezu eine Negativierung der aufgewendeten Zeit statt; den Ärzten und Pflegenden wird systematisch ein schlechtes Gewissen eingeimpft, wenn sie sich Zeit nehmen, Zeit für ein beruhigendes Gespräch, Zeit für eine zweite Erklärung, Zeit für ein Zeichen der Hoffnung, Zeit für ein persönliches Signal des Mitfühlens. Und genau an diesem Punkt ist unschwer zu erkennen, wie unangemessen der Versuch der Angleichung der Heilberufe an die Gesetzlichkeiten der produzierenden Industrie ist. Denn in der Medizin ist die Zeit, also die Kontaktzeit, die Sprechzeit, die Zeit zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung, gerade nicht ein zu minimierender Verbrauch wie in der Industrie, sondern sie ist genau das Gegenteil, nämlich die zentrale Investition in eine erfolgreiche Betreuung und Therapie. Nur über die Kontaktzeit kann der Patient am Therapieprozess beteiligt werden, mitgenommen werden auf einem oft mühsamen Weg, auf dem er Orientierung, Ermunterung und motivierende Gespräche braucht. Gerade in der Medizin hat die Zeit...

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