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E-Book

Werteorientierte Pflege

Was macht eine gute Pflegende aus?. Grundlagen einer ethischen Bildung für Pflegende

AutorDerek Sellman
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl152 Seiten
ISBN9783456756653
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Das einleitende Essay betrachtet Derek Sellmans philosophische Fundierung der pflegerischen Praxis und Ausbildung im Licht europäischer Forschungsdiskurse.

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Leseprobe

Einführung


„Schützende Tugenden“


Menschen haben eine bestimmte Vorstellung von der Arbeit, die Pflegende ausüben. Sie gehen tendenziell davon aus, Pflegende müssten bei ihrer täglichen Arbeit fürsorglich, mitfühlend und vertrauenswürdig sein. Sie erwarten also nicht nur entsprechende pflegerische Kompetenzen, sondern auch bestimmte charakterliche Eigenschaften, die mit Fürsorge für andere einhergehen. Somit wäre Fürsorge ein zentrales Merkmal pflegerischer Tätigkeit. Mit dieser Auffassung stimmen die Pflegenden überein. Die Vorstellung einer nicht fürsorglichen Pflegeperson wird ebenso Kritik hervorrufen wie die Vorstellung einer inkompetenten Pflegeperson.

Lehrpersonen, die für die Zulassung zu pflegerischen Ausbildungsprogrammen zuständig sind, machen allgemein die Erfahrung, dass der Hauptgrund für den Berufswunsch darin besteht, anderen Menschen helfen zu wollen. Aufgrund einer langen Tradition des Altruismus und der Vorstellung, Fürsorge sei ein zentrales Merkmal der Pflege, könnte man annehmen, die Pflegeausbildung und die Ausübung des Pflegeberufes hätten bereits seit langer Zeit ein zufriedenstellendes philosophisches Fundament. Denn jeder scheint ja zu wissen, was Pflegende tun und wodurch sie sich als Menschen auszeichnen sollten. Doch anhaltende Diskussionen zeigen leider, dass das philosophische Fundament der Pflege alles andere als unumstritten ist. Es besteht eine grundsätzliche Uneinigkeit über das Wesen der Pflege und über die Ziele pflegerischer Praxis. Dies wirkt sich unvermeidlich auf die Pflegeausbildung im Allgemeinen und auf die ethische Bildung der Pflegenden im Besonderen aus.

Dieses Buch soll das philosophische Fundament pflegerischer Praxis und Ausbildung stützen. Ich werde erörtern, dass die Pflege eine von Natur aus ethische Tätigkeit ist. Sie beinhaltet für den Einzelnen eine ethische Verpflichtung, bestimmte Charaktereigenschaften zu kultivieren, damit pflegerisches Handeln dem individuellen Wohl der Patientin und des Patienten zugutekommt und keinen Schaden zufügt. Verschiedene Auffassungen darüber, was Pflege ist, scheinen lediglich pflegerische Ideale widerzuspiegeln, die wir lange in Ehre gehalten haben. Diese Ideale in der Praxis und in der Ausbildung umzusetzen, ist jedoch alles andere als einfach.

In diesem Buch stelle ich fünf Themenkomplexe vor, die sich direkt auf die Praxis und die Ausbildung von Pflegenden auswirken.

Zunächst beschreibe ich die unbefriedigende Art und Weise, in der die Verletzlichkeit oder Verwundbarkeit von Patient(inn)en in der Pflege zum Tragen kommt. Dies führt zu einer einleitenden Analyse des Wesens menschlicher Verletzlichkeit. Daraus folgt der Gedanke des besonders verletzlichen Menschen. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass wir alle verletzlich sind. Diese Verletzlichkeit steigert sich jedoch, wenn wir zu Patient(inn)en werden. Patient(inn)en sind als solche verletzlicher als andere Menschen. Genau aus diesem Grund ist es für Pflegende wichtig, etwas zu kultivieren, das wir als „schützende“ Tugenden bezeichnen könnten.

Die Auffassung, professionell Pflegende sollten vertrauenswürdig sein, scheint allgemein akzeptiert zu sein. Allerdings ist es aufgrund der unterschiedlichen Erwartungen von Patient(inn)en, Angehörigen, Kolleg(in-n)en, Leitungspersonen, Kontrollorganen, Berufsverbänden und Institutionen schwierig für Pflegende, vertrauenswürdig zu sein. Häufig sind sie mit konkurrierenden Ansprüchen konfrontiert. Manchmal gilt die gleiche Handlung aus der Perspektive der einen Partei als vertrauenswürdig und aus der Sicht einer anderen Partei als nicht vertrauenswürdig. Pflegende müssen also in komplexen Situationen professionell urteilen und besonnen reagieren, um vertrauenswürdig zu sein. Dies kommt dem professionellen Urteilsvermögen nahe, das Aristoteles (384–322 v.Chr.) als Phronesis – praktisches Urteils- und Reflexionsvermögen – bezeichnete.

Terence McLaughlin spricht von einer pädagogischen Phronesis (McLaughlin, 2003a). Es scheint mir sinnvoll, die für die Pflege erforderliche Phronesis als professionelle Phronesis zu beschreiben. Was Pflegekontrollorgane als professionelles Urteilsvermögen bezeichnen, definiere ich ebenfalls als professionelle Phronesis (Sellman 2009). Diese stellt das Herzstück professioneller Verantwortung dar. Somit besteht ein Ziel der Pflegeausbildung darin, Lernenden zu vermitteln, wie sie ein ethisch reflektierter, verantwortungsvoller Mensch werden können (Sellman, 2009). Im aristotelischen Sinne ist Phronesis eine zentrale Tugend. Jeder Lehrplan, der die Entwicklung von Tugenden ermöglichen möchte, muss somit den Gedanken einer ethischen Bildung ernst nehmen. Ethische Bildung ist in entscheidender Weise mit der Kultivierung von Tugend verbunden.

Ich möchte den Gedanken einbringen, dass ethische Bildung für Pflegende notwendig ist. Dies ist nicht selbstverständlich. Wer eine Pflegeausbildung beginnt, ist ein erwachsener Mensch. Ethische Bildung scheint sich eher an Kinder als an Erwachsene zu wenden.

Die Pflegeausbildung findet innerhalb einer Hochschuleinrichtung statt. Sie beinhaltet die Vermittlung spezifischer Fachgebiete und beschäftigt sich kaum mit den persönlichen Charaktereigenschaften der Lernenden. Dennoch weisen Pflegekontrollorgane implizit oder explizit darauf hin, dass Pflegende, die ihre Berufszulassung erhalten möchten, einen „guten Charakter“ haben sollten (NMC, 2008a; CARNA, 2010).

In diesem Buch erläutere ich, was es für Pflegende heißt, einen „guten Charakter“ zu haben. Für Pflegekontrollorgane sind die Charaktereigenschaften der Pflegenden mehr oder weniger wichtig. In der kanadischen Provinz Alberta verlangt die Association of Registered Nurses of Alberta (CARNA) bei der jährlichen Erneuerung der Lizenz zur Berufsausübung, den „guten Charakter“ und den „guten Ruf“ einer Pflegeperson zu bestätigen (CARNA, 2010). Somit wäre zu erwarten, dass die Kontrollorgane genau darlegen, was mit diesen Begriffen gemeint ist. Wie sollen Lehrpersonen den „guten Charakter“ zukünftiger und bereits ausgebildeter Pflegenden beurteilen? Handelt es sich um das Fehlen krimineller oder unprofessioneller Verhaltensweisen? Wie und wann sollen Lehrpersonen den Charakter ihrer Schüler beurteilen?

Durch Einbezug der Tugendethik untersucht dieses Buch, welche Konzeption von „Charakter“ sich für die pflegerische Praxis eignet. Das Buch stellt ein Modell dar, an dem sich Pädagog(inn)en orientieren können. Es ermöglicht ihnen, fürsorgende Tugenden bei Lernenden zu kultivieren.

In diesem Buch fasse ich Pflege als eine Praxis im Sinne von Alasdair MacIntyre (1985) auf. Ich stelle dar, warum eine solche Auffassung hilfreich ist. Es handelt sich um eine Praxis, die sozial, ethisch und professionell ist. Insofern beruhen Bildung und Pflege teilweise auf gemeinsamen ethischen Grundlagen. Ebenso lassen sich viele Gedankengänge in diesem Buch sowohl auf die Bildung als auch auf die Pflege beziehen, obwohl auch Unterschiede zwischen ihnen bestehen.

Das Hauptaugenmerk dieses Buches liegt auf der pflegerischen Praxis. Im Fokus steht der Gedanke, dass sich Pflegende zu ethisch reflektierten und verantwortungsvollen Persönlichkeiten entwickeln können.

Die Pflege wie die Bildung müssen sich gegen eine Reihe interner und externer Zwänge behaupten. Einige dieser Zwänge können die grundlegende Voraussetzungen für die Praxis selbst untergraben. Externe Zwänge wie Richtlinien, Ziele und die Offenlegung des Preis-Leistungs-Verhältnisses sind besonders gravierend. Interne Zwänge entstehen durch die scheinbare Unfähigkeit der Pflege, sich selbst zu definieren. Hinzu kommt die Haltung, das Ideal einer Pflegewissenschaft nach dem Vorbild der Medizin anzustreben. Jedoch vertrete ich den Standpunkt, dass die Bemühung, eine eigenständige Pflegewissenschaft zu entwickeln, nicht zielführend ist und das Konzept der Pflege als Antwort auf menschliche Verletzlichkeit gefährdet. Unbestreitbar hat die Wissenschaft der Pflege viel zu bieten. Die Pflege jedoch nur als Wissenschaft zu betrachten oder sie lediglich als Ausführung technischer Aufgaben aufzufassen bedeutet, das Wesen der Pflege falsch zu verstehen. Pflege besteht nicht aus einer Reihe definierter Fertigkeiten. Denn aufgrund der Natur des Menschen lässt sich die Interaktion mit Patient(inn)en nie auf eine reine Routineangelegenheit reduzieren. Pflegerische Interaktionen sind nicht nur professioneller Art, sondern zwangsläufig auch interpersonal.

Es ist also notwendig, sich Zwängen zu widersetzen, die Pflegende dazu veranlassen, Patient(inn)en als Kund(inn)en in einem Geschäft zu betrachten oder ihre Tätigkeit als Summe zu verrichtender Dienstleistungen aufzufassen. Sicherlich können Mitarbeitende in einem Geschäft für „Kundenbetreuung“ zuständig sein. Eine solche Betreuung dient wahrscheinlich eher kommerziellen Interessen als der primären Sorge um die individuelle Kundin bzw. den individuellen Kunden. Obwohl bei jeder Art von Dienstleistung bestimmte ethische Bedingungen zu erfüllen sind, bestehen einige zusätzliche ethische Erwartungen an Pflegende und andere Fachpersonen im Gesundheitswesen.

In diesem Buch versuche ich herauszufinden, warum die Öffentlichkeit von Pflegenden erwartet, dass sie spezifische, höhere und besondere ethische Standards erfüllen. Die ethische Dimension zu vernachlässigen, schadet der Pflege als Beruf. Es wirkt sich negativ auf die einzelnen...

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