Norbert Gross
Werte und Wertewandel im Recht
Jeder Rechtsordnung liegt ein zweifacher Bezug zu Werten zugrunde. Einerseits ist Recht immer statisch, soll wirken, also Werte verwirklichen und setzt deshalb ein vorhandenes Wertgefüge voraus. Alle großen Kodifikationen, preußisches Allgemeines Landrecht, französischer Code Civil, österreichisches ABGB und deutsches BGB bauen auf eine an bestimmten Wertprinzipien ausgerichtete Gesellschaftsordnung, die sie widerspiegeln. Andererseits führen Veränderungen in der Gesellschaftsordnung zu Wandlungen der Wertprinzipien und damit zu der Frage, wie das „alte“, das hergebrachte Recht darauf zu reagieren hat, durch Beharren auf dem hergebrachten Recht oder durch dynamische Anpassung und Schaffung neuen Rechts. Politische, geistige oder auch nur zeitgeistige Umbrüche in der Gesellschaft gehen daher auch an gesetztem Recht nicht spurlos vorüber. Gerät die Werteordnung des Gesetzes aus den Fugen oder wird sie auch nur als nicht mehr zeitgemäß angesehen, muss sie neu geordnet werden. Die Geschichte des Rechts ist demnach eine dauernde Abfolge der Begründung von Werten und deren Verlust, aber auch der Anpassung und der Setzung neuer Werte. Nicht nur der Gesetzgeber, mehr und mehr auch der übernationale Gesetzgeber, in nicht minderem Umfang aber auch der Richter sind die Betreiber dieses dynamischen Prozesses, dessen tiefere Wurzeln in der Antinomie von Zeitgeist und Rechtsbewusstsein liegen.
I.
Seit den Gesetzestafeln des Moses, dem kategorischen Imperativ Kants bis hin zum Küng’schen Weltethos wird unter Recht mehr verstanden als nur gesetztes Recht. Eine grundlegende Werteordnung soll dem Recht seine Würde und seinen Geltungsanspruch geben. Geschrieben oder ungeschrieben, ist diese Werteordnung Richtschnur des Rechts.
II.
Diese mit der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG versehene Werteordnung des Grundgesetzes ist, von marginalen Eingriffen abgesehen, seit über sechs Jahrzehnten unverändert erhalten geblieben. Sie dokumentiert eine dauerhafte Werteordnung, die Richtschnur für alles staatliche Handeln sein soll.
III.
Auch die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verbürgte Werteordnung hat im Laufe der vergangenen sechs Jahrzehnte neue Ausdrucksformen gefunden, die sich von dem ursprünglichen Grundverständnis deutlich entfernt haben. Selbst wenn manche Grundwerte die Zeitläufe unberührt überstanden haben, sind andere einem grundlegenden Wandel unterzogen worden. Dabei haben keine äußeren grundstürzenden Ereignisse zu einer Revolution der positiven Verfassungsordnung geführt. Vielmehr waren Veränderungen im Rechtsbewusstsein auf manchen Feldern die Auslöser eines Wertewandels im Recht.
1. Der Gesetzgeber greift besonders auffällig auf wertorientierten Gebieten wie dem Familienrecht, dem Strafrecht, dem Recht auf Leben und Tod, aber auch auf fast allen anderen Rechtsgebieten ein, gelegentlich veranlasst durch kritische Bemerkungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. So hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1957
§ 175 Abs. 1 Strafgesetzbuch, wonach alle Formen männlicher Homosexualität auch unter Erwachsenen mit Strafe bedroht waren, für noch verfassungskonform angesehen, weil es sich um einen „eindeutigen Verstoß gegen das Sittengesetz“ handele (BVerfGE 6, 389 ff, 434). Zwar sei die Feststellung der Geltung eines solchen Sittengesetzes schwierig. Maßgeblich sei auch nicht die persönliche Auffassung des Richters, wohl aber die Verurteilung gleichgeschlechtlicher Betätigung durch die beiden großen christlichen Konfessionen. Auch wenn sittliche Anschauungen durchaus einem Wandel unterworfen sein könnten, sei dies hier nicht festzustellen (1957). Nur 16 Jahre später, 1973, hat der Gesetzgeber diese Vorschrift ersatzlos gestrichen (4. StrRRefG BGBl 1973 I 1725). Der „eindeutige Verstoß gegen das Sittengesetz“ war Vergangenheit.
2. Auch auf dem Gebiet des Zivilrechts hat der Gesetzgeber gewandelten Wertvorstellungen Rechnung getragen. So zählt die Privatautonomie mit der Vertragsfreiheit, also der Freiheit des Einzelnen, seine Lebensverhältnisse durch Vertrag eigenverantwortlich zu gestalten, seit jeher zu den grundlegenden Prinzipien unserer Rechtsordnung (§ 305 BGB a. F.) und ist Teil des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und damit verfassungsrechtlich gewährleistet. Dennoch hat der Gesetzgeber im Laufe der Zeit die Vertragsfreiheit durch zahllose Regelungen so weit eingeschränkt, dass viele sich fragen, ob es wirkliche Vertragsfreiheit überhaupt noch gibt oder ob die Beteiligten nicht eher auf andere Rechtsordnungen ausweichen sollen. An die Stelle der Vertragsfreiheit ist aufgrund veränderter Grundüberzeugungen eine nur noch beschränkte Vertragsgestaltungsfreiheit getreten.
3. Auf zahllosen Rechtsgebieten hat der Gesetzgeber jedoch Feststellung und Folgewirkung des Wertewandels nicht sich vorbehalten, sondern allein dem Richter überlassen. Das geschieht durch die gesetzliche Einführung sogenannter Generalklauseln, die es dem Richter erlauben zu bestimmen, was „sittenwidrig“ oder ein Verstoß gegen „Treu und Glauben“ ist (z. B. §§ 138 Abs. 1, 157, 826, 242 BGB; entspr. in
§ 879 österreichisches ABGB, Art. 20 schweizerisches OR und Art. 1133 französischer Code Civil). Auf Umwegen erfolgt dies dadurch, dass die Gerichte die Topoi Sittenwidrigkeit und Treuwidrigkeit zu allgemeinen Grundprinzipien erhoben haben, die das gesamte Rechtsleben, also auch außerhalb des bürgerlichen Rechts, so im Arbeits- und im Gesellschaftsrecht bis hin zum Prozessrecht, durchziehen. Ob es sich um Geliebtenschenkungen oder -testamente, Schmiergeldverträge oder aber Leihmutterverträge, Bierbezugsverträge mit über fünfzehnjähriger Laufzeit oder um den Bürgen überfordernde Bürgschaftsverträge handelt, in keinem Fall lässt sich die Entscheidung dem positiven Gesetz unmittelbar entnehmen. Vielmehr bestimmt der Richter, was „sittenwidrig“ und „treuwidrig“ ist. Dass sich dabei in sechs Jahrzehnten die Maßstäbe grundlegend verändert haben, belegen zahllose Beispiele. In allen genannten Fällen hat in den letzten Jahren eine durch einen Wertewandel ausgelöste Rechtsänderung stattgefunden, ohne dass der Gesetzgeber irgendetwas dazu getan hätte.
IV.
Bis heute ist allerdings unklar, woher der Richter seine Kompetenz und vor allem seine Erkenntnisquellen nimmt, um eine aktuelle Erscheinung des Zeitgeistes oder seine eigenen Überzeugungen sicher von einem kollektiven Rechtsbewusstsein zu unterscheiden und einem Wertewandel damit zum Durchbruch zu verhelfen. Es mag zutreffen, dass die Gerichte weder nur „Vollzugsorgane des Zeitgeistes“ sind noch für sich in Anspruch nehmen können, als Recht auszugeben, was sie selbst oder engagierte Minderheiten lautstark fordern. Ihnen obliegt vielmehr die schwierige Aufgabe, wie Seismographen der Gesellschaft den Konsens einer Rechtsgemeinschaft festzustellen, der sich entweder nicht oder unzureichend oder diffus ausdrückt. Die Feststellung eines Wertewandels ist für den Richter gewiss die schwierigste Aufgabe, weil er, allein auf sich gestellt, sich auf unsicherem Terrain bewegt und weil er – letztlich – Aufgaben des Gesetzgebers übernimmt. Standen die frühen Gesetzgeber der großen Kodifikationen dieser Aufgabe des Richters deshalb noch feindselig gegenüber (z. B. Art. 5 Code civil) und veranlassten ihn, beim Schweigen des Gesetzes die aufgeworfene Wertungsfrage wieder an den Gesetzgeber zurückzureichen (sog. Référé législatif, 1790), hat sich der moderne Gesetzgeber dafür entschieden, dem Richter das letzte Wort über Werte und Wertewandel im Recht zu überlassen. Damit wird zugleich die kaum lösbare und bis heute heiß umstrittene Frage nach den Grenzen der richterlichen Gesetzesauslegung und danach gestellt, ob der Richter Diener des Gesetzes oder Herr über das Gesetz, Architekt oder Baumeister sein soll oder ob er, bildlich gesprochen, als Komponist oder eher als virtuoser Interpret einer vorgegebenen Partitur vor sein Publikum treten darf.
V.
Auch wenn dieser Prozess von Bestand und Veränderung von Werten im Recht der letzten Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt, bleibt er doch in den Händen von Richtern. Diese bestimmen, ob im Streitfall das Persönlichkeitsrecht oder die Meinungsfreiheit, das Recht auf Leben – ab und bis wann? – oder das Recht auf einen würdigen Tod, der Schutz von Ehe und Familie oder die freie Entfaltung der Persönlichkeit in der gleichgeschlechtlichen eingetragenen Partnerschaft Vorrang haben. Allerdings ist dieser Wertewandel durch Richterspruch heute nicht mehr allein – und zunehmend weniger – auf die letztentscheidenden obersten Bundesgerichte beschränkt. Übernationale, vor allem europäische Werteordnungen wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Grundrechtscharta der Europäischen Union haben das letzte Wort über eine oder mehrere europäische Werteordnungen übernationalen Richtern übertragen, deren Spruch der nationale Richter zu...