Heimdall
„Heimdall ist eine rätselhafte Gestalt. Was von ihm überliefert ist, klingt märchenhaft. Das Dunkel, das über ihm schwebt, war bisher noch nicht befriedigend zu lichten. Eine Hauptschwierigkeit, mit welcher die Erklärung zu kämpfen hat, liegt in den mangelhaften Nachrichten über sein Wesen und die mit ihm verknüpften Sagen. Von letzteren sind nur unverständliche Auszüge und Anspielungen bekannt. Es fällt schon schwer, nur die breiteren Grundlagen dieser Überreste mit annähernder Wahrscheinlichkeit zu erschließen; sie mit Sicherheit auf ihren Ursprung zurückzuführen ist vollends unmöglich.“
Diese Zeilen von Wolfgang Golther, vor mehr als einem Jahrhundert geschrieben, schildern immer noch vortrefflich den Stand der Forschung zu diesem alten Mythos. Der in der Sekundärliteratur eher nachlässig behandelte, geheimnisumwitterte Gott Heimdall wird von späteren Bearbeitern, so bei von Ström [12], als Rahmengott bezeichnet, in gewisser Weise hält er die Handlung zusammen. Gleich in den ersten Zeilen der Völuspa, des wichtigsten Liedes der Edda, wird er erwähnt, die Seherin wendet sich in der Einleitung an ihre Zuhörer und bezeichnet alle Menschen als Nachkommen Heimdalls, wohl bezugnehmend auf seine Rolle als Ständeschöpfer unter dem Synonym „Rig“ (siehe oben: „Die rätselhaften Quellen“):
„Gehör heisch ich heiliger Sippen,
hoher und niederer Heimdallssöhne.
Du willst, Walvater, dass wohl ich künde,
was alter Mären der Menschen ich weiß.“
Auch am Ende, dem finalen Höhepunkt der Erzählungen der Edda, spielt er eine wichtige Rolle. Er warnt die Götter bei Ragnarök vor ihrem Untergang und führt das letzte Gefecht mit dem Erzfeind Loki, wobei sich beide gegenseitig töten. Die Rolle des Wächters der Götter ist seine eigentliche Aufgabe, weitere Einzelheiten über diese archaische Wesenheit lesen sich in der Jüngeren Edda, zum Beispiel in Skaldskaparmal 8 folgendermaßen: „Wie umschreibt man Heimdall? Man nennt ihn den Sohn der neun Mütter oder den Wächter der Götter – wie oben berichtet – oder den Weißen Asen, Lokis Feind, Freyas Halsbandsucher. „Heimdalls Haupt“ ist ein Schwert, man erzählt, er sei mit einem Manneshaupt entzweigehauen worden. Davon handelt der Heimdallsspruch, und seitdem heißt ein Haupt Heimdalls Schicksal, wie ein Schwert Mannes Schicksal heißt. Heimdall ist der Besitzer Gulltopps; er ist der Besucher der Waga – Schäre und des Singa – Steins, als er den Handel mit Loki hatte um das Brisingenhalsband; er heißt auch Windlee (vindhler). Ulf, Uggis Sohn, in der Hausdrapa, erzählt jene Geschichte ausführlich, und dort ist davon die Rede, dass sie (Heimdall und Loki) in Seehundsgestalt waren, er ist auch ein Sohn Odins.“
Die dunklen Pfade, auf denen die Skaldensprache mitunter wandeln kann, machen es also möglich, Heimdalls Haupt „Schwert“ zu nennen, die rätselhafte Passage, welche die Grundlage für diesen merkwürdigen Schwertmythos des Gottes liefert, lautet in einer etwas anderen als bereits oben zitierten Version: „Heimdalls Schwert heißt „Haupt“; so ist gesagt, dass er von einem Manneshaupte durchbohrt ward. Davon ist in Heimdalls Zauberliede gesagt, und dann wird „Haupt“ der Tod Heimdalls genannt; denn das Schwert ist des Mannes Tod.“
Dazu bemerkt Herrmann[10] wohl ganz zutreffend: „In den Worten „Heimdall fiel durch ein Manneshaupt“ wurde der Eigenname „Haupt“, der den Namen des Schwertes enthielt, nicht nur appellativisch gefasst, sondern die Spielerei wurde durch den Zusatz „eines Mannes“ auf die Spitze getrieben und dadurch fast unverständlich gemacht; gemeint war aber der Untergang des Gottes durch sein eigenes lichtes Schwert.“
Nebenher offenbart sich in obiger Passage bereits einiges zu der scheinbar uralten Feindschaft zwischen Heimdall und Loki; wir erfahren, dass beide Gottheiten auch in nichtmenschlicher Gestalt auftreten können, während Loki in ergänzenden Texten als Seehund (rein) bezeichnet wird, besitzt Heimdall Robbengestalt (selalikjum) [12].
Interessante Details sind ebenso Gylfaginning 27 zu entnehmen: „Heimdall heißt einer, auch „der weiße Ase“ genannt, groß und heilig. Ihn gebaren als Sohn neun Mädchen, lauter Schwestern. Er heißt auch Hallinskidi und Gullintanni; seine Zähne waren nämlich von Gold; sein Hengst hieß Gulltopp. Er wohnt dort, wo es Himmelsburg heißt, an der Bifröst. Denn er ist der Wächter der Götter und haust dort am Himmelsende, um an der Brücke Wache zu halten gegen die Bergriesen. Er bedarf weniger Schlaf als ein Vogel. Er sieht gleich gut bei Nacht und am Tage, hundert Meilen weit. Auch hört er, wenn das Gras wächst auf der Erde oder die Wolle an den Schafen, und natürlich alles, was lauteres Geräusch macht. Er besitzt die Trompete Gjallarhorn, und man hört sein Blasen bis in die fernsten Welten.
Ferner sagt er (selbst) im Heimdallsspruch: „Neun Mädchen sind meine Mütter, von neun Schwestern der Sprössling.“
Weiterhin erwähnenswert für die folgende Beurteilung des Gottes ist die mehrfache Nennung seines Reittieres, ein Hengst namens Gulltopp. Obwohl der Name des Tieres teilweise als „Goldmähne“ übertragen und als ins Haar geflochtene, goldene Bänder gedeutet wird, heißt es doch wörtlich „Goldzopf“. Der erste Wortbestandteil befindet sich ebenfalls im Beinamen „Gullintanni“, offenbar verbergen sich hier Hinweise auf eine kommerzielle Wertschätzung.
In Skaldskaparmal 25 bringt Snorri zu den neun Schwestern unter anderem die Verse über die legendäre Meeresmühle (vgl. auch Kapitel „Wo die Ran haust“), die Snäbjörn gedichtet hat:
Neun Schärenbräut stets rühren scharf Meers Grotti am Erdrand,
Eilandmühle, all dem Volke, urgimmige, heißt´s immer.
Diese neun Schwestern, die seine Mütter sind, entsprechen vermutlich den in zahlreichen anderen Passagen als neun Wellen bezeichneten Wesenheiten, diese wiederum sind Töchter der Meeresgottheiten Ägir und Ran, dadurch lässt sich für Heimdall folgender kleiner Stammbaum erstellen:
RAN oo ÄGIR
I
9 WELLEN oo ODIN
I
HEIMDALL
Obige Kenntnisse über Heimdalls Mütter werden ergänzt durch die angefügten Verse des Ulfr Uggason in Skaldskaparmal 16, die, in wie üblich äußerst verschlungener Wortwahl, ein gemeinsames Abenteuer der Götter Heimdall (Rain-Wart) und Loki (Farbauti-Sohn) kommentieren, bemerkenswert ist hier die Trennung der Neunzahl:
„Ratberühmter Götter-Rain-Wart Singasteinwärts
fuhr. Mit ihm vielrühriger Farbauti-Sohn war da.
Haffs strahlende Nier´ sollte - hab es in Liedes Abschnitt -
Acht Mütter und einer Erb, mutiger, erwerben.“
In einem benachbarten Kulturkreis kennen auch walisische Mythen und Legenden ein ähnliches Herkunftsmotiv in den Erzählungen über die Seejungfer Gwenhidwy oder Gwenhudwy, (auch Gwenhwyvar bei de Vries), eine „weiße Zauberin, deren krause Wogen die Schafe und die neunte Woge der Widder war.“ [12]
Erstaunlicherweise lässt sich nun dieses Motiv des Widders in vielerlei Hinsicht mit Heimdall zusammenführen, Snorri zählt in Skaldskaparmal 57 sowohl den Namen des Gottes als auch seine beiden Epitheta Hallinskidi sowie Gullintanni zu den Namen, die sich für das Schaf, beziehungsweise den Widder verwenden lassen, das heißt, man ordnete ihn in gewisser Hinsicht diesen Tieren zu; Snorri nennt noch einen weiteren Namen für den Widder, der im Original von zwei Schwertern auf dessen Haupt spricht: Nafnathulur.
Für Ake v. Ström erklären sich aus den oben erwähnten Zusammenhängen der Gleichsetzung der Schafe mit den ersten acht Wellen (hier ist an einen romantischen, bildhaften Vergleich zwischen den schaumbekrönten Schönen und den weißbewollten Schäfchen zu denken) und des Widders mit der neunten Welle, sowie den Übereinstimmungen der Namen des Gottes mit den Bezeichnungen für den Widder: „ ... Heimdalls Weißheit, die neun Mütter, Widder- und Robbengestalt sowie die Verbindungen zwischen seinem Kopf und einem Schwert.“ [12]
Dennoch bleiben Zweifel an der Endgültigkeit dieser Theorie. Ohne Frage wird der Gott als Kreatur mit zwei gewundenen Hörnern gedacht, dass hiermit ein gewöhnliches, männliches Hausschaf gemeint war, ist kein zwingender Schluss. Die Herkunft des Gottes aus dem Meer, die geringe Ähnlichkeit zwischen Widderhorn und Schwert sowie viele weitere Einzelheiten lassen vermuten, dass...