Der Affenfelsen
Eineinhalb Monate lag der Anruf der Staatskanzlei nun zurück. Die drei Wochen vor dem Start hatten die letzten Vorbereitungen ausgefüllt: Es galt, einige Veränderungen am Fahrrad vorzunehmen, die Ausrüstung zu vervollständigen und wenigstens die wichtigsten Informationen über Westafrika einzuholen. Ich ließ verschiedene Impfungen über mich ergehen und beantragte noch schnell das Visum für Mali, damit - für alle Fälle - auf einer möglichen Route von Senegal nach Togo der bürokratische Weg geebnet war, ohne dass ich unterwegs weitere Visa würde beantragen müssen.
In der Firma, in der ich mir neben dem Studium mit Programmierarbeiten etwas Geld verdiente, erledigte ich währenddessen den letzten Auftrag, um einige Tage vor der Abreise schließlich meinen Schreibtisch aufzuräumen - "meinen Nachlass zu ordnen", wie einer der Kollegen es ausdrückte. Er hatte einen ermutigenden Humor!
Etwas Unerwartetes war in diesen letzten Wochen auch noch geschehen: Marions Weg hatte meinen gekreuzt. Wir kannten uns schon vorher, aber nun stolperten wir geradezu übereinander. Ausgerechnet jetzt! Sollte ich doch dableiben?
7. Juni, sechs Uhr früh - Abschied von Marion.
Die Fahrt von Erlangen nach München war Sache eines Tages. Am folgenden Morgen fand ich mich wie verabredet um 10.00 Uhr vor der Prinzregentenstraße 7 ein, wo am Tor bereits ein Häuflein von Journalisten wartete, die der Übergabe des Empfehlungsschreibens beiwohnen wollten. Da dieser offizielle Akt nicht in der kahlen Halle des Erdgeschosses abgewickelt werden sollte, wuchteten wir das voll bepackte Fahrrad unter der tatkräftigen Mithilfe der Wachmannschaft eine steile Treppe zum Flur des ersten Stockwerkes empor. Dort begleitete dann ein kleines Blitzlichtgewitter die interessierten Fragen des Ministerpräsidenten, die Marke und technische Einzelheiten meines Reiserades betrafen. Seine Neugier war dabei nicht gespielt, etwa als Akt der Höflichkeit, sondern vielmehr darin begründet, dass Strauß früher selbst begeisterter Radrennfahrer war. Und immerhin errang er in den 30er Jahren einmal den Titel eines Bayerischen Meisters im Amateurrennen.
Das Empfehlungsschreiben von Franz Josef Strauß, das mir noch gute Dienste leisten sollte (Übersetzung in den Reisetipps).
Entgegen den Verlautbarungen im Telefongespräch war der Brief, den er mir überreichte, doch gezielt an die offiziellen Stellen in Togo gerichtet. Er bat darin die togolesischen Behörden, aber auch die Bewohner des Staates, mir bei meiner Radtour durch das Land hilfreich zur Seite zu stehen. Ob dem Kral-Bewohner in Togos Busch der Name "Franz Josef Strauß" wohl etwas sagen würde?
Schließlich gab es noch einige Tipps, was ich mir in Togo unbedingt anschauen müsse. Vor allem das bayerische Restaurant dürfe ich nicht auslassen, das unweit der Hauptstadt Lomé geführt wird: "Dort bekommen Sie alles Gute aus Bayern", schwärmte der Ministerpräsident, "wohlgemerkt in deutscher Reinlichkeit. Und die - das werden Sie auf Ihrer Reise noch erleben - treffen Sie nicht überall in Afrika an."
Mit den Worten: "Und schreiben Sie uns eine Karte" verabschiedete er sich und entschwand.
Der Besuch in der Staatskanzlei war damit aber noch nicht ganz zu Ende, denn Herr Dr. Remmele von der Pressestelle der Staatskanzlei hatte ganze Arbeit geleistet. Da waren zum einen die Journalisten, die er hatte aufmarschieren lassen, und mit ihnen viele Fragen: Wieweit? – Wie lang? - Warum? - Auf welchem Weg?
Zum anderen hatte er noch zwei Radio-Interviews arrangiert. Das Gespräch mit dem Rheinlandpfälzischen Rundfunk ließ sich bequem am Telefon erledigen, für das zweite machte ich mich danach auf den Weg in die Münchener Fußgängerzone.
"Radio Xanadu" hatte seinen Sitz im "Gläsernen Studio", wie sie es nannten. Es war in das Erdgeschoß eines Kaufhauses integriert und bestand zur Fußgängerzone hin aus einem einzigen großen Fenster. Alle Beiträge, die über den Äther gingen, wurden mit Hilfe von Lautsprechern auch nach draußen übertragen, und so drückten sich, während wir uns eine Viertelstunde über meine Reisepläne unterhielten, vor der Scheibe so viele Leute die Nase platt, dass man das Studio von innen aus gesehen nicht mehr als gläsern bezeichnen konnte.
Zimmer mit Aussicht. – So übernachtet man im Allgäu.
Mit dem Verlassen des Studios hatte der unerwartet große Trubel ein jähes Ende. Ein eigenartiges Gefühl: Eben noch bist du von etlichen fremden Menschen begafft worden wie ein Tier von einem anderen Stern, dann fährst du um die nächste Ecke und bist plötzlich allein - allein mit dir und deinen Gedanken.
Meine selbst gewählte Einsamkeit wurde allerdings schon am nächsten Tag durch einen Besuch bei Verwandten in Liechtenstein unterbrochen. Auch Marion war da, sie kam aus Erlangen in das kleine Fürstentum nachgereist. Drei Tage Liechtenstein - drei Tage Marion. Dann wieder Abschied von Marion. Diesmal für Monate. Und wieder allein.
Die Schweiz und Frankreich durchquerte ich im Eiltempo und legte erst in Tarragona für eine knappe Woche eine Pause ein. Auch auf dem weiteren Weg durch Spanien behielt ich Reisetempo und vagabundenhaftes Leben bei: aufstehen, den ganzen Tag lang denken und dabei radeln, abends nach einer geeigneten Unterkunft suchen. Geeignet sind Bushaltestellenhäuschen, Häuser im Rohbau oder Gartenlauben: Man kommt am nächsten Tag nicht in Versuchung, allzu lang in den Federn liegenzubleiben. In einem Bushäuschen könnte man sonst von den ersten Fahrgästen überrascht werden - der Blick abends auf den Fahrplan ist natürlich obligatorisch. Auch von der Baustelle sollte man sich lieber vor Ankunft der Arbeiter entfernt haben. Hotels wären sicher bequemer gewesen, aber nach dem zu späten Aufstehen aus dem weichen Bett vertrödelt man dann auch noch unnötige Zeit mit dem Frühstück. Ich riss die Kilometer nur so herunter, Europa war unwichtig, ich wollte nach Afrika. 1100 Kilometer nach dem Aufbruch in Tarragona, am Nachmittag des fünften Tages, lag Afrika nun vor mir.
Dass ich nicht das erstbeste Schiff bestieg, lag einerseits daran, dass man etwas lang Ersehntes oft nicht sofort ergreift, wenn es in Reichweite gelangt, sondern sich die Freude gern eine Weile warmhält. Andererseits waren aber auch noch einige organisatorische Dinge zu erledigen, für die es in Afrika zu spät sein mochte, und außerdem wollte ich mir die Besichtigung Gibraltars nicht entgehen lassen.
Abend an der Costa del Sol.
Da die britische Kronkolonie unter akutem Platzmangel leidet, leidet sie auch unter Campingplatzmangel - es gibt dort keinen. Afrikafahrer beziehen auf dem Zeltplatz im nahen Algeciras Quartier. Die spanische Stadt wird so zum Trichterhals, in dem sich alle sammeln, die nach Marokko einreisen wollen.
Wer nicht in Algeciras ist, um auf den anderen Kontinent zu wechseln, ist wegen Gibraltar da. "Das ist doch verrückt! Da steht so'n Stein im Süden von Spanien im Wasser, und der gehört den Briten", meinte mein Zeltnachbar, ein Motorrollerfahrer aus Hamburg. Der Blick auf die Landkarte bekräftigt seine Ansicht - ganz einzusehen ist es nicht, warum dieser winzige, knapp sieben Quadratkilometer große Felsen nicht spanisch ist.
Natürlich ist es nicht die Größe, die die Kolonie wertvoll macht, sondern die strategisch günstige Lage an der schmalen Nahtstelle zwischen Mittelmeer und Atlantik. Die Briten hatten schon lange ein Auge auf die Halbinsel geworfen, bis sich im 18. Jahrhundert endlich die Gelegenheit ergab, sie - zusammen mit Menorca - zu erobern. Während Menorca Anfang des 19. Jahrhunderts wieder an die Spanier zurückgegeben wurde, blieb Gibraltar in britischer Hand. Als 1968 der Versuch scheiterte, das Problem zu lösen, sperrten die Spanier den Landweg auf die Halbinsel. Die Absperrungen mit ihren hohen Zäunen wurden gern mit der innerdeutschen Grenze verglichen. Wer die Verwandten auf der anderen Seite besuchen wollte, musste zuerst von Algeciras nach Marokko fahren und von dort aus zurück nach Gibraltar. Erst 1983 wurden die Tore für Besuche unter Angehörigen wieder geöffnet, zwei Jahre später endgültig auch für den Touristenverkehr.
Es war ein unwirklicher Moment, als ich die Grenze durch das schmiedeeiserne Tor passierte und mich dann Beamte kontrollierten, die ihrer Kleidung nach tags zuvor noch im fernen London den Verkehr geregelt haben mochten. Fast musste ich den Eindruck haben, ein britisches Freilichtmuseum zu besuchen. Die Uniform dieser Männer blieb allerdings beinahe das einzige, was mich an Großbritannien erinnerte. Die Häuser in Gibraltar sind größtenteils im südländischen Stil gebaut, in den Straßen ist die spanische Sprache stärker vertreten als die englische, und die blassen Briten wirken zwischen den vielen Spanischstämmigen eher als Touristen, weil sie deutlich in der Unterzahl sind. Die meisten von ihnen sind Mitglieder der Streitkräfte.
Auf das Platzproblem, unter dem die Halbinsel leidet, weist gleich hinter der Grenze ein kleines Kuriosum hin. Da sich hier, am Fuße des Felsens, die ebensten Areale der...