EINLEITUNG
Es war ihr vielleicht stolzester Moment, ihr erster unumstrittener Wahlsieg nach zwei Zitterpartien zuvor. Angela Merkel stand auf der Bühne des Konrad-Adenauer-Hauses in Berlin, gerade hatten die Meinungsforscher ihr für diesen 22. September 2013 einen satten Triumph vorhergesagt, sogar eine absolute Mehrheit von CDU/CSU schien möglich. Merkels Anhänger hielt es nicht mehr auf den Sitzen, aus den Lautsprechern erklang »Tage wie diese« von den Toten Hosen, Fraktionschef Volker Kauder schnappte sich ein Mikrofon und sang lauthals mit. Hermann Gröhe schien ein Deutschland-Fähnchen schwenken zu wollen, das ihm jemand auf die Bühne gereicht hatte. Doch nicht mit der Kanzlerin. Angela Merkel nahm ihrem Generalsekretär das Fähnchen aus der Hand und brachte es von der Bühne. Dabei schüttelte sie missbilligend den Kopf.
Die Symbolik war unverkennbar: Selbst im größten Triumph wollte die Kanzlerin sich nicht in deutschem Nationalismus ergehen – schließlich schaute der Rest Europas, der die Bundestagswahl zur »Europawahl« erklärt hatte, zu. Die Menschen in den krisengebeutelten Ländern, in Spanien, Italien oder Griechenland, sollten keinen ausgelassenen Nationalstolz in deutschen Parteizentralen zu sehen bekommen. Merkels Intervention half jedoch wenig. Am Tag darauf titelte die spanische Tageszeitung El Mundo: »Merkel, Merkel über alles«, und die griechische Zeitung Ta Nea schrieb: »Europa wird Merkel-Land«.
Wie konnte es dazu kommen? Weshalb kann ein Land, das eine Führungsrolle in Europa ablehnt, vielen wieder als rücksichtslose Vormacht erscheinen, gar als dominante Besatzungsmacht? Warum werden Hakenkreuz-Flaggen geschwenkt, wenn Angela Merkel die griechische Hauptstadt Athen besucht? Weshalb wird kurz vor Beginn der griechischen EU-Ratspräsidentschaft Ende Dezember 2013 mit Maschinengewehren auf die Residenz des deutschen Botschafters in Griechenland gefeuert? Wie konnte die »deutsche Frage« mit solch einer Wucht zurückkehren – in einer Zeit, da Deutschland doch zu den wichtigsten Kreditgebern für die EU-Krisenländer gehört? Der an der Universität Bonn lehrende Historiker Dominik Geppert schreibt in seinem Buch Ein Europa, das es nicht gibt: »Einige politische Schlagworte der Juli-Krise von 1914 – die ›Einkreisung‹, der ›Blankoscheck‹, die ›Flucht nach vorn‹ oder der ›Sprung ins Dunkle‹ – gewinnen im Jahr 2013 eine ungeahnte Aktualität.« Ähnlich sieht es offenbar auch der ehemalige Außenminister Joschka Fischer; bereits im Juni 2012 bemerkte er in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung düster: »Im 20. Jahrhundert hat Deutschland zweimal mit Krieg bis hin zu Verbrechen und Völkermord sich selbst und die europäische Ordnung zerstört, um den Kontinent zu unterjochen. Es wäre eine Tragödie und Ironie zugleich, wenn jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, diesmal friedlich und mit den besten Absichten, die europäische Ordnung ein drittes Mal zugrunde richten würde.«
Es sind verwirrende, ja geradezu beängstigende Fragen. Insbesondere, wenn man sie mit Szenen aus dem Bundestagswahlkampf 2013 garniert, in dem die neu gegründete Partei Alternative für Deutschland »Euro-Verbrennungen« vor dem Brandenburger Tor veranstaltete – mit dem Argument, man erlebe derzeit in Deutschland die größte Geldvernichtung seit der Inflation von 1923. »Eine weitere Anspielung auf jene Krisenzeiten der Demokratie«, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte, lieferte Parteichef Bernd Lucke, als er nach einem angeblichen Angriff auf ihn während einer Wahlkampfrede von »Schlägertrupps wie seinerzeit in der Weimarer Republik« sprach.
Diese Krisenzeiten herrschen in einem Europa, in dem bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 den Euro-Skeptikern und den antieuropäischen Parteien aus Griechenland, Spanien, Großbritannien, Belgien, Frankreich oder eben Deutschland ein Stimmenanteil von insgesamt 30 Prozent vorhergesagt wird. So warnt auch Frankreichs Präsident François Hollande: »Das EU-Parlament könnte zum großen Teil aus Anti-Europäern bestehen. Es besteht die echte Gefahr einer Lähmung.«
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Dieses Buch handelt von Deutschland und der Krise, auch von der Krise seines politischen Führungspersonals. Es ist aber zugleich ein Buch über Europa, über die Schwächen seiner Institutionen und deren Zukunft. Denn diese beiden Pole – die deutsche Krise und die europäische Malaise – sind nicht voneinander zu trennen, schließlich sollte die Europäische Union sich gemäß ihrer Gründungsidee von den Nationalstaaten fort hin zu einem Staatenbund bewegen. »In den Römischen Verträgen wie später auch im Vertrag von Maastricht war ausdrücklich vom Ziel einer ›immer engeren‹ Einheit die Rede. Der Nationalstaat, so Walter Hallstein, der erste und bislang einzige deutsche Kommissionspräsident, sei ›nicht das unveränderte Maß aller politischen Dinge‹. In dieser Sichtweise ging es nicht um die Rettung der Nationalstaaten, sondern um deren Aufhebung. Die Vereinigten Staaten von Europa als europäischer Bundesstaat waren das Ziel«, schreibt Dominik Geppert.
Die große und verbindende Ambition war also, dass irgendwann nicht mehr in Berlin, Paris oder London regiert und entschieden wird, sondern auf europäischer Ebene. Und diese Ambition gehörte in Deutschland auch lange zum politisch guten Ton. Noch 1989 versicherten deutsche Spitzenpolitiker, Intellektuelle und Wirtschaftsverteter George Soros im Gespräch, dass es keine deutsche, sondern nur eine europäische Außenpolitik gebe. Und in den Jahren der Euro-Einführung lautete Helmut Kohls erklärter Leitspruch, ein vereintes Deutschland sei nur in einem vereinten Europa denkbar.
Doch dieser Konsens ist erschüttert. Angela Merkel, so fürchtet ihr Biograph Stefan Kornelius, habe sich innerlich längst von dem Gemeinschaftsmodell verabschiedet. Die Nationalstaaten müssten sich ihrer Ansicht nach selbst aus der Misere befreien, sie seien schließlich auch selbst dafür verantwortlich. Im Bundestagswahlkampf 2013 sprach Angela Merkel nicht länger von »mehr Europa« wie die allermeisten ihrer Vorgänger, sondern schlug vor, dass Kompetenzen auch wieder an die Nationalstaaten zurückübertragen werden könnten – was einem »weniger Europa« gleichkam. Einen »Tabubruch der deutschen Außenpolitik« nannte der Brüsseler Politologe Jan Techau derlei Gedankenspiele. Es zwingt sich der Eindruck auf, Merkel glaube schlicht nicht mehr an die Gestaltungskraft europäischer Institutionen, allen voran der Europäischen Kommission, und begnüge sich lieber mit bilateralen Lösungsansätzen, in denen Deutschland den Ton angibt. Muss man also mit dem Berliner Wunsch nach einem »deutschen Europa« rechnen? Tritt an die Stelle der engen politischen Einheit die »Tragödie der Europäischen Union«, wie sie der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman bereits aufziehen sieht?
Noch vor wenigen Jahren befanden sich das Projekt der europäischen Einigung und die Gemeinschaftswährung Euro auf einem Höhenflug: Der Politologe Jeremy Rifkin erläuterte 2004 in Der europäische Traum unter großem Beifall, warum Europa – und nicht die USA – das Vorbild der Welt sei, ebenso der Brite Mark Leonard, Mitgründer und Direktor des Thinktanks European Council on Foreign Relations, der im Jahr 2005 seine Denkschrift Warum Europa die Zukunft gehört veröffentlichte. Derartige Thesen erschienen zu dieser Zeit keineswegs als vermessen. Das Projekt der europäischen Einigung hatte nicht nur für die längste Friedensperiode auf dem Kontinent seit dem 16. Jahrhundert gesorgt. Es hatte auch eine Generation geprägt, die dank unkomplizierter Grenzübertritte und einer einheitlichen Währung so harmonisch und multinational zusammenlebte wie wohl keine Generation zuvor. Historiker sollten in ferner Zukunft auf eine Epoche zurückblicken können, in der auf 7 Prozent der Weltbevölkerung 32 Prozent des Welthandels und 50 Prozent der globalen Sozialleistungen entfielen.
Ein Ende dieses Booms schien nicht in Sicht, der Begriff »Europa« war eng verknüpft mit wirtschaftlichem Fortschritt, ob nun in Form niedrigerer Telefontarife, in Form von Subventionen für Sizilien oder verarmte Regionen Portugals (und, bisweilen vergessen, für strukturschwache deutsche Landstriche), in Form von Industrieneubauten in Irland oder Spanien oder generell in Form des Euro-Beitritts, der weiteren wirtschaftlichen Aufschwung versprach. Der Harvard-Politologe Joseph Nye erkannte an, dass die EU-Erweiterungspolitik ein weltweiter Exportschlager geworden war – gerade in Abgrenzung zum Nation-Building-Desaster der USA im Irak und in Afghanistan. Und die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot nannte Europa im Vergleich zu den USA gar die »echte Moderne«, da sich seine Erweiterung freiwillig vollzogen habe.
Die Gemeinschaftswährung Euro wurde zu dieser Zeit ebenso euphorisch gepriesen wie der Staatenbund: Unmittelbar vor Ausbruch der Euro-Krise jubelte die Europäische Kommission noch darüber, wie gut sich die neue Währung zehn Jahre nach ihrer Einführung entwickelt habe. »Der Euro ist eine Erfolgsgeschichte«, hieß es vielerorts überschwänglich. Und Deutschland? War nach harten Krisenjahren längst wieder ein Exportweltmeister und stand als wirtschaftliche Lokomotive der Euro-Zone auch als Herz des Kontinents da – vor dem niemand mehr Angst haben musste.
Führte diese Hybris zwangsläufig zur Tragödie? Heute, im fünften Jahr der Krise, kommt einem der europäische Traum...