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Widerspruch 65

Beiträge zu sozialistischer Politik

AutorB. Allenbach, B. Glättli, B. Lochbihler, C. Bernardi, E. Piñeiro, G. Bozzolini, P.-A. Niklaus, V. Al
VerlagRotpunktverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783858696397
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Nach der Annahme der Initiative der Schweizerischen Volkspartei »Gegen die Masseneinwanderung« steht das Verhältnis der Schweiz zur EU grundsätzlich zur Disposition. Rechtspopulistische und fremdenfeindliche nationalistische Kräfte aus den umliegenden Ländern begrüßten den Entscheid, teilweise enthusiastisch. Kommt es in Europa zum Rückfall in den Nationalismus? Stoßen »nationale Identitäten« vermehrt auf Resonanz? Während die europäischen Regierungen und die EU-Kommission gegenüber der Schweiz betonen, dass die Personenfreizügigkeit als tragender Pfeiler der EU nicht verhandelbar sei, fühlen sich die Kräfte der Abschottung in der Schweiz bestärkt. Die Wirtschaftskrisen in Europa haben demokratische Entscheidungsprinzipien infrage gestellt. Gleichzeitig kommt Kritik an der direkten Demokratie in der Schweiz auf. Findet in Europa eine Entdemokratisierung statt? Widerspruch 65 thematisiert das Verhältnis der Schweiz zur EU, aber auch wirtschaftliche und politische Veränderungen innerhalb der EU. Wohin steuert Europa?

Von C. Bernardi / B. Glättli / P.-A. Niklaus / E. Piñeiro / B. Lochbihler / G. Bozzolini / B. Allenbach / V. Alleva / L. Mayer / V. Pedrina / A. Rieger / E. Klatzer / C. Schlager / H.-J. Bieling / F.O. Wolf / R. Herzog

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Leseprobe

Claudia Bernardi

Europa als politischer Gestaltungsraum


Grenzen, Migration und soziale Kämpfe aus südeuropäischer Sicht


Die gegenwärtige Krisensituation gibt Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen. Die einen verstehen die Krise als fortschreitende Rezession, andere bezeichnen sie sogar als eine zweite Grosse Depression.1 So oder so erweist sich die Krise als dauerhaft. Die supranationalen Machtzentren und Finanzinstitutionen stabilisieren und verlängern sie mit den Mitteln des Schuldensystems und der Austeritätspolitik. Es handelt sich nicht einfach um eine Rezessionsperiode, auf die eine Phase der Wiederbelebung im günstigen Wachstumsumfeld folgen wird; es geht vielmehr um eine tief greifende Neustrukturierung des Kapitalismus, und als Experimentierfeld für dieses Vorhaben dient offenbar Europa.

Als Mutterland des Kolonialismus mit unbeschränkter Souveränität ist der Alte Kontinent heute durchzogen von fortgeschrittenen Experimenten wie zum Beispiel der Finanzialisierung aller Lebensbereiche, von neuen Formen der Wertschöpfung, der Demontage von Rechten und Wohlfahrt, von scharfen Attacken auf die Bewegungsfreiheit der Personen und von Initiativen zur Hierarchisierung der Staatsbürgerschaft. Die Nationen sind durch eine wachsende Zahl von Abkommen und Verträgen in ein komplexes ökonomisches System eingebunden, dessen neoliberale Grundstruktur sich auf die freie Güterzirkulation und ausdifferenzierte soziale Hierarchien abstützt und dessen Ziel es ist, seine Spitzenposition im globalen Norden zu behaupten. Aber dieser Strukturwandel verlief nicht linear, da die EU weder eine Föderation noch ein geeintes politisches Subjekt ist: Sie ist ein Feld für disparate Strategien, welche das Territorium nicht als einen einheitlichen politischen Raum verstehen. Marktkräfte und die von der EU verfolgten Politikprogramme haben dazu geführt, dass der politische Raum in verschiedene unzusammenhängende Zonen zerfallen ist, was eine differenzielle Regulierung von Bevölkerungen ermöglicht; diese können an globale Kapitalkreisläufe angeschlossen oder davon abgehängt werden.2 Die besondere politische und wirtschaftliche Struktur der EU hat, ausgehend von den Maastricht-Verträgen bis zur Einführung des Euro, die nötigen Handlungsspielräume geschaffen für die «kommissarische Diktatur» der Troika, die mit dem Einverständnis und unter der führenden Rolle Deutschlands3 eine finstere Periode der Arbeitslosigkeit, der Verschuldung und Verarmung eingeleitet hat, womit die Länder des nördlichen Mittelmeerraums und des europäischen Ostens konfrontiert sind.4 Aus diesem Blickwinkel stellt sich Europa heute als Problemzone dar, in der die tradierte Idee der Demokratie zu einem rhetorischen Slogan von Institutionen verkommen ist und populistische Kräfte eine konservative Rückkehr zur bornierten nationalen Selbstbestätigung einleiten möchten.

In dieser komplizierten Situation besteht die erste Herausforderung darin, die gegenwärtige Gestalt Europas zu verstehen: die räumliche Ausdehnung und innere Differenzierung, die veränderte Zusammensetzung der mobilen Bevölkerung und vor allem die Ansprüche und Praktiken der Kämpfe, die laufend – selbst wenn sie wenig sichtbar sind – neue Lebensperspektiven und wechselseitige Beziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen entstehen lassen.

Die Stellung Europas in der postkolonialen Welt


Die globale Krise ist ein unumkehrbarer Prozess in der Transformation des Kapitalismus, der territoriale Veränderungen nach sich zieht und in ihnen zum Ausdruck kommt. In Anspielung auf eine Formulierung Fernand Braudels sollten wir «die vielen Europas diesseits des einen Europa»5 in Betracht ziehen. Tatsächlich ist Europa nicht deckungsgleich mit der EU noch mit ihren Grenzen; ganz im Gegenteil überschreitet Europa die formale Abgrenzung und die Grenzziehungen der EU, es ist ein heterogen strukturiertes Gebilde von unterschiedlichen koexistierenden europäischen Bezugsräumen. Europa ist als Raum erst im Entstehen begriffen und bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen der postkolonialen Übergangsphase und der aktuellen Vervielfachung seiner Einheiten.

Zum einen sind im postkolonialen Europa die Randregionen – die historischen kolonialen Peripherien – in die metropolitanen Zentren6 eingedrungen, da Bewegungen von MigrantInnen den ihnen vom kolonialen Machtverhältnis zugeschriebenen Platz nicht akzeptierten und sich entschlossen, die Grenzen der EU zu überschreiten, wenn nötig auch illegal. Unter diesem Fokus verstehen wir, dass Migration nicht nur durch Push- und Pull-Faktoren reguliert wird, sondern vor dem Hintergrund der globalen und kolonialen Entwicklung des zeitgenössischen Kapitalismus betrachtet werden muss.7 Zum anderen werden MigrantInnen einem abgestuften Verfahren der Inklusion unterzogen, das die rechtliche Fragmentierung des europäischen Raums widerspiegelt und damit im übertragenen Sinne die Trennung zwischen kolonisierten Untertanen und dem Bürger-Kolonisten reproduziert.8 Diese Trennung zwischen BürgerInnen und illegalen MigrantInnen bestärkt die Errichtung von immateriellen Grenzen – mit durchaus harten materiellen Folgen – an den Rändern des EU-Raums, der durch einen hierarchisch abgestuften Bürgerschaftsstatus und laufend erweiterte Grenzbefestigungen konstituiert wird.

Die Trennung verstärkte sich insbesondere nach dem «arabischen Frühling», als eine starke Migrationsbewegung aus den Ländern des südlichen Mittelmeerraums in Richtung der EU einsetzte. Faktisch hat das Dublin-System einen ausgeklügelten Filter gegen die interne Mobilität von «illegalen» MigrantInnen eingerichtet mit dem Ziel, die Immigration in die EU zu regulieren, indem durch wiederholte Abschiebung es den Ankommenden verunmöglicht wird, das Ankunftsland zu verlassen. Während das Schengen-System eine zeitlich befristete EU-interne Migration zulässt, stellt somit das Dublin-System sicher, dass wenig qualifizierte ArbeiterInnen, die aus den externen Peripherien einwandern, innerhalb der internen Randgebiete des Kontinents festgehalten werden, so etwa in Athen oder Rom. Grenzüberwachung durch Frontex-Patrouillen, «Abwehrwälle» zwischen Griechenland und der Türkei, zwischen Spanien und Marokko nach dem Vorbild der befestigten Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten und ausgelagerte Auffanglager wie jene in Libyen markieren die Konturen des europäischen Raums und etablieren die hierarchische Ordnung.

Die Landkarte der Migration und der Bürgerrechte


Seit kurzem erhält die EU-interne Migration eine verstärkte Aufmerksamkeit, insbesondere seit die Mobilität der Studierenden im Zuge der Bologna-Reformen ein hohes Ausmass erreicht hat: Der Qualitätsabbau in den Bildungssystemen, die zunehmende Verarmung als Folge der neoliberalen und Austeritätspolitik, die hohe Arbeitslosenrate bei Jugendlichen und vor allem die Erwartung besserer Lebensperspektiven haben entscheidend dazu beigetragen, dass hoch qualifizierte junge Arbeitskräfte in den Norden Europas auswandern. Vor diesem Hintergrund konnten Städte wie Berlin, London und Paris trotz Krise ihre hierarchische Position im globalen Rahmen festigen und hoch Qualifizierte aus anderen EU-Gebieten anlocken. Dies verbesserte die Verfügbarkeit der Arbeitskräfte in den Zentren und liess die Migrationsströme zu einem wichtigen Faktor der Restrukturierung der Städte werden: Die MigrantInnen sind selber aktive Triebkräfte, welche die neuen Lebensräume in Wert setzen, nachbarschaftliche Beziehungen und soziale Aktivitäten aufbauen und Solidaritätsnetzwerke schaffen, die indessen oft umgehend von Prozessen der Gentrifizierung erfasst werden. Die meisten dieser MigrantInnen, welche die Bevölkerung solcher Städte bereichern, stammen aus Ländern des Ostens und aus Mittelmeerländern. Beispielsweise bilden die ItalienerInnen die zweitgrösste Gruppe der migrantischen Bevölkerung Berlins, sie kommen gleich nach den TürkInnen.

Obwohl junge MigrantInnen zur Hauptsache ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau mitbringen, sind die meisten von ihnen, vor allem die aus Polen stammenden, in Sektoren mit tieferen Qualifikationsanforderungen beschäftigt.9 Zudem hat die Migration aus den sogenannten postsozialistischen Ländern die historische Trennung zwischen West und Ost, lange Zeit verkörpert durch die Berliner Mauer, verschoben. Während die Trennmauer selbst schon vor Jahrzehnten gefallen ist, hält sich die immaterielle Unterscheidung zwischen dem «demokratischen» Westen und dem «totalitären» Osten weiterhin. Sie hat materielle Gestalt angenommen im Visa-System, das den Bevölkerungen der östlichen Länder einen Platz am unteren Ende der europäischen Hierarchie zuweist.10 Diese interne Hierarchisierung im europäischen Raum gilt auch für MigrantInnen aus dem nördlichen Mittelmeerraum. Sie stützt sich auf eine diskriminierende Darstellung der jeweiligen...

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