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E-Book

Wie die Couch nach Kalkutta kam

Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse

AutorUffa Jensen
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl538 Seiten
ISBN9783518761175
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Ende des 19. Jahrhunderts erfand Sigmund Freud in Wien die Psychoanalyse. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte sie sich zu einem globalen Phänomen. Begriffe wie »Über-Ich«, »Narzissmus« oder »Ödipuskomplex« sind längst in die Alltagssprache eingegangen. Um diese dynamische Entwicklung nachzuvollziehen, befasst sich Uffa Jensen mit drei Metropolen, die neben Wien für die psychoanalytische Bewegung von großer Bedeutung waren: Berlin, London und Kalkutta.

Jensen zeigt, wie Lehre und Behandlungstechnik dort vor dem Hintergrund existierender Therapieformen und lokaler Traditionen angepasst wurden und auf welchen Wegen solche Neuerungen dann wiederum Freud beeinflussten. Mittels erzählerischer »Schlüssellochtexte« schaut er direkt in die Behandlungszimmer, beleuchtet aber auch die politischen und gesellschaftlichen Aspekte der globalen Psychoanalyse. Von Anfang an als »Selbsttechnologie« konzipiert, hat sie den Weg bereitet für die heutige Ratgeber- und Coachingkultur. Zentral war dabei, auch das demonstriert diese Globalgeschichte, der therapeutische Umgang mit Emotionen: Schon Freud verstand seine Therapie als »Heilung aus Liebe«.

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<p>Uffa Jensen, geboren 1969, lehrt Geschichte an der Technischen Universität Berlin und forscht am dortigen Zentrum für Antisemitismusforschung.</p>

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Leseprobe

Schlüssellochtext A


Anna G. und das Ende ihrer Verlobung

Im 1. April 1921 erklomm Anna G. die Treppe in dem unscheinbaren Haus Berggasse 19 in einem gutbürgerlichen Viertel Wiens.1 Sie war nervös, unsicher, vielleicht sogar etwas ängstlich. Eigentlich glaubte sie sich für diesen Gang (und die vielen, die ihm folgen sollten) gut gewappnet. Die 27-Jährige war extra aus Zürich angereist. Auf diesen Tag hatte sie lange warten müssen. In gewisser Hinsicht waren sogar die letzten Jahre Vorbereitung für diesen Schritt gewesen. Erst hatte sie Medizin und Psychiatrie studiert und dann als Doktorandin und Assistentin am Züricher Burghölzli unter dem berühmten Psychiater Eugen Bleuler gearbeitet. Sie hatte alles gelernt und gelesen, was sie an diesem Tag glaubte wissen zu müssen.

Trotzdem stieg Anna G. die Treppe in Anspannung hoch. Man hatte ihr gesagt, sie solle, oben angekommen, an der rechten Tür klopfen. Nicht an der linken, da waren die Privaträume, wie sie später begreifen sollte. Nun öffnete ihr eine Haushälterin. An einer kleinen Garderobe im Vorzimmer legte sie ihren Mantel ab und wurde dann in ein Wartezimmer geleitet. Was sie erst allmählich bemerken sollte: Der Besucher vor ihr trat in diesen Minuten aus einer anderen Tür auf den Flur, nahm seinen Mantel und entschwand in das Treppenhaus. So bekam keiner die anderen Patientinnen zu Gesicht. Diskret!

Plötzlich öffnete sich die hintere Flügeltür zum Wartezimmer, und ein älterer, freundlich blickender Herr machte eine einladende Bewegung. Er sprach eine zuvorkommende Begrüßung, während Anna G. seine Hand schüttelte. Sie wusste natürlich sofort, dass sie Sigmund Freud gegenüberstand. Was sie kaum wissen konnte: So verhielt sich Freud immer – ein Meister der ersten Begegnung. Was er ihr sagte, wird eine persönliche Note gehabt haben, etwas ansprechend, was er über sie wusste, weil er zuvor mit ihr in Briefkontakt gestanden hatte und ihre Verhältnisse in Zürich gut einschätzen konnte. Freud wusste von der Aufregung seiner Patienten. Er musste sie ihnen nehmen, damit sie wiederkamen. Auch deshalb war er meistens sehr charmant. Er schmeichelte seinen Besucherinnen und war gut darin, ihr Vertrauen zu gewinnen, ja ihre Zuneigung.

Abb. 3 Gezeichneter Grundriss des Wohnhauses von Sigmund Freud in der Berggasse 19.

Patienten brauchen Vertrauen in ihren Arzt. Medizinerinnen wissen, dass eine positive Einstellung bei der Heilung erheblich helfen kann. Aber bei einer Psychoanalyse ist die Beziehung zum Therapeuten noch wichtiger – und dies gar nicht so sehr, weil sie intime Details aus dem Leben der Patientinnen zum Gegenstand hat. Psychoanalytische Patienten müssen ihr Gefühlsleben auf die Analytikerin ausrichten. Sie sollten möglichst sofort beginnen, ihren Analytiker zu lieben oder, je nach Neigung, zu hassen. Anna G. entschied sich für die Liebe.

Sie trat in das Behandlungszimmer. Es war dunkel, die Wände mit vielen Gemälden, Drucken und Reliefs behängt. In den Vitrinen und auf den Regalen standen unzählige kleine antike Statuen und winzige Götterfiguren. Eine Schatzkammer, eine Art archäologisches Kabinett, jedenfalls kein Arztzimmer. Direkt am anderen Ende des Raums, sie steuerte schon darauf zu, stand die Couch. Da musste sie sich hinlegen; vielleicht war sie deswegen nervös. Aber sie starrte nicht so ehrfürchtig auf das Möbelstück, wie wir es heute tun würden. 1921 war Freuds Couch noch kein Fetisch, sondern eine etwas aus der Mode gekommene Chaiselongue mit Orientteppichen, Decken und Kissen. Anna G. hatte sie noch nie gesehen; zu diesem Zeitpunkt musste man noch auf ihr gelegen haben, um zu wissen, wie sie aussah. Erst später gab es davon Fotos.

Sie legte sich hin; Freud nahm, das kleine Fußstühlchen beiseiteschiebend, auf dem Armsessel hinter ihrem Kopf Platz. Sie konnte jetzt den alten gusseisernen Ofen in der Ecke, die Vitrine mit den Statuen und das Bild der Sphinx darüber oder einfach die Decke anstarren. Während er in der Lage war, sie zu beobachten, wenn er den Blick nach links wandte, musste sie größere Verrenkungen anstellen, um ihn zu erblicken. Freud war nur noch Atem, manchmal Stimme und, auch das kam vor, sonores Schnarchen.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass Freud mit seiner neuen Patientin ein Vorgespräch führte, was er bei manchen Patientinnen tat, um herauszufinden, ob sie sich für eine Analyse eigneten. Er musste immer vor Menschen auf der Hut sein, deren Erkrankungen (etwa im Fall einer Schizophrenie, die damals meist noch Dementia praecox genannt wurde) so schwerwiegend waren, dass sie anders behandelt werden mussten. Wenn es kein Vorgespräch gab, dann meistens, weil Freud davon ausging, dass es sich in diesem Fall nicht um die Behandlung einer Kranken, sondern um eine Lehranalyse handelte. Bei Personen, die wie Anna G. vom Fach waren und später möglicherweise selbst Analytikerin werden wollten, analysierte man ihren Charakter, um sie in die Technik der Psychoanalyse einzuführen und ihnen das notwendige Maß an Selbsterkenntnis für diese Tätigkeit zu vermitteln. Freud glaubte wohl in der Tat, dass dies eine Lehranalyse werden sollte, und er hoffte auf eine zukünftige Psychoanalytikerin in der Schweiz. Aber Anna G. war auch mit einem schwerwiegenden Problem im Gepäck angereist: Sie wusste nicht, ob sie genug liebte.

Es gab (und gibt) viele Gründe, warum Menschen eine Analyse begannen. Viele kamen – bei Freud gerade in den ersten Jahren –, weil sie von schweren psychischen Leiden geplagt wurden: hysterischen Anfällen, zwanghaften Tics, dauerhafter Trübseligkeit, unerträglichen Ängsten und Ähnlichem. Andere wollten von einem erfahrenen Analytiker – am besten natürlich vom Meister selbst – in die Lehre und Technik der Psychoanalyse eingeführt werden. Personen dieser Gruppe behandelte Freud über die Jahre immer häufiger. Es gab allerdings auch eine weniger bekannte Gruppe von Patientinnen, die nicht eben klein war: Menschen mit scheinbar banalen Problemen, die sie sehr bedrückten, aber nur selten einen geregelten Alltag unmöglich machten, wie dies bei der erstgenannten Gruppe der Fall war. Diese Menschen hatten Beziehungsprobleme, würden wir heute sagen – und Anna G. war eine von ihnen. Schon vor sieben Jahren hatte sie sich mit Richard verlobt, doch sie wusste nicht mehr sicher, ob sie ihn ausreichend liebte, um mit ihm den Rest ihres Lebens zu verbringen.

Anna G. war klar, wie eine Analyse ablief und worauf es ankam. Sie erinnerte sich an Kindertage, an ihre Cousine, ihren Bruder und an ihre Eifersucht. Sie assoziierte frei, indem sie stets direkt sagte, was ihr zu einem Thema einfiel. Sie mischte Erinnerungen und Träume, die jeweils wieder Assoziationen hervorbrachten. Nach Freuds Vorstellungen ergaben diese scheinbar willkürlichen Berichte Sinn, wenn man verstand, dass sie verdrängtes Material aus dem Unbewussten darstellten. Unter normalen Bedingungen war dies den Patienten nicht zugänglich, da ihnen eine Art innere Zensur den Einlass verweigerte. Mit dem Prinzip der freien Assoziation sollten sie die Zensur austricksen, indem die Dinge, die sie normalerweise unterdrücken und bewusst nicht ansprechen wollten, anhand der schnell ausgeplauderten Hinweise für die geschulte Psychoanalytikerin doch erkennbar wurden. Sofort mischten sich in Annas Kindheitserinnerungen auch sexuelle Motive, etwa wenn sie Freud erzählte, dass sie früher oft masturbiert hatte. Auch dies lässt darauf schließen, dass sie genau wusste, was in einer psychoanalytischen Therapie von ihr erwartet wurde, da Freud ja die kindliche Sexualität ins Zentrum seiner Theorien stellte.

Der Theorie entsprechend, hatte sich die Analytikerin eigentlich zurückzuhalten, um dem Patienten den Raum für die Assoziationen zu bieten. Freud erklärte Anna G. aber bereits in einer der ersten...

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