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Wie funktioniert Psychotherapie? (Wissen & Leben)

Ein Buch aus der Praxis für alle, die es wissen wollen

AutorMartin Grabe
VerlagSchattauer
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783608191349
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Viel bunte Erfahrung statt graue Theorie. Selten wurde ein Buch so konsequent aus der Praxiserfahrung heraus geschrieben: Dr. Martin Grabe, Leiter eines psychotherapeutischen Weiterbildungsinstitutes und Chefarzt einer psychosomatischen Abteilung, schildert fern jeglicher grauer Theorie, wie erfahrene Therapeutinnen und Therapeuten arbeiten und Psychotherapie gelingt. - Auf welchem Weg werden Änderungen angestoßen? - Wie gelangt man zu Modellen über die jeweilige Störung der Patientin/des Patienten? - Was geht in der Therapeutin/im Therapeuten vor, während sie/er mit der Patientin/dem Patienten spricht? Ein Buch für Psychologinnen und Psychologen und Ärztinnen und Ärzte in psychotherapeutischer Weiterbildung, wie es wirklich benötigt wird. Ein Buch für Patientinnen und Patienten und deren Angehörige, die einmal wissen möchten, was sich in einer Psychotherapie abspielt, zwischenmenschlich und in deren Innenleben. Ein Buch für alle, die mehr wissen wollen über die Wirkung von Psychotherapie. Therapieschulen-übergreifend, durch zahlreiche Exkurse höchst erhellend - und immer frei heraus. Dieses Buch richtet sich an: - Psychologinnen und Psychologen - Ärztinnen und Ärzte in psychotherapeutischer Weiterbildung - Patientinnen und Patienten und deren Angehörige; alle, die mehr wissen wollen über die Wirkung von Psychotherapie Aus dem Inhalt Wie innere Konflikte das Leben einengen und wo Therapie ansetzen kann | Wie findet man den zentralen Beziehungskonflikt? | Die Therapeutische Beziehung | Verstrickungen lösen und Entscheidungen treffen | Psychotherapie und Spiritualität | Therapieschulen im Überblick | Spezielle Störungsbilder

Dr., Facharzt für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin, Chefarzt der psychotherapeutischen Abteilung der Klinik Hohe Mark bei Frankfurt; Leiter eines Weiterbildungsinstituts für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS); Lehraufträge in theologischen Masterstudiengängen, Buchautor.

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Leseprobe

3 Wie findet man den zentralen Beziehungskonflikt?


3.1 Dreieck der Einsicht


Karl A. Menninger hat 1958 das »Dreieck der Einsicht« formuliert, das immer noch als Grundlage des therapeutischen Erkenntnisgewinns gelten kann. Zunächst war es ein rein psychoanalytisches Modell, doch inzwischen geht die neuere Verhaltenstherapie prinzipiell sehr ähnlich vor, ebenfalls die Schematherapie ( Kap. 7).

Dieses Einsichtsdreieck ist in der Folge mehrfach verändert und erweitert worden, liegt aber z. B. auch dem Klassiker von Hermann Argelander (2009) über das Erstinterview in der Psychotherapie und dem Konzept des »Zentralen Beziehungskonfliktthemas« zugrunde, das Lester Luborsky 1988 formulierte (1988, 1995). Es gibt danach drei Hauptbereiche, die es zu berücksichtigen gilt, um therapeutische Einsichten zu ermöglichen:

  • Die aktuelle Situation
  • Die Biografie (mit Schwerpunkt auf den ersten Jahren)
  • Das szenische Erleben

Diese drei Bereiche bilden das Dreieck der Einsicht ( Abb. 3-1). Man kann sich eine Theorie über eine bestehende psychische Störung wie einen Hocker vorstellen, der auf drei Beinen steht: Man kann nicht auf eines davon verzichten. Auf zwei Beinen ließe sich der Hocker nicht belastbar aufstellen, ebenso wenig wie eine Theorie für wirksame Hilfe taugen würde, die einen dieser essenziellen Bereiche nicht berücksichtigt.

Was bedeuten jetzt diese drei Faktoren im Einzelnen?

Abb. 3-1  Dreieck der Einsicht (Menninger)

Aktuelle Situation


Hier geht es zum einen um die Frage: Was bringt diesen Menschen jetzt dazu, dass er Hilfe in Anspruch nehmen möchte? Was empfindet er als Sackgasse, als Problem, das mit »Bordmitteln« nicht mehr zu lösen ist? Was führte seiner jetzigen Wahrnehmung nach zur Erkrankung? Wo spürt er derzeit den meisten Druck, welcher Lebensbereich belastet am meisten?

In was für Beziehungen lebt der Patient zurzeit? Insbesondere sind hier die Beziehungen in der Familie und am Arbeitsplatz wichtig. Wer unterstützt hier und wer raubt Energie? Wo gibt es Konflikte und Probleme und warum genau?

Dazu gehört auch, ein gutes Bild von der Familien- und Wohnsituation zu bekommen und ebenfalls ein möglichst plastisches Bild vom Arbeitsumfeld und der Tätigkeit, die der Betreffende ausführt. Hat er sein Auskommen oder gibt es finanzielle Not?

Gezielt gefragt werden sollte auch gerade nach Bereichen, die möglicherweise zunächst umgangen werden, weil es dem Betroffenen peinlich ist. Es ist nicht möglich, ein sinnvolles Modell zu entwickeln, wenn hier vielleicht ein wichtiger Punkt verschwiegen oder in stillschweigendem Einverständnis umgangen wurde. So sollte klar und offen nach der genauen Höhe von Schulden gefragt werden, dem Ausmaß von Alkoholmissbrauch, nach anderen Abhängigkeiten, nach sexuellen Problemen jeder Art und bei Andeutung von ausgeübter körperlicher Gewalt auch genau, was da schon passiert ist. Es gibt kaum einen besseren Einstieg in eine therapeutische Beziehung, als wenn ein Ratsuchender merkt, dass der Therapeut nicht verurteilend mit diesen ihm oft höchst peinlichen Inhalten umgeht, sondern fachlich interessiert ist und der Überzeugung, dass gerade hier gemeinsam eine positive Entwicklung in Gang gesetzt werden sollte.

Hierher gehört auch die Frage, welche klinischen Diagnosen vergeben werden können. Diese sollten sich an der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD = International Classification of Disseases) orientieren, weil nur so eine einigermaßen eindeutige Verständigung mit anderen Kollegen möglich ist.

In den meisten Fällen entwickeln Menschen in für sie ausweglosen Lagen eine Depression. Diese bildet entweder das Hauptsymptom oder begleitet dieses. Wenn ja, wie ausgeprägt ist die Depressivität? Hauptsymptom können auch Ängste bzw. eine Form einer Angsterkrankung sein (z. B. Panikstörung, soziale Phobie, eine Agoraphobie oder eine andere spezielle Phobie). Vielleicht liegen auch Zwänge (Zwangsgedanken, Zwangshandlungen) vor?

Ebenfalls eine Vielfalt an Symptomen gibt es im Rahmen der Psychosomatik. Meist haben die Betroffenen schon umfangreiche medizinische Abklärungen hinter sich.

Wenn es sich um eine Essstörung handelt oder eine Borderline-Störung, dann gelten z. T. andere Behandlungsregeln ( Kap. 8). In Bezug auf Persönlichkeitsstörungen, insbesondere die Borderline-Störung, braucht es auch einen anderen theoretischen Zugang als den unten dargestellten ( Kap. 8.9).

Ausgeschlossen werden muss eine stoffgebundene Abhängigkeit, wie am weitaus häufigsten ein Alkoholabusus. Das würde eine spezielle Suchtbehandlung erfordern, die auf jeden Fall einer klassischen Psychotherapie vorgeschaltet werden sollte. Und natürlich müssen auch vorwiegend neurophysiologisch bedingte Störungen wie eine schizophrene Psychose, eine schwere Depression oder eine Manie ausgeschlossen werden, die ebenfalls eine andere Behandlung erfordern würden.

Biografie


Gerade für die besonders wichtige Zeit der frühen Kindheit sind die Informationen, verglichen mit späteren Jahren oder den jetzigen Problemen, am Anfang einer Therapie oft relativ karg. Manche Patienten idealisieren rundweg ihre Kindheit. »Ich hatte eine wunderbare Familie!« Meist möchten sie dann schnell zum nächsten Punkt übergehen und haben sichtlich wenig Lust, sich weiter damit zu beschäftigen.

Immerhin lassen sich auch am Anfang einige objektive Daten erfassen: Wo stand das Kind in der Geschwisterreihe? Musste das Kind früh Verantwortung übernehmen? Wie war die wirtschaftliche Situation der Familie? Was haben die Eltern beruflich gemacht, wie stark waren sie beschäftigt, wie bildungsfern oder -nah waren sie? Sind die Eltern die Kindheit über zusammengeblieben? Wenn nicht, durfte das Kind ununterbrochen bei einem Elternteil bleiben? War eines der Elternteile vielleicht psychisch krank oder litt an einer Sucht?

Aus diesen objektiven Daten lässt sich oft schon eine ganze Menge ersehen, wenn auch natürlich nur als Hypothese. Erwiesen ist ein Zusammenhang erst dann, wenn er mit dem Gefühl des Betroffenen übereinstimmt.

Fallbeispiel

Ein Mann berichtet, in der Herkunftsfamilie das älteste von vier Kindern gewesen zu sein. Das könnte sehr verschiedene Dinge bedeuten. Möglicherweise hatte er freundliche, recht gesunde Eltern, die darauf achteten, dass er kindgerecht aufwachsen konnte und keine ausgeprägte Rolle einnehmen musste. Oft bedeutet die Rolle des Ältesten aber auch eine markante, lebensprägende Position. Es könnte z. B. eine ausgesprochene Kronprinzenrolle gewesen sein. Das fördert unrealistische narzisstische Erwartungen an sich selbst und andere, die im späteren Leben zum Scheitern führen müssen. Andere älteste Geschwister werden schon früh mit Verantwortung überladen. Sie müssen auf die Jüngeren aufpassen und im Haushalt helfen. Insbesondere Mädchen werden in unserer Gesellschaft in kinderreichen Familien oft in die Rolle einer »Zweitmutter« gedrängt. Zuwendung durch die überforderte echte Mutter ist karg, und wenn, dann als Anerkennung für effektives Arbeiten in der Familie. Oder älteste Kinder werden zum Träger der gesamten Erwartungen der Eltern. Vielleicht sollen sie endlich das Studium schaffen, das dem Vater damals verwehrt blieb.

Die Information, Ältester in der Familie gewesen zu sein, also der objektive Befund, sagt an sich also noch wenig aus. Erst im Zusammenhang mit der gefühlsmäßigen Besetzung dieser Rolle erfahren wir Wesentliches.

Glücklicherweise ist es allerdings so, dass bei den Patienten meistens schon bei einer genauen Anamneseerhebung Gefühle in Bezug auf die Tatsachen hochkommen und auch gezeigt werden. Oft wird dann schon im Erstgespräch oder wenig später Wesentliches klar. Mir ist von Therapieunerfahrenen, z. B. in den Begrüßungsgruppen unserer Abteilung, oft die Frage gestellt worden, wie man denn mit ihnen arbeiten wolle. Sie hätten gehört, dass die Kindheit so wichtig sei, sie könnten sich aber gar nicht mehr daran erinnern. Das ist in dem Moment auch ihr Gefühl, aber in der Regel erfordert es, wie gesagt, kein langes Schürfen, bis die wesentlichen Bedingungen zutage kommen.

Bei uns in der Klinik gibt es zwei Mittel, die sehr fördern können, einen gefühlsmäßigen Zugang zur eigenen Geschichte zu bekommen.

Zum einen ist das der »Fragebogen zur Lebensgeschichte«, den jeder Patienten innerhalb der ersten Zeit ausfüllt. Hier werden verschiedenste Lebensbereiche und Lebensphasen abgefragt. In der Regel entsteht dadurch eine Menge gefühlsmäßige Anregung und Gesprächsbedarf. Im Schutzraum der Station dürfen Dinge bedacht und gefühlt werden, die vorher unter festem Verschluss waren. Unsere Psyche verdrängt so viel wie möglich dessen ins Unbewusste, was uns im täglichen Leben am Funktionieren hindern könnte. Und die meisten Menschen, die in Psychotherapie kommen, haben bis kurz vorher, manchmal am Tag vorher noch funktioniert. Erst wenn sie im Schutzraum der Station keine Rolle mehr erfüllen müssen, dürfen sich die Dinge zeigen, die schon die ganze Zeit gedrückt und belastet haben.

Der...

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