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Wie Kinder denken lernen

Die kognitive Entwicklung vom 1. bis zum 12. Lebensjahr

AutorManfred Spitzer, Norbert Herschkowitz
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783961213221
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Vom ersten Wort bis hin zu einer regelrechten Sprachexplosion vergehen meist nur wenige Monate. Aber was passiert im Gehirn eines Kindes, das gerade die Welt entdeckt? Und wie unterscheidet sich ein 10-Jähriger geistig von einem 6-Jährigen? Der Bestsellerautor und bekannte Psychiater Manfred Spitzer erklärt in dieser spannenden Zusammenfassung, die bereits zuvor als Hörbuch erschien, gemeinsam mit dem Kinderarzt Norbert Herschkowitz verständlich und unterhaltsam, wie Kinder denken lernen. Vom 1. bis 12. Lebensjahr gehen sie Schritt für Schritt die Veränderungen des Gehirns durch und zeigen dabei zudem, wie Eltern ihre Kinder bei der geistigen Entwicklung unterstützen und fördern können.

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, geboren 1958, leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter befinden sich auch die Bestseller Lernen, Vorsicht Bildschirm! und Digitale Demenz. Für fast zehn Jahre moderierte er die wöchentliche Sendereihe Geist & Gehirn auf Bayern Alpha. Manfred Spitzer ist einer der bedeutendsten Gehirnforscher Deutschlands. Er versteht es wie niemand sonst, wissenschaftliche Erkenntnisse anschaulich und dennoch fundiert zu vermitteln. Norbert Herschkowitz ist Kinderarzt, Hirnforscher und renommierter Buchautor. Er leitete 25 Jahre lang die Abteilung für Entwicklung und Entwicklungsstörungen an der Universitäts-Kinderklinik in Bern. Vorstandsmitglied der Schweizer Hirnliga.

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Leseprobe

»HALLO, ONKEL PAPA« –
WIE ZWEIJÄHRIGE
LERNEN


BESONDERE MENSCHEN: ZWEIJÄHRIGE


Zweijährige sind ganz besondere Menschen, sie sind wie Schwämme im Hinblick auf das, was in ihrer Umgebung vorliegt. Sie saugen alles auf, sie nehmen alles mit und vor allem unglaublich schnell.

Meine Tochter zum Beispiel hatte sich irgendwann einmal daran gewöhnt, dass ich nicht so oft zu Hause war. Im Nachhinein denke ich, dass ich es nicht immer richtig gemacht, und irgendwann einmal kam sie zu mir und sagte: »Hallo, Onkel Papa.« Das war ihr so herausgerutscht, das hatte sie nicht bewusst gemacht, aber es war irgendwie klar, dass es der Onkel ist, wenn ab und zu mal ein Mann in der Familie auftaucht. Und beiden, meiner Frau und mir, hat das damals sehr betroffen gemacht. Wir haben uns angeschaut, als unsere Älteste »Onkel Papa« zu mir sagte. Wir haben uns überlegt, was hier falsch gelaufen sein könnte. War überhaupt etwas falsch gelaufen? Jedenfalls gab ich mir Mühe und achtete darauf, dass ich mit meiner Tochter wieder häufiger Kontakt hatte. Trotz vielerlei Aufgaben sollte sich meine Tochter ernst genommen fühlen.

Was kann man am »Hallo, Onkel Papa« erkennen? Dass kleine Kinder das, was sie erleben, sofort aufnehmen, umsetzen, verallgemeinern und in neue Dinge verwandeln. Sagte jemand in unserer Familie »übermorgen«, sprach ein anderes meiner Kinder von »übergestern«, wobei es »vorgestern« meinte. Aber »vorgestern« hatte es irgendwie noch nicht gehört. Klar, der Tag nach morgen ist »übermorgen«, so ist der Tag vor gestern selbstverständlich »übergestern«.

Solche Dinge passieren andauernd, wenn man darauf achtet: Kleine Gehirne nehmen Informationen auf, aber nicht nur passiv, sondern sie setzen sie in allgemeine Regeln um. Diese Regeln werden benutzt, um sofort wieder ein Verhalten an den Tag zu legen und sich in der Welt neu zurechtzufinden. Dieses Reiben in der Welt und mit der Welt, das machen Zweijährige dauernd. Sie sind ja deswegen auch so »schrecklich«. Die Amerikaner sprechen von den terrible twos, von den furchtbaren Zweijährigen, die einem so unglaublich auf die Nerven gehen können, dass man sie an die Wand klatschen möchte.

Woran liegt das nun? Weil sie alles wissen wollen, alles lernen wollen und nicht abwarten, bis irgendetwas passiert. Nein, sie provozieren diese Situationen, sie reizen alles aus und reizen auch die Eltern so lange, bis das geschieht, was sie vielleicht auch wollen, nämlich, dass sie wieder mal Grenzen gesetzt bekommen. Denn natürlich brauchen die Zweijährigen ihre Grenzen, denn sie wolle ja herausfinden, wie weit sie gehen können, was möglich ist, was nicht mehr möglich ist. Sie wollen ausprobieren: Wo ist hier eine feste Grenze, wo eine Regel, an die ich mich auch halten will und halten kann. Denn natürlich lernen kleine Kinder Regeln, und es ist sehr schön, wenn sie das in dem Alter tun. Wenn wir ihnen alles erlauben, wird ihnen später einmal ein anderer, vielleicht ein Gleichaltriger, vielleicht aber auch ein Lehrer, noch schlimmer, ein Arbeitgeber sagen, was man tun soll und was man nicht tun soll. Wenn das dem Zweijährigen die Eltern sagen oder die Großmutter oder wer auch immer, dann ist das viel leichter gelernt, als wenn es viel später irgendein anderer tut.

BIOLOGISCHE BEREITSCHAFT
UND ERFAHRUNGEN


Das zweite Lebensjahr eines Kindes ist für Eltern und für Betreuende eine große, aber auch eine großartige Herausforderung. Schauen wir an einem Beispiel, wie Kinder in diesem Alter lernen. Ein sehr geniales Experiment wurde folgendermaßen durchgeführt: Das Kind sitzt bequem auf dem Schoß seiner Mutter an einem Tisch, vis-à-vis vor ihm die Psychologin. Auf dem Tisch steht eine interessante Figur. Wenn jetzt die Psychologin diese Figur anschaut, wird auch das Kind diese Figur anschauen. Schließt aber die Psychologin ihre Augen, wird das Kind die Figur nicht mehr anschauen. Offenbar weiß es in irgendeiner Weise, dass die Psychologin es nicht mehr sehen kann.

Jetzt wurde Folgendes gemacht: Die Psychologin bedeckt sich die Augen mit einer schwarzen Augenbinde. Das Kind wird weiterhin auf die Figur schauen, denn es weiß offenbar nicht, dass die Psychologin die Figur nicht mehr sehen kann. Hält man danach diese Augenbinde dem Kind vor seine Augen, so dass es also eine kurze Zeit nichts sieht, und legt dann der Psychologin die Augenbinde wieder an, wird das Kind die Figur nicht mehr anschauen. Das Prinzip dahinter: Als das Kind mit der Augenbinde seine eigenen Erfahrungen machte, hatte es gelernt, dass mit ihr auch ein anderer Mensch nicht sehen kann. Das Prinzip ist also ein wichtiger Teil des Lernens, das Prinzip sind die eigenen Erfahrungen, die gemacht werden.

Dieses Verständnis mithilfe eigener Erfahrungen hat ein Kind im ersten Lebensjahr noch nicht, aber mit Beginn des zweiten Lebensjahrs beginnt sich das zu entwickeln, ungefähr zwischen dem zwölften und fünfzehnten Monat. Eine zweite wichtige Entwicklung, auch so zwischen diesen Monaten, ist die zunehmende Fähigkeit, zu gehen, sich zu bewegen und seine Hände zu gebrauchen. Das öffnet natürlich weitere Perspektiven, die Welt zu erleben, und schon wird begonnen, die Welt zu bearbeiten und zu erforschen.

Schneller und immer schneller werdende Impulse


Diese Entwicklung geht weiter, denn es passieren in dieser Phase mehrere verschiedene Dinge im Gehirn, in den Arealen, die diese Bewegungen kontrollieren und ausführen. Es findet ein Auswachsen der Nervenbahnen statt, die vom Gehirn bis zu den Muskeln in den Händen und Beinen führen. Diese Nervenbahnen werden jetzt vor allen Dingen verstärkt, indem eine Isolierschicht um die Nerven gebildet wird. Diese Isolierschicht nennen wir Myelin. Und diese Myelinisierung der Nervenbahnen erlaubt eine enorme Zunahme der Leitgeschwindigkeit in den Nerven. Die elektrischen Impulse können bis um das Hundertfache schneller werden, auch präziser, so dass quasi »Kurzschlüsse« verhindert werden.

Das Prinzip ist das gleiche wie bei einer elektrischen Leitung, die auch eine Isolierschicht hat, damit die Funktion wirklich ausgeführt werden kann. Dazu kommt jetzt aber noch etwas Weiteres: Ein Kind möchte eine Bewegung durchführen, und jetzt ist es das Kleinhirn, auch Cerebellum genannt, das die Funktion übernimmt, die geplante Bewegung zu kontrollieren. Entspricht sie im Nachhinein auch der ausgeführten Bewegung? Das Cerebellum kontrolliert also die Bewegung an und für sich, aber ebenso die Durchführung der Bewegung und die Richtigkeit dieser.

Das Cerebellum wird im Gehirn zugeschaltet, und das erlaubt dann ein konstantes Lernen der Bewegung, ein Korrigieren und Verbessern. Letztlich führen alle diese Aktivitäten dazu, dass die Nervenverbindungen stärker werden, mehr Kontakte zwischen den Nervenzellen entstehen, mehr Kontakte zwischen Gehirn und Muskeln. Diese äußerst aktive Periode, in dem das Kind versucht und versucht und versucht, geht einher mit einer großen Veränderung der Gehirnareale. Das ist auch der Grund, warum im Allgemeinen Kinder vor dem Ende des ersten Lebensjahrs nicht gehen können. Es braucht eben diese Myelinisierung. Es braucht die Arbeit des Cerebellums, es braucht die große Zahl der Erfahrungen, bis dann Anfang des zweiten Lebensjahrs das Gehen möglich wird.

Dass man es nicht erzwingen kann, dass ein Kind früher gehen kann, obwohl man wirklich alles versucht hat, zeigt ein schönes Beispiel: Jägerstämme in Afrika haben ein besonderes Interesse, dass ihr männlicher Nachwuchs so rasch wie möglich frei gehen und frei rennen kann. Man hat die Jungen ab dem fünften Lebensmonat praktisch dazu gezwungen, zu gehen und zu rennen, und es klappte nicht. Es war nicht möglich, bei allem Wollen, bei aller Motivation, bei allem Zwang. Es braucht dazu die biologischen Grundlagen, damit eine Bewegung, damit Bewegungen wirklich durchgeführt werden. Wir nennen das die biologische Bereitschaft. Danach sind aber auch das Üben, die Aktivität und die Erfahrung notwendig.

DURCH ÜBUNG ZUM AUTOMATISCHEN
LERNEN


Was passiert da eigentlich im Gehirn, wenn trainiert wird, wenn Erfahrungen gemacht werden? Nun, aus der Sicht der Gehirnforschung ist die wichtigste Erkenntnis der letzten zwanzig Jahre die, dass unser Gehirn sich dauernd ändert. Früher dachte man, das Gehirn sei ziemlich langweilig, mit dem komme man auf die Welt, dann sterben Nervenzellen ab, aber ansonsten passiert da nicht viel. Diese Ansicht war falsch. Heute wissen wir, dass dauernd Nervenzellen nachwachsen. Und wir wissen vor allem, dass die vorhandenen Nervenzellen sich dauernd ändern. Zwischen den Nervenzellen, so ist inzwischen bekannt, existieren Verbindungen, über die elektrische Impulse auf chemischem Wege übertragen werden, es sind die schon erwähnten Synapsen.

Die Anzahl der Synapsen ist riesig, man geht von unzähligen Milliarden aus. Auf ein paar Milliarden weniger oder mehr kommt es dann auch nicht mehr an, es sind jedenfalls unglaublich viele Synapsen im Gehirn, von einer...

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