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E-Book

Wie wir werden, wer wir sind

Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz

AutorJoachim Bauer
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641223724
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das neue große Buch des Bestsellerautors: Die Bedeutung des Selbst für Erziehung, Partnerschaft und Gesellschaft
Jeder Mensch hat die Gewissheit: Ich bin. Das in uns vorhandene Wissen, dass wir sind und wer wir sind, nennt die moderne Hirnforschung das Selbst. Wo es im Gehirn seinen Sitz hat, wurde erst vor Kurzem entdeckt. Menschliche Säuglinge kommen ohne ein Selbst zur Welt. Wie also kommt das Selbst ins Kind? Der renommierte Neurowissenschaftler, Arzt, Psychotherapeut und Bestsellerautor Professor Joachim Bauer beschreibt hier auf allgemein verständliche Weise nicht nur, wie unser Selbst entsteht, sondern auch, welchen Gefahren es im Laufe des Lebens ausgesetzt ist und wie wir es bewahren und stärken können.

Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut. Nach erfolgreichen Jahren an der Universität Freiburg lehrt und arbeitet er heute in Berlin. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, u. a. »Warum ich fühle, was du fühlst«. Zuletzt erschienen bei Blessing/Heyne der SPIEGEL-Bestseller »Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens« (2015), »Wie wir werden, wer wir sind - Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz« (2019) und »Fühlen, was die Welt fühlt« (2020).

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Leseprobe

2   AUSBAU DES SELBST-SYSTEMS UND AUTONOMIEERWERB

Abhängig zu sein, ist für den Menschen kränkend und wird bekanntlich, so gut es geht, verleugnet. Diese Kränkung macht verständlich, warum vielen der radikale Gegenentwurf völliger Unabhängigkeit und das damit verbundene Versprechen grenzenloser Freiheit verlockend erscheint. Der geheime Wunsch, der Schwerkraft der Inter-Personalität zu entkommen, sich über Andere erheben zu können und dadurch eine gewisse Großartigkeit zu erreichen, erinnert an Ikarus, der die Warnung seines Vaters missachtete, beim Fliegen mit den aus Wachs zusammengeklebten Federn der Sonne nicht zu nahe zu kommen. Dass Menschen autonom sein wollen, ist völlig legitim. Doch sosehr wir uns auch abstrampeln: Der Versuch, das in uns verankerte Du und die vielen äußeren und interpersonellen Abhängigkeiten loszuwerden, ist zum Scheitern verurteilt. Das zu akzeptieren, ist ein seelischer Reifungsprozess, der einige Jahre Zeit braucht, manchen Menschen gelingt er nie. Das sich in jedem Menschen abspielende lebenslange Drama zwischen Abhängigkeit und dem Wunsch nach Autonomie nimmt im zweiten Lebensjahr seinen Anfang, es wird in der Pubertät – auf einer sozusagen höheren, anspruchsvolleren Ebene – ein zweites Mal durchlebt und begleitet uns durchs ganze Leben. Oft erfährt es, wenn sich zum Lebensende Schwächen einstellen, im Alter nochmals eine letzte Zuspitzung.

Sobald er der Mutterbrust nicht mehr bedarf und ein paar Meter davonkrabbeln kann, beginnt der Mensch, seine Abhängigkeit als ambivalent zu erleben. Der Verbindung zum Du, der das menschliche Selbst seine Entstehung am Beginn des Lebens verdankt, folgt daher eine Gegenbewegung. Nicht lange, nachdem der Säugling seinen ersten Geburtstag hinter sich gebracht hat, beginnt ein Ringen um Autonomie, welches den Menschen das ganze Leben begleiten wird. Bindung und Autonomie erscheinen zunächst als widersprüchlich, doch tatsächlich bedingen sie sich. Zwischen einer engen, für das Kind verlässlichen frühen Bindung an seine Beziehungsperson(en) und seiner Fähigkeit, Autonomie zu wagen und zu entwickeln, besteht ein Ping-Pong-Verhältnis: Nur verlässlich gebundene Kinder, die in ihren Eltern, Betreuerinnen und Betreuern einen »sicheren Hafen« haben, wagen sich von diesen ein Stück weit weg »hinaus aufs Meer« und entdecken ihre Umgebung. Unsicher gebundene Kinder sind ängstlich, verhalten sich klammernd und tun sich mit zeitweisen Trennungen besonders schwer. Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge erfolgte durch einige Wissenschaftler, welche die sogenannte Bindungsforschung begründeten. Dass die sichere, das heißt die für das Kind verlässliche Bindung zu seinen Eltern nicht etwa ein Widerspruch zur Entwicklung von Autonomie, sondern die Voraussetzung dafür ist, dass die Jungen sich ablösen können, zeigten bereits die Experimente des Affenforschers Harry Harlow. Affenjunge, die keine beschützende Mutter an ihrer Seite hatten, verhielten sich ängstlich und klammernd. Die überragende Bedeutung einer sicheren Bindung des Kindes zu einer oder zu mehreren Bezugspersonen machten dann unter anderen die britischen Wissenschaftler John Bowlby und Mary Ainsworth deutlich. Bedeutende Bindungsforscher in Deutschland waren beziehungsweise sind Karin und Klaus Grossmann sowie Karl-Heinz Brisch. Zwischen einer vom Kind als sicher erlebten frühen Bindung und seiner Fähigkeit und seinem Mut, Autonomie zu entwickeln, besteht also ein dialektisches Verhältnis. Ein solcher dialektischer Zusammenhang liegt übrigens auch der dem Menschen eigenen, ungeheuren Kreativität zugrunde: Der Mensch verdankt sie dem Zwei-Perspektiven-Selbst, dessen Fundamente in den ersten achtzehn Lebensmonaten gelegt werden. Kreativ sein kann nur, wer ein Problem oder ein Objekt aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten vermag. Die Fähigkeit des Menschen, die Welt immer auch durch die Augen der anderen zu sehen, ist einer der Gründe für seine kreativen Potenziale.

Im subjektiven Erleben des Menschen besteht zwischen der interpersonellen Abhängigkeit und dem Wunsch nach Autonomie – ungeachtet ihrer Wechselseitigkeit – durchaus ein Gegensatz, ein Konflikt. Kinder gehen, wenn sie im zweiten Lebensjahr beginnen, um Autonomie zu kämpfen, gerne aufs Ganze, schießen über das Ziel hinaus und bringen sich dabei, wenn wir sie nicht schützen, gelegentlich auch in erhebliche Gefahr. Viele Erwachsene bleiben in ihrem Inneren oft Kinder und finden keine gute Balance zwischen Abhängigkeit und Autonomie, sondern pochen wie Kinder auf ihre Großartigkeit. Dies passiert paradoxerweise gerade dann, wenn die kindliche Autonomieentwicklung erstickt wurde, aber auch wenn ihr keine Grenzen gesetzt wurden. Letztlich nicht einlösbare Versprechen, wie autonom und großartig wir sein könnten, wenn wir etwas Bestimmtes tun, leisten oder kaufen, üben gerade dann, wenn die kindliche Autonomieentwicklung gestört war, auf den Menschen später eine magische Anziehungskraft aus. Dort, wo wir die zwischenmenschliche Abhängigkeit leugnen und Größenphantasien nachjagen, kehrt sie durch die Hintertür zurück. Dass viele Menschen, wie immer wieder zu beobachten ist, psychisch gestörten Führungsfiguren folgen, die ihnen versprechen, Teil von etwas Großem zu werden, hat diverse Gründe. Einer davon ist, dass viele sich nach einem Befreiungsschlag sehnen, der sie von den komplexen zwischenmenschlichen Abhängigkeiten erlöst, in denen wir alle stehen.

Dass wir – auch jenseits der Säuglingszeit – in so unendlich vielen Dingen in einer derart fundamentalen Weise voneinander abhängig sind und es bis ans Lebensende bleiben, geht uns Menschen derart gegen den Strich, dass wir zeitlebens unsere ganze Energie aufbringen, diese Tatsache vor uns und anderen vergessen zu machen. Viele Dinge, die uns – bei ehrlicher Betrachtung – widerfahren sind oder die wir Anderen verdanken, werden nachträglich gerne in selbst vollbrachte Leistungen umgedeutet. Dieses Bemühen verrät auch die Alltagssprache. Obwohl wir eigentlich in den Kindergarten und in die Schule geschickt wurden (wogegen nichts einzuwenden ist!), sagen wir, dass wir diese Stätten besucht haben oder dort hingegangen seien – auch dann, wenn das Kind oder der Jugendliche täglich mit dem Wagen dorthinkutschiert wurde. Dass wir uns bei Ausbildungen und Abschlüssen auf uns gewährten Unterhalt, auf die Hilfestellungen vieler Anderer oder auf die gnädige Nachsicht von Prüfern stützen konnten, lassen wir in der Regel weg, wenn wir unsere biografischen Errungenschaften darstellen. Mein geschätzter Kollege Martin Teising, langjähriger Präsident der Berliner International Psychoanalytic University, wies mich in diesem Zusammenhang kürzlich darauf hin, dass wir Menschen davon sprechen, dass »wir sterben«. Genau betrachtet ist auch das Unfug, denn gewöhnlich werden wir gestorben – der Tod widerfährt uns gemäß einem der vielen Gesetze der Natur. Doch selbst dies erleben wir offenbar als nur schwer hinnehmbar, weshalb wir sogar das Sterben für uns reklamieren. Für das selbstbestimmte Sterben plädieren wir allerdings meist dann, wenn wir uns noch in halbwegs sicherem Abstand zum Tode wähnen. Mehrfach habe ich Menschen begleitet, die, als sie noch etwas jünger waren, heroische Verfügungen abgegeben hatten, im Angesicht des nahen Todes das nackte Leben aber – verständlicherweise – plötzlich wieder lieb gewannen.

Die zwiespältigen Gefühle, die Erwachsene mit der zwischenmenschlichen Abhängigkeit erleben, können etwas von dem spürbar machen und uns vor Augen führen, was das Kleinkind erlebt, wenn es, im Verlauf des zweiten Lebensjahres, dem Säuglingsalter langsam entwächst. Den Kindern geht es in dieser Phase ganz ähnlich wie vielen Erwachsenen. Die Koppelung des Ichs des Säuglings an das Du der Anderen ist ein Bezugsrahmen, dem das Kind etwas Eigenes entgegenstellen will. Das Kind beginnt jetzt, seine Spielräume auszutesten, den Vorgaben der Erwachsenen seinen eigenen Willen entgegenzusetzen und Nein zu sagen. Neurobiologisch wird dieser Prozess begleitet von der Herausbildung von Netzwerken, die ein vom Du getrenntes Ich repräsentieren. Ihren Sitz haben diese Netzwerke unter anderem in der Übergangsregion zwischen Scheitel- und Schläfenlappen, der sogenannten Temporo-Parietal Junction (abgekürzt TPJ). Unterstützung erhält der Wunsch nach Autonomie durch die im Verlauf des zweiten Lebensjahres herangereiften kindlichen Kompetenzen. Die Sinne sind jetzt geschärft. Das Kind ist über das Existieren einer Innen- und Außenwelt orientiert. Es erlebt die gewaltigen Potenziale seiner sich entwickelnden Motorik. Die Fähigkeit, auf eigenen Beinen stehen und laufen zu können, verstärkt dies alles zu einem mächtig aufkeimenden Gefühl, selbstwirksam zu sein. Da Kinder zwischen zwei und vier Jahren ihre neuen Spielräume austesten wollen, in diesem Alter aber viele Gefahren noch nicht erkennen und ihre Möglichkeiten überschätzen, müssen ihnen Grenzen gesetzt werden. Dies zu tun, aber maßvoll, empathisch und ohne die lustvolle Entdeckungsfreude des Kindes zu beeinträchtigen, ist eine pädagogische Kunst – ein weiterer Grund, warum in Kindertagesstätten arbeitende Pädagoginnen und Pädagogen eine qualifizierte Ausbildung brauchen und ihre Arbeit im Rahmen eines hinreichenden Personalschlüssels verrichten können sollten. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Alter das Spielen. Hier kann das Kind erproben, autonom und kreativ zu sein. Dafür brauchen Kinder, drinnen wie draußen, geschützte Erkundungs- und Handlungsräume.

Besonders schön zeigt sich das Oszillieren zwischen – einerseits – einem...

Blick ins Buch

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