5.1 Übergeordnete Beurteilung des Mobilitätsszenarios – Mobilität, Stadtentwicklung, Projektentwicklung
In der allgemeinen Beurteilung des Mobilitätsszenarios eines Kfz-freien Innenstadtbereichs konnten anhand der Experteninterviews der drei Bereiche Mobilität, Stadtentwicklung und Projektentwicklung von Immobilien zahlreiche vergleichbare Aspekte identifiziert werden. Alle Experten waren übereinstimmend der Meinung, dass die beschriebene Innenstadtsituation eine große Herausforderung darstellt, die nur in einem mittel- bis langfristigen Zeitraum realisierbar wäre.[116] Grundsätzlich könnte eine Entspannung der aktuellen Verkehrssituation in den Innenstädten erreicht werden. Auch eine Verbesserung der Lärmsituation und der Luftqualität wird von allen Experten als positive Auswirkung beschrieben. Gerade die Lärmbelastung würde durch die Entlastung des innerstädtischen Verkehrs, besonders des MIV, signifikant reduziert und freiwerdende Flächen wie Infrastruktur könnten in neue Frei- und Freizeitflächen umgewandelt werden.[117] Darüber hinaus stimmen die Experten darin überein, dass eine deutliche Steigerung der Lebensqualität in den Innenstädten in Folge der Umsetzung erreicht werden könnte.[118]
Allgemein wird eine solche Lösung als ökologisch sinnvoll betrachtet. Die Befragten erwarten eine deutliche Belebung der innerstädtischen Bereiche und eine Ausweitung der Flächen für den Fuß- und Radverkehr, dem sogenannten “Langsam Verkehr”.[119]
Eine kurzfristige Realisierung wird aber aus unterschiedlichen Gründen als nicht möglich beurteilt.[120] Aktuell führen Fahrverbote in Innenstädten zu zahlreichen Prozessen an den Gerichten. Diese Prozesse sind langwierig. Bei einem deutlich massiveren Eingriff in die Mobilitätssituation in den Innenstädten aufgrund des Szenarios, wäre mit einer weit größeren Anzahl an juristischen Verfahren zu rechnen.[121]
Wirtschafts-, Güter- und Pendlerverkehr in der Innenstadt würden einer schwierigen Situation gegenüberstehen. Lieferketten müssten grundsätzlich neu organisiert werden. Pendler wären deutlich benachteiligt, wenn keine adäquaten Ersatzwege oder alternativen Mobilitätsformen zur Verfügung ständen. Auch Anwohner müssen auf Mobilitätsangebote wie z.B. Möbeltransporte, Alten- und Behindertentransporte zurückgreifen können. Dienste wie Notdienste (Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen) müssen sichergestellt und Müllfahrzeuge bereitgestellt werden. Insgesamt sehen hier die Befragten als nächsten Schritt zu einem solchen Szenario die Weiterentwicklung der aktuellen Mobilitätsalternativen wie Carsharing, BikeSharing und Sammeltaxis.[122]
Kritisch für die Realisierung wird übereinstimmend die aktuelle Situation und die Entwicklung des ÖPNV Angebots gesehen. Nur mit einem deutlich verbesserten Angebot im Nahverkehr, wie beispielsweise dem Ausbau von bestehenden Strecken und der Erhöhung der Taktung, könnte eine Grundlage für die Anforderungen an die gesteigerte Komplexität der innerstädtischen Mobilität geschaffen werden.[123] Diese Veränderungsprozesse erfordern aber einen langfristigen Zeithorizont. Zusätzlich würden die notwendigen Investitionen zu einer Belastung der öffentlichen Kassen und zu einem Kostenanstieg im ÖPNV führen. Kurzfristig würde es sogar zu einer massiven Überlastung des ÖPNV und der bestehenden Logistikinfrastruktur führen.[124]
Neben den steigenden Kosten der veränderten Mobilität wären in einem solchen Szenario auch die Kosten der Immobilienprojekte betroffen. Durch zusätzliche Auflagen durch den neuen §11 der Baunutzungsverordnung[125] für die Projekte in den Innenstädten würden die Miet- bzw. Kaufpreise weiter deutlich steigen. Dies hätte eine weitere Verschiebung der Innenstadtstruktur hin zu zahlungskräftigen Bevölkerungsschichten und großen Konzernen zur Folge. Besonders an Orten, die durch Fuß- und Radverbindungen besser erreichbar sind, würde eine Konzentration entstehen.[126]
Alle Beteiligten wären hohen regulativen Rahmenbedingungen ausgesetzt. Sollte ein solches Szenario individuell durch einzelne Städte umsetzbar sein, könnte dies zu einem Standortnachteil für Unternehmen und Gewerbe führen, der zu einer Abwanderung in andere nahegelegene Städte führt.[127]
Zusammenfassend kann man aber feststellen, dass alle Beteiligten ein solches Szenario durchweg als wünschenswert sehen. Viele Befragte rechnen mit einer weiteren Abwanderung von Bewohnern aus den Innenstädten aufgrund der aktuellen Lebenssituation z.B. steigende Mietpreise. Nur durch eine restriktive Vorgehensweise besteht die Chance, schneller Veränderungen zu erzielen und damit auch den Innovationsdruck auf Unternehmen zu erhöhen. Aus Kostengründen und um eine Überforderung zu vermeiden, sehen Alle Experten eine partielle Umsetzung in kleineren Bereichen bzw. Projekten als geeignetes Vorgehen mit einer hohen Erfolgschance.[128]
Die bestehende Situation im öffentlichen Nahverkehr müsste durch komfortablere Konzepte wie z.B. vereinfachtes Fahren und Bezahlen durch direkte Abbuchung von Tickets über komplette Strecken (Verkehrsmittelübergreifend) ermöglicht werden. In diesem Zusammenhang sollte die Infrastruktur des ÖPNV mit innerstädtischen Mobilitätsangeboten wie Bike Sharing (DB, Byke, u.a.) vernetzt werden. Als geeignetes Beispiel für einen Kfz-freien Innenstadtbereich wurde z.B. Freiburg genannt (Umsetzung des Konzepts: Stadt der kurzen Wege).[129]
Der Mobilitätsexperte Herr Löhn (Carle - Intelligent Mobility) schätzt den hohen Komfortbedarf der Menschen z.B. für Senioren oder Gehbehinderte für das Szenario als Problem ein.[130] Für Herrn Carnap (Rhein-Main-Verkehrsbund Servicegesellschaft) steht das Kraftfahrzeug aktuell noch zu sehr im Mittelpunkt. Die Flächennutzung von Verkehrsflächen, Parkraumflächen, Bürgersteigbereichen und Stellplätzen sollte überdacht und sinnvoller genutzt werden.[131] Herr Porzucek (ESWE) betont dagegen das wirtschaftliche Potential dieses Szenarios und spricht davon, dass neue Ideen auch neue Arbeitsplätze schaffen.[132]
Aus Sicht der Stadtentwicklung existieren bereits heute für innerstädtisches Wohnen zahlreiche innerstädtische Mobilitätsalternativen.[133] Im Gegensatz dazu wäre, aufgrund fehlender Kapazitäten beim MIV und ÖPNV, für die gewerbliche Nutzung (Büro/ Gewerbe/ Einzelhandel) ein Angebot solcher Mobilitätsalternativen aus heutiger Sicht schwierig. Zusätzlich erhöht sich der Druck auf die Städte auch durch die Zunahme überregionaler Mobilität.[134] Der bestehende Parkraummangel und die Staubelastung werden weiter zunehmen. Insgesamt sehen die Experten keine weitere Kompensationsmöglichkeit für das zunehmende Verkehrsaufkommen in den Innenstädten. Eine weitgehende Sperrung der Innenstädte für Kfz-Verkehr würde diese Problematik reduzieren, aber auch zu einer Zunahme der Exklusivität in den Innerstädten durch Mobilitätsbeschränkungen führen.[135]
Alle befragten Experten aus dem Bereich Stadtentwicklung befürworten dieses Szenario und sehen eine Realisierung langfristig als nicht unrealistisch. Herr Hunscher (Leitung Stadtplanungsamt, Frankfurt am Main) weist darauf hin, dass solche Konzepte in europäischen Metropolen bereits heute existieren (Beispiel Oslo) und im Zuge der Diskussionen um Dieselfahrverbote ein brandaktuelles Thema sind. Seiner Meinung nach besitzt Frankfurt zu wenig öffentlichen Raum für andere Qualitäten wie Fahrräder und Gastronomie. Für ihn wäre es interessant zu sehen, welche Flächen anhand des Szenarios für welche Nutzung geschaffen werden.[136] Als Vorteil sieht er die Aufwertung der weichen Standortfaktoren und die Qualitätssteigerung des Faktor Standort für Unternehmen.[137]
Herr Nowak (b22, Berater Stadt Frankfurt) betrachtet hier vor allem den zeitlichen Aspekt. Während ein Austausch der Kraftfahrzeuge in einer Zeitspanne von mindestens 15 Jahren erfolgen würde, benötigt der ÖPNV deutlich mehr...