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E-Book

Willkommen im Reich der Gegensätze

China hautnah

AutorBritta Heidemann
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl255 Seiten
ISBN9783838758473
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Wenn Britta Heidemann durch ihre Lieblingsstadt Peking schlendert, merkt sie an jeder Ecke: Chinesen ticken einfach anders. Ein Verkehrsunfall wird zur munteren Diskussionsrunde, an der sich Passanten rege beteiligen, die Wartenden an der Bushaltestelle sind allesamt in Tiefschlaf gefallen und im Park halten sich Rentner mit Tanzen und Tai-Chi fit. China hat sich in kürzester Zeit vom Agrarstaat zur Wirtschaftsmacht entwickelt. Dieser Wandel spiegelt sich auch im Alltag der Metropole Peking wieder. Britta Heidemann nimmt uns mit auf einen Rundgang durch alte Gassen, moderne Einkaufstempel und traditionelle Restaurants. Sie erklärt kulturelle Hintergründe, erläutert sozioökonomische Zusammenhänge, bricht mit manchem Vorurteil und staunt selbst immer wieder über das vielseitige Reich der Mitte.

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Leseprobe

2

Konfuzius lässt grüßen

Schunkeln mit der kölschen Kultband Höhner in Shanghai – Neun Millionen Fahrräder – Gasteltern in Peking – Die Sache mit der harmonischen Gesellschaft – Familienbande – Der dynastische Zyklus

Gähnend stehe ich vor der Aufzugstür im fünfundzwanzigsten Stock eines gerade eröffneten Luxushotels im Pekinger Central Business District und lausche der Endlosschleife klassischer chinesischer Musik, die leise aus dem Lautsprecher ertönt. Die gemäßigte Lautstärke ist nach dem Flughafentrubel heute Morgen sehr angenehm. Zugleich spüre ich, wie ich mit dem Jetlag kämpfe. Ich hatte mich zwar vorhin, direkt nach meiner Ankunft im Hotel, kurz schlafen gelegt – doch der lange Flug sowie die sechs Stunden Zeitverschiebung haben ihre Spuren hinterlassen.

»Ding!« Die Aufzugtüren öffnen sich, und ich trete zu einem chinesischen Hotelgast in den Fahrstuhl. Dieser fängt sofort an, mehrmals auf die »Tür-Schließen«-Taste zu drücken, die wohl außer in China nirgends auf der Welt so intensiv genutzt wird. Das ist auch daran zu erkennen, dass in chinesischen Fahrstühlen dieser Knopf häufig sehr stark, bis hin zur Unleserlichkeit abgenutzt ist. Dahingegen sieht die »Tür-Öffnen«-Taste auch nach Jahren noch wie neu aus.

Ich lächle meinem Gegenüber im vermeintlich stillen Einverständnis darüber zu, dass das Drücken der Schließen-Taste unsere Fahrt auch nicht signifikant beschleunigen wird. Eigentlich müsste ich es besser wissen: Dinge, die uns Europäer manchmal zum Schmunzeln bringen, sind für Chinesen normal und selbstverständlich. So lächelt mein Mitfahrer zwar höflich zurück, aber wahrscheinlich ohne meinen Hintergedanken zu teilen. Einer Eingebung folgend schweift mein Blick noch einmal über die Etagenanzeigen des Fahrstuhls – und ich werde nicht enttäuscht: Es gibt weder einen vierten noch einen vierzehnten Stock, auch der dreizehnte fehlt. Letzterer wird in Hotels häufig den ausländischen Gästen zuliebe weggelassen. Bei der Zahl Vier hingegen geht es um einen chinesischen Aberglauben. »Vier« heißt auf Chinesisch »si«, was, mit anderer Betonung ausgesprochen, wie das chinesische Wort für »sterben« klingt und damit für den Tod steht. Verständlich also, dass man hierzulande gerne auf alles verzichtet, das eine Vier enthält.

Unten angekommen, treffe ich in der großräumigen Lobby auf meinen bereits wartenden Bruder Gerrit, der, hochgewachsen, blond, mit blauen Augen und sportlich gebaut, an seinem freien Tag den Anzug gegen Jeans und T-Shirt eingetauscht hat. Herzlich umarmen wir uns, denn wir haben uns lange nicht gesehen. Gerade als wir anfangen, uns darüber zu wundern, wo der sonst so überpünktliche Oliver bleibt, kommt er verschwitzt und im Laufschritt durch die Hotelhalle auf uns zugestürmt. Oliver, noch ein wenig größer als Gerrit, sehr schlank, dunkelblond und Brillenträger, ist der Abenteuer- und Reiselustigste von uns dreien: Er hat an diesem Tag auf sein Auto verzichtet, um »mal wieder ein romantisches Buserlebnis« zu genießen, wie er uns mitteilt.

Seit Jahren leitet er das Chinageschäft eines deutschen Finanzinstituts und könnte sich inzwischen jeden Komfort erlauben. Aber als er Anfang der Neunziger zwei Auslandssemester im Rahmen seines Studiums der Angewandten Weltwirtschaftsstudien in China verbrachte, fuhr er fast nur Bus.

»Manchmal vermisse ich das richtig«, sagt er mit einem Seufzer und fährt fort: »Da gibt es unterwegs einfach so viel zu sehen.« Aber weil der Bus weder regelmäßig kommt noch einem genauen Zeitplan folgt, hat es natürlich etwas länger gedauert. »Wollen wir los?«, fragt er unternehmungslustig.

»Ja, klar«, sage ich.

Lachend und plaudernd treten wir durch die ausladenden Türen des Hotels hinaus in die schwüle Pekinger Augustluft.

Vor dem Ausgang werden wir von den dort wartenden Angestellten in gebrochenem, aber sichtlich bemühtem Englisch gefragt, ob wir ein Taxi bestellen möchten. Nein, wir möchten zu Fuß zum Park gehen, antworten wir auf Chinesisch und machen uns auf den Weg. Wir bekommen noch ein erstauntes »Oohhh, die können aber gut Chinesisch!« hinterhergeschickt, was mich zum Lächeln bringt.

Es ist schön, wieder in China zu sein und die Sprache zu sprechen. Wenn man länger eine Sprache nicht aktiv benutzt, dann rostet sie schnell ein – das gilt insbesondere für Chinesisch, das unseren in Europa gesprochenen Sprachen ja so überhaupt nicht ähnelt.

Gerrit und ich haben direkt nach unserer ersten Chinareise 1997 begonnen, Chinesisch zu lernen, und konnten es dann während unseres Studiums weiter ausbauen. Auch Oliver spricht gut Chinesisch, da er es nicht nur im Studium gelernt hat, sondern seit seinem ersten Studienjahr in China viel in diesem Land umhergereist ist und nun hier lebt.

Kennengelernt haben wir Oliver im September 2010, als in Shanghai die Weltausstellung »Expo« stattfand, in der Bar Rouge, einem Szenelokal, das an der kolonial geprägten Uferpromenade »Bund« liegt. Ich begleitete damals nicht nur Vertreter aus Wirtschaft und Politik des Landes Nordrhein-Westfalen, sondern auch Repräsentanten der deutschen Karnevals- und Musikszene. Als Chinesisch sprechende Kölnerin war ich dazu auserkoren worden, den chinesischen Besuchern der Expo unsere kölsche Kultur, die Kultband Höhner und die Roten Funken, die älteste Karnevalsgesellschaft Kölns, vorzustellen – damit der Kulturschock beim Anblick bewaffneter Generäle nicht zu groß wäre. Gerrit koordinierte und begleitete bereits damals alle meine Chinaaktivitäten und war deshalb auch mit von der Partie.

Bis jetzt frage ich mich, wie wir es mit zweihundert (wenn auch unechten) Gewehren durch die Sicherheitskontrollen aufs Expo-Gelände geschafft haben. Die Sicherheitsleute waren meiner Ansicht nach schlichtweg überfordert gewesen mit der Menge an merkwürdig rot-weiß gekleideten Männern. Nach dieser ersten, fast sprichwörtlichen Kölner »China-Offensive« war es beeindruckend zu sehen, wie es die Höhner mit Frontmann Henning Krautmacher zustande brachten, die chinesischen Zuschauer binnen weniger Minuten zu fesseln und zum Schunkeln zu bringen. Das Geheimnis lag wohl darin, dass sie im Vorfeld eines ihrer Lieder umgeschrieben hatten und dieses nun unmittelbar nach Betreten der Bühne auf Chinesisch sangen. Da ging ein großes »Aaaaah!« durch die Menge, und die Aufmerksamkeit war gesichert. Als sie dann noch das allseits bekannte »Jasmin-Lied« auf Chinesisch anstimmten, hatten sie gewonnen: Tausende Chinesen sangen begeistert eines der beliebtesten chinesischen Volkslieder mit. Musik verbindet tatsächlich!

An jenem Abend fand dann noch in besagter Bar ein weiteres Konzert der Höhner statt, zu dem die Teilnehmer der Delegation sowie chinesische und internationale Gäste eingeladen waren, darunter auch der Bremer Oliver. Er konnte sich zwar – unverständlicherweise für uns kölsche Gemüter – nicht sofort für »Viva Colonia« begeistern, aber abgesehen davon merkten wir, dass wir viel auszutauschen hatten. Im Laufe dieses Abends entwickelte sich zwischen uns ein intensives Gespräch über China. Wir sprachen über Politik und Wirtschaft, wir diskutierten über Olympia, Traditionen und persönliche Erfahrungen. Besonders Oliver hatte viel zu erzählen, da er aufgrund seiner großen Reiselust nicht nur mehr als hundertfünfzig Länder auf dem Globus kennengelernt hat, unter anderem solche Exoten wie die pazifischen Inselgruppen Papua-Neuguinea, Palau und die Salomonen, sondern auch alle zweiunddreißig Provinzen, darunter die autonomen Gebiete und die regierungsunmittelbaren Städte Chinas.

Seither treffen wir uns häufiger in dieser Dreierkonstellation, wobei sich immer wieder lebhafte Gespräche über die vielen Facetten Chinas ergeben, über die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, die ökonomischen Verflechtungen und Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, aber auch über die Mentalität von chinesischen Kellnern oder die Qualitäten hiesiger Taxifahrer.

Als wir den Hotelvorplatz passieren, überrennt mich beinahe eine vorbeieilende chinesische Passantin.

»So ist das!«, scherze ich. »Wurden wir gerade noch für unser Chinesisch bewundert, werden wir jetzt auf der Straße vollkommen übersehen.« Und tatsächlich: Insbesondere in den großen Städten Chinas ist man als Westler keine Sensation mehr. Vor allem nicht in den Augen der zahlreichen chinesischen Geschäftsleute, die täglich Umgang mit westlichen Geschäftspartnern haben. Vor ein paar Jahren noch war das ganz anders.

Von den Stadt- oder Landbewohnern angestarrt zu werden, als sei man ein Tier im Zoo, war genauso normal wie gewöhnungsbedürftig. Insbesondere bei unserer ersten Chinareise in den Süden des Landes vor über fünfzehn Jahren erschien es uns extrem: Die Passanten schauten hinter uns her, blieben stehen, zeigten auf uns; manchmal bildete sogar eine neugierige Menschenmenge einen Ring um uns, um die fremdartigen Europäer zu begutachten.

Mittlerweile kann man als westlicher Ausländer völlig inkognito durch die größeren Straßen Pekings ziehen. Vorbei sind auch die Zeiten, als man sich als »Westler« gegenseitig grüßte oder verschwörerisch zulächelte. Wer aber die vergangene Romantik des in einer anderen Welt gestrandeten Westlers aufleben lassen möchte, der muss sich lediglich ein paar Stunden ins Auto setzen, um in der ländlichen Gegend auf chinesische Bauern zu treffen, denen der Anblick einer »Langnase«, wie Chinesen westliche Ausländer auch gern nennen, nach wie vor nicht geläufig ist. Aber auch in den etwas...

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