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E-Book

Wir Angepassten

Überleben in der DDR

AutorRoland Jahn
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783492968218
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
»Wie habe ich in der DDR gelebt? Einfach ist es nicht, sich dieser Frage zu nähern. Sie birgt die Gefahr, unbequem zu werden für jeden, der ihr ernsthaft nachgeht. War ich angepasst? Habe ich widersprochen? Hätte ich anders handeln können? Mir geht es dabei um Aufklärung, nicht um Abrechnung. Ich will vor allem Mut machen zu erzählen. Weniger werten und voreilige Schlüsse ziehen als vielmehr ein offenes Gespräch führen. Denn es gibt keinen allgemein gültigen Maßstab über das ?richtige? Verhalten in einer Diktatur.« So beschreibt Roland Jahn das Anliegen seines Buches. In elf Kapiteln reflektiert er aus eigener Erinnerung das Leben in der DDR zwischen den Polen Anpassung und Widerspruch. wehtut, wir sollten Antworten suchen.

Roland Jahn, geboren 1953 im Jena, wurde 1982 nach 'staatsfeindlichen' Aktivitäten inhaftiert und verurteilt. 1983 wurde er nach seiner vorzeitigen Freilassung gegen seinen Willen von der Stasi aus der DDR geworfen. Von West-Berlin aus hielt er Kontakt zur DDR-Opposition, die ihn heimlich mit Informationen versorgte. Er berichtete für ARD und ZDF über Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in der DDR. Im Januar 2011 wurde er vom Deutschen Bundestag zum Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gewählt.

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Leseprobe

Nachdenken


Zwischen Anpassung und Widerspruch


Wir Angepassten. Um den Titel dieses Buches haben wir eine Weile gerungen. Er sollte niemanden vor den Kopf stoßen und doch provozieren. Aber es ist klar: Das Wort Anpassung ist sperrig. Es ruft Abwehr hervor. Als ich mit meinem Freund Peter Rösch für dieses Buch über unser Leben in der DDR gesprochen habe, darüber, dass wir uns doch auch in bestimmte Abläufe eingetaktet, uns also angepasst haben, da hat er mir spontan widersprochen. »Ich habe mich nicht angepasst.« Niemand will ein Anpasser sein. Und doch haben wir es alle getan. Und tun es noch. Damals und heute.

Sich den Umständen anzupassen, das gilt in Natur und Technik als klug. Es kann eine Überlebensstrategie sein. Anpassung als Prinzip, das hat der Menschheit das Überleben gesichert. Und doch empfinden wir es meist nicht als positiv, wenn sich jemand anpasst. Die »Unangepassten«, sie finden heute – gerade im Rückblick auf die DDR – schneller Zuspruch.

Als ich neulich zum Thema »Warum ich nicht zum Mitläufer wurde« sprechen sollte, habe ich gezögert. Es wäre die Erzählweise geworden, die man gern hört, die Mut machen soll. Es wäre eine klare Rollenzuweisung gewesen: Ein politisch Verfolgter erzählt von seinem Widerspruch gegen das System und den Folgen. Aber interessanter erschien es mir, auch die Momente zu reflektieren, in denen ich mich angepasst habe. Ich habe den Vortrag einfach umbenannt in »Zwischen Anpassung und Widerspruch«. Das Leben in der DDR, in einem Land mit Mauer und Stacheldraht, unter einer Ein-Parteien-Herrschaft und ohne den umfassenden Zugang zu Menschenrechten, es war komplizierter, als die gängigen Kategorien es den Menschen zugestehen. Die Schubladen Täter/Opfer/Mitläufer beschreiben nicht wirklich, wie Menschen in der DDR gelebt haben. Und so habe ich in meiner Rede darüber gesprochen, wie ich mich angepasst habe an die Vorgaben des Staates und dann zwischen Anpassung und Widerspruch meinen Weg gesucht habe.

»Anpassung« ist die Haltung, die für mich den Alltag unter den Bedingungen einer Diktatur stark geprägt hat. Genau darüber haben wir noch viel zu wenig gesprochen und es noch viel zu wenig analysiert. Es ist ein vielschichtiges Verhalten, stetig gefangen in einer Dynamik zwischen der Abwägung der Kosten oder dem Nutzen des Anpassens und der Kosten oder dem Nutzen des Widersprechens.

Diese Prozesse habe ich auch in meinem eigenen Leben in der DDR gespürt, immer wieder. Auch ich habe mich eine Zeit lang in den vorgezeichneten Bahnen des SED-Staates bewegt und stetig die Kosten und Nutzen meines Verhaltens abwägen müssen. Wenn man also über den Alltag in der DDR reflektiert, so sollte man den Aspekt der Anpassung und der Mechanismen, die an uns als Menschen gewirkt haben, viel stärker beleuchten. Niemand war nur Rebell oder nur Angepasster. Wir brauchen einen Prozess des offenen Nachdenkens über das Leben in diesem Staat DDR, in dem wir unseren Alltag gelebt haben.

Wir sind in der DDR aufgewachsen, zur Schule gegangen, haben Berufe gelernt, Familien gegründet, Geburtstage und Weihnachten gefeiert. Wir haben gelebt. Gute Erinnerungen geschaffen und schlechte. Woran erinnert man sich? In der Regel doch wohl zuerst an das eigene Leben, an das Private. Vielleicht auch daran, wie dieses Leben mit den großen politischen und kulturellen Ereignissen kollidierte und von ihnen eingerahmt wurde. Aber der Staat DDR, der von einer Partei, der SED, bestimmt wurde, hat den Menschen, die in ihm lebten, viel zugemutet. Er hat sich immer wieder in das Private der Menschen eingemischt, um jeden Widerspruch, der den Anspruch der Partei auf Allmacht gefährden konnte, im Keim zu ersticken Die SED war letztendlich an ihrem dauerhaften Machterhalt interessiert und hat dazu ein Staatsgebilde gebaut, das systematisch die Menschenrechte einschränkte oder auch verwehrte. Dazu musste sie sich jederzeit darum bemühen, das Denken der Menschen in ihrem Sinne zu kontrollieren. Und das hat zu massiver Repression und Verfolgung geführt.

Täter und Opfer. Das sind die Begriffe, um die sich die öffentliche Diskussion zur DDR hauptsächlich rankt. Die Opfer, die Menschen, die ihre Menschenrechte wahrgenommen und für ihre Selbstbestimmung gekämpft haben und die deswegen aus der Bahn geworfen, ins Gefängnis gesperrt wurden, sogar mit dem Leben bezahlten – sie haben unsere Aufmerksamkeit, unseren Respekt und unser Mitgefühl verdient. Sie haben Unrecht erlebt, sie sind an Leib und Seele beschädigt worden, ihr Leben ist durch die Unterdrückung der Menschenrechte in der DDR oft aus den Fugen geraten. Und deshalb gehört zur Aufarbeitung dieses Unrechts dazu, dass man Täter und Verantwortung benennt. Das SED-Regime hat funktioniert, weil viele Menschen verantwortlich für das Unrecht gehandelt haben. Diese Pole der DDR-Gesellschaft, sie verkörpern die Extreme, und das macht sie besonders interessant und einsichtsvoll. Sie spiegeln aber nicht das gesamte Bild wider: Die Mehrheit der Menschen, die in der DDR gelebt haben, kann sich weder mit der Definition eines Täters noch mit der eines Opfers identifizieren. Die großen Debatten über Stasiverstrickung und Diktaturanalyse fegen direkt über ihre Erinnerung hinweg. Das Wort Diktatur kommt vielen nicht unbedingt in den Sinn, wenn sie an ihr Leben in der DDR denken. Auch in der Diktatur schien die Sonne.

Das Leben in der DDR, es war ein Leben zwischen Anpassung und Widerspruch. »Die meisten lebendigen Menschen in der DDR haben nämlich immer beides zugleich: sich angepasst und widerstanden«, schreibt Wolf Biermann1 und verweigert sich der Entscheidung nach Anpassen oder Widerstehen in der DDR. »Ein ›UND‹ wäre treffender.« Der Historiker Stefan Wolle, der in der DDR groß geworden ist, fasst die Zeit zwischen seinem 17. und 40. Lebensjahr »als einen einzigen Eiertanz«2 zusammen. Eiertanz. Das Wort passt für so vieles, was ich mit der DDR verbinde. Sich durchlavieren. Das eine sagen, das andere meinen. Strategien und Taktiken entwickeln, die das Geforderte bedienen, ohne sich selbst zu verraten. Das System hat eben auch funktioniert, obwohl so viele dagegen waren.

Wie habe ich in der DDR gelebt? Einfach ist es nicht, sich dieser Frage zu nähern. Sie birgt die Gefahr, unbequem zu werden für jeden, der ihr ernsthaft nachgeht. War ich angepasst? Habe ich widersprochen? Hätte ich anders handeln können? Mir geht es dabei um Aufklärung, nicht um Abrechnung. Ich will vor allem Mut machen zu erzählen. Weniger werten und voreilige Schlüsse ziehen, als vielmehr ein offenes Gespräch führen. Denn es gibt keinen allgemeingültigen Maßstab über das »richtige« Verhalten in einer Diktatur.

Anpassen oder widersprechen, das war in der DDR in hohem Maße individuell. Der alleinstehenden Mutter mit zwei kleinen Kindern kann man z. B. keinen Vorwurf daraus machen, dass sie nicht zur Demonstration für Meinungsfreiheit ging. Die Risiken waren unkalkulierbar. Es war verständlich, das Wohl der Kinder im Auge zu behalten und sich anzupassen.

Doch es gibt auch Situationen, die weniger klar und nicht so schnell einzuschätzen sind. War es verwerflich, an den staatlichen Feiertagen die DDR-Fahne vors Haus zu hängen, weil man Ärger vermeiden wollte? Oder war es einfach taktisch klug? Und wie sind wir später dann mit unseren Entscheidungen umgegangen? Waren wir enttäuscht über uns selbst, verängstigt – oder war es uns am Ende egal, weil wir uns längst gefügt hatten in das Schicksal, in einem Land mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl leben zu müssen?

Bis heute haben wir keine ausreichende Erklärung dafür, dass die DDR so lange existieren konnte. Warum dauerte es 40 Jahre, bis sich die Menschen endlich trauten zu sagen, dass die Machthaber »des Kaisers neue Kleider« trugen? Bis sie den Mut hatten, auf die Straße zu gehen, ihre Rechte wahrzunehmen – und sie schließlich die Mauer zum Einsturz brachten? Wenn wir wirklich verstehen wollen, warum diese Diktatur 40 Jahre funktioniert hat, dann brauchen wir auch Aufklärung über das, was die Mehrheit der Bewohner der DDR erlebte und wie sie mit den Zwängen des Systems umgegangen sind: Zur Wahl gehen oder den Studienplatz riskieren? Den Kontakt zur Tante im Westen abbrechen oder den beruflichen Aufstieg gefährden? Den Unmut über die fehlende Meinungsfreiheit schlucken oder ins Visier der Stasi geraten?

In einer Diktatur sind die Konsequenzen des Handelns ungleich weitreichender als in einer Demokratie. In unterschiedlichsten Lebenslagen, in unterschiedlichen Jahrzehnten hatte jede Art von Verhalten in der DDR unkalkulierbare Folgen. Man konnte sich nie darauf verlassen, was wirklich passierte, wenn man sich dem verlangten Verhalten verweigerte.

Tatsächlich ist in vielen Fällen wenig oder gar nichts passiert. Nicht selten aber ist ein Mensch komplett aus der Bahn geworfen worden durch den Eingriff des Staates in ein Leben. Diese Eingriffe, die auch für andere sichtbar waren, hatten einen weiteren Effekt. Sie führten dazu, dass man sich selbst zurückhielt. Dass man zu wissen glaubte, wo eine Grenze erreicht war, und die Konsequenz daraus zog. Zum Schutz der eigenen Familie, der Freunde, für das eigene Wohlbefinden und auch zum Überleben.

Warum aber...

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