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E-Book

Wir können nicht allen helfen

Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit

AutorBoris Palmer
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641218461
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ein grüner Oberbürgermeister spricht Klartext
Nachdem Angela Merkel hunderttausende Flüchtlinge ins Land ließ, stellt sich nun die Frage: Wie kann es uns gelingen, die riesige Herausforderung der Integration zu meistern? Boris Palmer, Deutschlands bekanntester grüner Bürgermeister, zeigt, dass wir bei aller Hilfsbereitschaft auch offen über die Grenzen der Belastbarkeit sprechen müssen - etwa über Bildungs- und Jobchancen, über Wohnungsnot, den Umgang mit Gewalt und Abschiebung oder Fragen von Ordnung und Sicherheit. Denn nur wenn wir die Probleme offen benennen, können wir den Rechtspopulisten das Wasser abgraben.

Boris Palmer, geboren 1972, wuchs als Sohn des Obstbauern Helmut Palmer, der als 'Remstal-Rebell' bekannt wurde, in Geradstetten bei Stuttgart auf. Er studierte Geschichte und Mathematik in Tübingen und Sydney und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. 2001 wurde er Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, wo er sich als Umwelt- und Verkehrsexperte einen Namen machte. Mit 34 Jahren wurde er 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt - und 2014 mit 61,7 Prozent der Stimmen für weitere acht Jahre im Amt bestätigt. Boris Palmer hat zwei Kinder.

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Willkommenskultur und Verlustängste

Nur zwei Wochen nach der Grenzöffnung im September 2015 stellte der Soziologe Heinz Bude die These auf, Deutschland werde den gegenwärtig herrschenden »Flüchtlingsidealismus« nicht lange durchhalten können und zu einem »Flüchtlingspragmatismus« finden müssen. Bude, Professor an der Universität Kassel, sagte dies auf einer gemeinsamen Konferenz der Herrhausen-Gesellschaft und der FAZ in Berlin, an der ich als Gast teilnehmen konnte. Sein Vortrag beeindruckte mich durch seine Klarheit. Kaum eine Woche, nachdem die Selfies von Angela Merkel mit Flüchtlingen um die Welt gingen, zu einem Zeitpunkt, als die Bilder von Teddybären im Münchener Hauptbahnhof noch frisch im Gedächtnis waren, analysierte Bude messerscharf die Lage im Land.

Etwas vereinfacht lautete seine These: Die deutsche Gesellschaft ist in der Flüchtlingsfrage zweigeteilt, die Willkommenskultur werde getragen von den oberen zwei Dritteln, also überwiegend Menschen aus bürgerlichen Schichten, deren Lage gesichert sei und die keine Konkurrenz von Neuankömmlingen fürchten müssten. Das untere Drittel betrachte die mittlerweile Zehntausenden Asylbewerber aber ganz anders, nämlich als Ersatzheer von Arbeitskräften, die ihnen den Job streitig machen oder von den Arbeitgebern benutzt würden, um die Löhne zu drücken.

Mir leuchtete Budes Argument ein. Wer sich seinen Platz in der Gesellschaft erkämpft hat und überzeugt ist, ihn jeden Tag gegen den Abstieg in Hartz IV verteidigen zu müssen, sieht mögliche Konkurrenten um Jobs anders als etwa eine verbeamtete Lehrerin oder ein gebildeter Rentner. Wer seine eigene Wohnung nicht mehr halten kann oder jahrelang auf eine bezahlbare Sozialwohnung warten muss, hat gegenüber einer großen Zahl von Menschen, die schon bald auf den Wohnungsmarkt drängen, zwangsläufig andere Gefühle als etwa der Einfamilienhaus-Besitzer am Stadtrand oder der Mieter einer Penthouse-Wohnung in der Innenstadt.

Als Oberbürgermeister einer Stadt mit rund 90000 Einwohnern habe ich Einblick in die täglichen Nöte vieler Menschen. Ich weiß, dass der Kampf um günstigen Wohnraum keineswegs ein eingebildetes Problem ist. In meiner Bürgersprechstunde ist die Suche verzweifelter Menschen nach Wohnraum zum beherrschenden Thema geworden. Sie erzählen mir häufig von schweren Schicksalsschlägen, die sie nun zu Bittstellern machen. Helfen kann ich leider nur den wenigsten.

Denn die Lage hatte sich schon vor dem Flüchtlingsandrang 2015 verschlechtert, der soziale Wohnungsbau war auf ein Minimum zurückgefahren worden und die Suche nach bezahlbaren Wohnungen wurde für mehr und mehr Menschen zu einer existenziellen Frage.

Die Flüchtlingskrise verschärfte das Problem noch zusätzlich. Bereits vor der Öffnung der Balkanroute im Sommer 2015 herrschte bei den Landratsämtern, die in Baden-Württemberg für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig sind, sobald sie die Erstaufnahmestellen der Länder verlassen haben, größte Anspannung. Der Landkreis Esslingen etwa hatte schon Ende 2014 erklärt, er könne keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, weil geeignete Unterkünfte nicht zu finden seien.

Nun, im Frühherbst 2015, verschlimmerte sich die Situation innerhalb von wenigen Wochen dramatisch. Die Lieferzeiten für Wohncontainer waren auf ein halbes Jahr angewachsen. Der Wohnungsmarkt war ohnehin schon leer gefegt. Allerorten wurden nun Turnhallen mit Betten zu Notquartieren umgerüstet. So auch die Kreissporthalle in Tübingen. Der Landrat suchte händeringend nach weiteren Standorten für Containerbauten im nächsten Jahr. War es angesichts dieser Lage verwunderlich, dass diejenigen, die auf billigen Wohnraum angewiesen sind, sich fragten: Was wird denn mit mir, wenn Asylbewerber später die günstigen Wohnungen bekommen?

Für den Blick auf die Flüchtlinge, so musste ich es immer wieder erleben, spielen neben diesen materiellen Faktoren aber auch mentale Einstellungen und Statusdenken eine Rolle. Gerade bei denen, die sich ohnehin benachteiligt sehen, wachsen die Vorbehalte. Zum Beispiel unter russlanddeutschen Einwanderern der neunziger Jahre, aber auch unter den ehemaligen Gastarbeitern aus Südeuropa und Anatolien war allgemein eine Skepsis zu spüren, denn sie fühlten sich ungleich behandelt. Das Maß an öffentlicher und menschlicher Zuwendung, das jetzt den Flüchtlingen zuteilwurde, hatten sie nie erfahren. Warum sollten es die Flüchtlinge nun so viel leichter haben, obwohl sie weder die historischen Verbindungen etwa der Russlanddeutschen für sich reklamieren konnten noch die Anwerbeabkommen und den Arbeitskräftebedarf als Legitimation für ein Leben in Deutschland?

Mir ist ein Erlebnis in einer Kleinstadt im Schwarzwald in lebhafter Erinnerung: Es war früh am Abend in einem Gasthaus, ich bereitete mich dort auf einen Vortrag vor und außer mir saß noch eine Handvoll Gäste im Saal. Der Wirt erkannte mich, setzte sich zu mir und wir kamen ins Gespräch. Er erzählte, wie wenig er von den heutigen Flüchtlingen halte, wie schwierig diese zu integrieren seien, und überhaupt werde denen alles »hinten reingeblasen«. Er wisse, wovon er spreche, schließlich sei er vor zwanzig Jahren selbst als Flüchtling ins Land gekommen und habe sich ohne solche Hilfe allein hochgearbeitet. Der Mann sprach einfach aus, was er dachte. Wäre er ein Deutscher gewesen, hätte ich vermutet, hier schwadronierte ein Rechtsradikaler. Er war aber zu Kriegszeiten aus dem Kosovo geflüchtet. Seine Geschichte war für mich ein eindrückliches Beispiel, wie sehr die eigene wirtschaftliche Lage und gesellschaftliche Stellung die Haltung zur Flüchtlingspolitik bestimmt.

In den Medien war von solchen Beobachtungen und Einstellungen zum Zeitpunkt von Heinz Budes Rede nur wenig zu erfahren. In den Gesprächen auf den Fluren, in den Konferenzräumen, aber auch in den Gassen der Tübinger Altstadt begegneten sie mir hingegen häufig.

Die öffentliche Debatte wurde von jenen Menschen geprägt, die sich und anderen sagen konnten, Deutschland sei ein reiches Land und könne die Aufnahme der Flüchtlinge ohne größere Probleme bewältigen. Das war und ist für das gesamte Land gesprochen auch nicht falsch. Diejenigen aber, die von diesem Reichtum nur wenig abbekommen und deshalb die Entwicklung skeptisch beäugen, fanden mit ihren Sorgen wenig Gehör.

Vorerst wurde die veröffentlichte Meinung dominiert durch Stimmen wie jener von Sabine Rückert. Sie schrieb in einem Leitartikel der Zeit, deren Titelbild das Wort »Willkommen« prägte: »Es mag befremdlich klingen, aber für Deutschland sind die Flüchtlinge, diese vielen jungen, zuversichtlichen, nicht selten begabten und ehrgeizigen Menschen, ein Glück.«

Die Überlegung lautete vereinfacht: Deutschland ist vergreist und unser Arbeitsmarkt leer gefegt. Die fehlenden Auszubildenden im Handwerk, der Altenhilfe, den Krankenhäusern, vielleicht sogar die fehlenden Ärzte und Ingenieure werden durch die überwiegend jungen Flüchtlinge gestellt. Auch die deutsche Wirtschaft stieß in dieses Horn. Schon Anfang September 2015 betonte BDI-Präsident Ulrich Grillo, es könne »gelingen, gerade gut ausgebildete Flüchtlinge schnell in Wertschöpfungsstrukturen einzubetten«. Besonders wagemutig: »Wir sind bereit, allen Asylsuchenden mit berechtigten Chancen auf ein Bleiberecht den raschen und zeitlich gesicherten Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen zu ermöglichen.«

Neben dieses volkswirtschaftliche Argument trat bei all denen, die die Flüchtlinge uneingeschränkt willkommen hießen, eine gewisse Form der Erleichterung oder sogar von Stolz: Dass die Menschen zum allergrößten Teil gezielt nach Deutschland strebten, wurde als eine Art Kompliment gedeutet. Die Flüchtlinge, so hörte und las ich immer wieder, würden sich Deutschland als Ziel auswählen, weil unser Land so weltoffen und sympathisch sei, weil sie nach Demokratie und Teilhabe hungerten. Beide Aspekte vereinte meine Parteifreundin Katrin Göring-Eckardt auf dem Bundesparteitag im November 2015 zu einer griffigen Formel: »Diese Menschen sind ein Geschenk für Deutschland.«

Es ist ja völlig richtig: Deutschland hat einen großen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. In naher Zukunft gehen jedes Jahr einige Hunderttausend Menschen mehr in den Ruhestand, als junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt eintreten. Aber eben auf die Qualifizierung kommt es an. Das betrifft sogar jene Branchen, deren Bild teilweise noch von der Baustelle der sechziger Jahre geprägt ist. Die Zeiten, in denen nur ein Stein auf den anderen gesetzt wird, sind aber längst vorbei: Die hohen technischen Anforderungen von Erdbebensicherheit bis Energiestandard erfordern höchste Präzision auch bei scheinbar einfachen Arbeiten.

Auch für Handwerks- und Sozialberufe sind die Standards in unserem Land heutzutage sehr hoch. Für Ungelernte hingegen gibt es kaum noch Aufgaben, allenfalls in Nischen wie dem Reinigungsgewerbe. Ob die Flüchtlinge für den deutschen Arbeitsmarkt eine willkommene Unterstützung oder gar die Lösung eines Mangelproblems sind, hängt also entscheidend vom Qualifikationsniveau, mindestens aber von der Qualifizierungsfähigkeit der Menschen ab.

In der Hochzeit der Willkommenskultur wurde dieses Thema allenfalls sehr zurückhaltend behandelt. So auch von Sabine Rückert, die mit der Formulierung, die jungen Menschen seien »nicht selten begabt und ehrgeizig«, immerhin die Möglichkeit offenließ, dass die Mehrheit der Flüchtlinge weder begabt noch ehrgeizig sein könnte. Wobei sie das Gegenteil suggerierte.

Mich hat diese Euphorie schon damals erstaunt. Allein der Blick auf die Herkunftsländer der Flüchtlinge – hauptsächlich...

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