Einleitung
Liebe ohne Kinder: Zwei Beispiele
»Als Simone und Jonas meine Praxis aufsuchen, sind sie seit neun Jahren ein Paar. Sie klagen darüber, dass sie sich nur noch wenig zu sagen haben. Ihnen sei, so beschreibt es Simone, über die Jahre »die Luft ausgegangen«. Sexualität finde nicht mehr in nennenswertem Umfang statt, was Jonas besonders beklagt. Simone dagegen ärgert sich darüber, dass Jonas so einfallslos geworden sei und sich nur noch für die Arbeit interessiere. Er verbringe mehr und mehr Zeit im Büro. Simone und Jonas haben keine Kinder. »Zwischen uns ist Stillstand. Keine Bewegung mehr. Keine Ideen und Visionen mehr. Unsere Beziehung hat sich irgendwie totgelaufen.«
»Inga und Viktor kommen nach zwei Jahren unerfüllten Kinderwunsches zu mir. Sie sind nervös und angegriffen. Inzwischen überlegen sie sich ernsthaft, ob es nicht besser wäre, sich zu trennen. Beide sind noch jung. Wäre es mit einem anderen Partner vielleicht eher möglich, noch eine Familie zu gründen? Vielleicht geht es ja nur zwischen ihnen beiden nicht. Die Vorstellung, auseinanderzugehen, zerreißt aber beiden das Herz. Sie stecken in einem furchtbaren Dilemma, aus dem es augenscheinlich keinen Ausweg gibt.
Diese beiden Beispiele sind ganz typische und nicht einmal besonders drastische Beispiele für Paare, die sich Hilfe von einer Paartherapie versprechen.
Solche Dinge passieren ständig. Beziehungen verlieren an Saft und Kraft, manche driften einfach auseinander. Manchmal aber tun sie das nicht »einfach so«, sondern es hat Lebensumstände gegeben, die das Paar ausgelaugt, die Beziehung überstrapaziert haben. Im Fall von Simone und Jonas löst die Frage »Wollten Sie keine Kinder oder mussten Sie sich mit der Tatsache abfinden, dass Sie keine haben konnten?« unmittelbare Emotionen aus. Diese fast vergessene, erfolgreich verdrängte Lebensphase von vor vier Jahren bricht in der Beratung wieder auf. Hier entsteht die Möglichkeit, aus dem Scherbenhaufen, den diese anstrengende Lebensphase hinterlassen hat, verschüttete Schätze zu bergen. Ein unerfüllter Kinderwunsch kann auch die größte Liebe enorm belasten und sie im schlimmsten Fall zersetzen. Paare gestehen sich oft nicht ein, wie tief der Wunsch nach einem Kind an den eigenen Lebensentwurf und die Vorstellung von Partnerschaft geknüpft ist. »Kind oder nicht Kind« ist nicht nur eine Frage von Kinderzimmer oder nicht, sondern berührt tiefe und schmerzempfindliche Stellen in der eigenen Identität. Je nachdem, wie die Konstellation zwischen den beiden Partnern gelagert ist, können Erwartungen und Lebensträume stärker werden als die Liebe zum Mann, zur Frau. Bei Inga und Viktor steht das bereits im Raum. Sie fragen sich, was Priorität haben soll: ihre Beziehung oder das Kind, die gewünschte Familie. In ihrem Fall geht es in der Beratung um das Aufdecken unausgesprochener Pläne für das eigene oder das gemeinsame Leben und nicht zuletzt um gelernte und angenommene Glaubenssätze.
Auf unerklärliche Weise saugt der Kinderwunsch der Liebe in vielen Beziehungen die Kraft ab. Viele Paare erkennen nicht, dass es ihre Lebensmotive und Seinsvorstellungen sind, die in der Phase des unerfüllten Kinderwunsches beschädigt werden. Dass dann viele Jahre später die Beziehung unter den Spätfolgen dieser Verletzungen zugrunde gehen kann, bringen sie nicht in Zusammenhang. Sich über die eigenen Motive, Sehnsüchte und Wünsche klar zu werden, hilft bei der Verarbeitung und bei der Suche nach Lösungen. Auch die gesellschaftliche Bedeutung von Kindern und Elternschaft trägt einen Großteil zur Bewältigung eines unerfüllten Kinderwunsches bei. Paare leben nicht isoliert von Erwartungen und Projektionen der Umwelt, auch wenn unser Liebesideal immer wieder suggeriert, wie geheimnisvoll und höchstpersönlich die eigene Liebe sein soll. All das kann man sich vor Augen führen, sortieren, erklären. Dieser Vorgang hilft, sich und den Partner besser zu verstehen. Ein solches Verständnis wiederum trägt zu besserer Kommunikation bei. Und Kommunikation ist der Stoff, aus dem Liebe gemacht ist. Darüber zu sprechen hilft also immer. Nicht unbedingt beim Schwangerwerden, aber beim Bewahren der Liebe.
Kinderwunscheltern sind ganz normale Eltern
In diesem Buch geht es um Eltern mit einem Kinderwunsch. So banal das klingt, bedeutet doch das Vorhandensein eines Wunsches bereits eine Veränderung im Leben der betroffenen Paare. Diejenigen nämlich, die unverhofft Vater und Mutter wurden, haben vollkommen andere Interessenslagen, Anliegen und Bedürfnisse als diejenigen, die erst planen und dann warten. Das soll und darf so sein. Es geht beim Kinderwunsch, bei den betroffenen Paaren und in diesem Buch also um spezielle Themen besonderer Eltern. Kinderwunscheltern sind nämlich tatsächlich bereits Eltern, und zwar von dem Moment an, in dem sie Eltern werden wollen. Von dieser Arbeitshypothese wird im Buch ausgegangen – auch wenn die ersehnten Kinder noch nicht da sind oder nie kommen werden. Auch gilt diese Bezeichnung in meinen Augen für Eltern, die bereits Kinder haben und sich weitere wünschen. Auch wenn die ersten Kinder mit medizinischer Unterstützung in die Welt gefunden haben, kann der Kinderwunsch in gleicher Weise bestehen bleiben. Eine Geburt bedeutet nicht das Ende des Kinderwunsches. Es geht in diesem Buch ums Wünschen und Hoffen, Begehren und Bekommen. Ums Leiden geht es und ums Tapfersein, ums Beistehen und Durchhalten, um Einsamkeit und Solidarität. Um Körper, Herz und Seele in einer so intensiven Verbindung, wie sie selten vorher oder nachher im Leben von Paaren auftritt. Viele Kinderwunscheltern berichten von einer gewissen Vereinsamung. Sie meinen damit das Gefühl, teilweise aus freien Stücken, teilweise aber auch zwangsläufig, eine Sonderrolle in ihrem Umfeld einzunehmen. Den Begriff »Insel«, den Klienten einmal in meiner Praxis prägten, passt dazu sehr gut. Man zieht sich zurück, ist von der bekannten Welt ein Stück entfernt, und manchmal entsteht der Eindruck, dass sich diese Insel für zwei immer weiter von Freunden, Familie und Kollegen entfernt. Ich werde diesen Begriff deswegen im Buch noch häufiger verwenden.
Das Buch bietet Erklärungen und Fakten an, analysiert die Situation und die Bedeutungszusammenhänge betroffener Paare und bietet pragmatische Hilfen an. Es will ermuntern, trösten und immer wieder neue Sichtweisen und Perspektiven ermöglichen. In den Fallbeispielen aus der Beratungspraxis wird klar, wie komplex die Beziehungsgeschichten sowie die individuellen Biografien mit den Wünschen und Sehnsüchten der Beteiligten zusammenhängen. Die gleiche Diagnose wirkt auf Paar A ganz anders als auf Paar B. Niemand soll über den berühmten Kamm geschoren, niemand wegen seines Kinderwunsches und der Energie, die dafür investiert wird, in eine Schublade sortiert werden.
Sind Wünsche behandelbar?
Beim Wort »Kinderwunschbehandlung« zucken viele Betroffene zusammen. Wünsche kann man nicht behandeln, Sehnsüchte und Träume nicht therapieren. Hier greift die Medizin in höchst persönliche und individuelle Lebensthemen ein. Familiengründung ist mehr als Kinderkriegen, und Kinderkriegen ist mehr als Reproduktion. Es ist ein tiefer, inniger Wunsch, das höchst persönliche Bedürfnis nach Bestand und Sinn; nicht nur »Mann plus Frau«, sondern Selbstverwirklichung und Erfüllung. Kinderkriegen ist mehr als Biologie, es ist auch ein spirituelles und philosophisches Thema. Sobald ein Kinderwunsch auftaucht, ist da ein Kind, wenn auch vorerst ein gedachtes, erträumtes. Auf der anderen Seite müssen viele Paare mit unerfülltem Kinderwunsch die Erfahrung machen, dass gedachte oder bereits existente Kinder, in welchem Entwicklungsstadium auch immer, wieder unvermittelt verschwinden und doch niemals weg sind. Wer einen Traum hat, verändert das eigene Leben und das Leben als Paar. Träume vergehen nicht, man kann sie nicht begraben und nicht verdrängen. Wer einen Traum ins Leben ruft, behält ihn, ob er nun Wirklichkeit wird oder nicht. Das prägt und beeinflusst den Charakter einer Partnerschaft dauerhaft.
Aus meiner Beratung weiß ich, dass in vielen Partnerschaften der Wunsch nach einem Kind Ausmaße annehmen kann, die das gesamte Leben dominieren, dass Entwürdigung und ...