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Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg

AutorBjörn Kuhligk, Tom Schulz
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783446245587
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
'Es gibt Länder, wo was los ist / Es gibt Länder, wo richtig was los ist / Und es gibt: Brandenburg', besagt die inoffizielle Hymne. Gleich hinter der Grenze zu Berlin liegt sie: die legendäre Mark Brandenburg - ein unbekanntes Land. Björn Kuhligk und Tom Schulz sind, Fontane im Rucksack, auf Entdeckungstour gegangen: Ob Schloss oder Kirche, ein stillgelegtes Atomkraftwerk, der Spreewald oder ein Kürbisdinosaurier - die Autoren sehen genau hin. Sie erleben Silvester in Neuruppin, Ostern in Lübbenau, die Maibaumerrichtung in der Märkischen Schweiz, den Sommer an der Oder. Aus den Blickwinkeln eines in West-Berlin und eines in Ost-Berlin aufgewachsenen Autors entsteht Ort für Ort ein Mosaik, das uns buchstäblich Neuland entdecken lässt.

Björn Kuhligk wurde 1975 in Berlin geboren, wo er als Buchhändler arbeitet. Nach Es gibt hier keine Küstenstraßen (2001), Am Ende kommen Touristen (2002), Großes Kino (2005) und Von der Oberfläche der Erde (2009) erschien bei Hanser Berlin 2013 der Gedichtband Die Stille zwischen null und eins.

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HAVELLAND 1


  
  

FALKENREHDE


Auf zu den lachenden Dörfern!
Mitten in einem gewaltigen Regen fahren wir in den Morgenstunden von Berlin los. Die Spreekanäle rinnen schneller, bewegt durch das fallende Wasser. Zäh fließt der Verkehr auf dem Zubringer zur Stadtautobahn. Jeder größere Guss legt die Stadt lahm. Die Autos schieben sich in Zeitlupe vor wie schaumgebremste Barken in einer Lagune. Über die Heerstraße entkommen wir der Metropole und erreichen bald, nachdem wir die Vorstadt Spandau hinter uns zurückgelassen haben, das Havelland.
Der Himmel wie in Blei gegossen. Der Regen lässt nach, als wir in Falkenrehde anhalten und in einer kleinen Bäckerei Bienenstich essen und Kaffee trinken. Vor der Bäckerei hängt an die Wand montiert ein überlebensgroßes Plastik-Softeis. Der Sommer ist vor ein paar Wochen zu Ende gegangen, jetzt kleben feuchte Lindenblätter auf dem Gehweg. Falkenrehde, eines der lachenden Dörfer, haben wir bei Fontane gelesen. Wie lacht ein Dorf? Wie lachte es in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts? Wir finden es aufgeräumt. Ein Dorf, das sich an einer Bundesstraße entlangzieht. An einem Vormittag mehr Autos als Menschen auf den Straßen. Kehrt man um, erreicht man Paaren und Uetz, beides ebenso lachende Dörfer. Man hat die Wahl zwischen »Siggis Imbiss« und »Marcos Imbiss«, zwei Wallfahrtsstätten für Trucker und Brummifahrer. Beide werben mit guter deutscher Hausmannskost. »Futtern wie bei Muttern«. Wir sehen eine Frau, auf ihren Rollator gestützt, vor einer Hauswand.
Drei Personen, Mutter und Tochter, Großmutter und Enkelkind. Die Oma schiebt den Kinderwagen. Sie gehen schweigend nebeneinanderher. Wir biegen ab in Richtung Neu-Falkenrehde. Nach ein paar hundert Metern ein Betonsteinwerk. Aus Zement und feinem Kies, Sand und Wasser werden die formschönen Pflastersteine gefertigt, die hier jede Hauseinfahrt schmücken. Im Fischgrätmuster, als Waben oder in der Form eines Knochens, Bordsteine, Rasenkantensteine, Gartenwegplatten, Bischofsmützen, Palisaden und Poller – es gibt scheinbar nichts, was nicht aus Kunststein gefertigt werden kann. Funktional blendend, preisgünstig und leicht zu verlegen. Lachende Betonsteine! Rosa oder grau, glatt, aufgeraut oder sandgestrahlt. Fontane konnte den Triumphzug der Betonfertigteile nicht mehr miterleben. Wie hätte er ahnen können, dass es für alles Echte eines Tages einen künstlichen Ersatz geben würde, für jedes Ding eine Kopie. Ein Surrogat selbst für das Empfinden, in welchem wir zuweilen wie in einer Parallelwelt leben, einer Matrix. Durch das Programm, das uns leitet, können wir alles so arrangiert sehen, wie ein lachendes Dorf auszusehen hat. Eine Filmkulisse oder ein virtueller Raum. Menschen gibt es keine mehr, aber es laufen Gestalten herum, die per kleinster Bewegung mit den Fingerspitzen in Aktion gesetzt werden können. Jetzt sprechen die Frauen auf der Straße miteinander, scherzen und fallen sich gegenseitig in die Arme. Von überall her strömen Einheimische, sie bevölkern die Wege und halten Blumen in den Händen. Werfen die Arme zum Himmel hinauf.
Wir sitzen in unserem Gefährt, drücken die Zigarette aus und beginnen die Fahrt zu genießen. Wir jedenfalls lächeln wirklich. Der Regen hat aufgehört.

PARETZ


Seid ihr Ost oder West?
Wir klingeln, warten, klingeln noch mal.
»Hallo?«, ruft ein Mann.
Wir öffnen die Pforte zum Garten der Unterkunft und sehen ihn dann schemenhaft zwischen den Zweigen einer Eberesche hindurch auf der Treppe des Hauses stehen.
»Seid ihr Wanderer?«, fragt er.
»Wir haben unser Gepäck im Auto!«
Er wirkt irritiert.
»Haben wir auf der Straße geparkt«, sagen wir.
»Dann fährt mal einer von euch das Auto auf das Grundstück, ja? Wenn die Straße zu ist, hupt der Nachbar immer gleich wie verrückt.«
Das Wohnzimmer ist mit massiven Holzmöbeln vollgestellt, auf denen Unordnung herrscht. Es riecht verwohnt. Der Vermieter bittet uns per Handbewegung an den Tisch, um den zwölf gepolsterte Stühle stehen. Mitten auf dem Tisch ein riesiger Strauß roter und weißer Rosen in einer weißen Porzellanvase, daneben ein Stapel blauer Servietten, Salz- und Pfefferstreuer und eine mit Bonbons und Schokolade gefüllte Schale in der Größe einer Suppenschüssel.
»Wir regeln das erst mal mit der Kohle, ja!«
Wir nicken. Er verlangt die persönlichen Daten und füllt sorgsam zwei Meldescheine aus. Bei der Angabe »Land« schreibt er BRD. Er legt den Stift neben die Papiere, lehnt sich zurück und faltet die Hände auf seinem großen Bauch.
»Und, was haben Sie hier vor?«, fragt er.
»Wir wollen uns Paretz ansehen. Wir schreiben ein Buch über Brandenburg.«
»Neuer Fontane oder so, ja?«
Er grinst breit.
»Genau, ja.«
Er fasst in seinen Vollbart und sieht uns lange an, als überlegte er, ob wir ihm Blödsinn erzählen.
»Fontane, soso, über die Menschen und so, ja.«
»Fontane hat sich nicht so für die Menschen interessiert, der hat viel über Schlösser geschrieben.«
Keine Reaktion. Also setzen wir noch einen drauf.
»Das war ein Schnösel, der ist in seiner Kutsche durch Brandenburg gefahren und hat sich dauernd darüber beschwert, wie schlecht die Straßen sind. Der hat sich wohl den Steiß geprellt.«
Der Mann lacht auf.
»Die sind immer noch schlecht. Die Luise, die hat sich nicht von Napoleon bumsen lassen, die ist lieber, das müsst ihr euch mal vorstellen, die ist lieber von hier mit der Kutsche bis Königsberg gefahren. Seid ihr Ost oder West?«
»Wir sind beides«, sagen wir, »vor ihnen sitzt eigentlich die Wiedervereinigung.«
»Ist ja nicht so oft, dass sich Ost und West verstehen. Wenn wir Gäste aus’m Westen haben, dauert es nicht lange, also, ich muss freundlich zu unseren Gästen sein, natürlich, klar, aber das dauert nicht lange, und dann denken die: Der Ost-Idiot! Oder ich denke: Die verstehen nicht, was ich sage, klar. Ampelmännchen und so. Es geht nicht um Ampelmännchen. Kurz nach der Wende konnte man im Osten abbiegen, wie man wollte, im Westen nicht. Im Westen gab es diese Abbiegen-verboten-Schilder, hier links rum, verboten, oder rechts, verboten. Als wir dann zusammengelegt wurden, Wiedervereinigung und so, versteht ihr, da war das auch im Osten verboten. Erstens kamen die durchgezogenen Linien, zweitens die begrünten Mittelstreifen. Ich war Musiker, Gitarre, habe dann umgesattelt, Mensch, 89 und so, da hätte ich jeden Tag vier, fünf Kundgebungen aussteuern können. Jetzt ist nichts mehr von der DDR da, nur noch BRD. Die DDR hätte sich allein in den Griff bekommen, wir sind ein Volk und so.«
Wir, die wir heute früh in einer Stadt losgefahren sind, in der nur noch selten die Frage nach der Himmelsrichtung gestellt wird, schauen uns kurz an und sagen dann frech: »Hey, kommen Sie, das sind Sachen, die können wir auch in Sachsen oder an der Ostsee hören. Das weiß doch jeder, aber was ist hier im Dorf los? Was hat sich hier verändert? Sind hier nach der Wende neue Leute hergezogen?«
Der Mann ist ein wenig verwirrt, sammelt sich wieder.
»Hier wohnen viele alte Kommunisten, alles ehrliche und ernste Kommunisten. Nazis und CDU haben wir hier eher nicht. Paretz ist SPD. Die Fahne vom Schützenverein, die seit, das müsst ihr euch mal vorstellen, die seit 45 verschwunden war, hat einer nach der Wende irgendwo wieder rausgezogen. Aber nichts, dafür interessiert sich niemand. Die durften dann auch mal bei Dorffesten mit und so, da durften die auflaufen. Acht oder neun Mumien, die stolperten die Straße entlang. Ich dachte, das schaffen die gar nicht mehr und werden vom Sani-Wagen abgeholt.«
»Und die Zugezogenen, machen die da mit?«, fragen wir.
»Wir haben hier einen Regisseur, das ist ein guter Typ, der hat ganz viel gemacht mit der, na, na, Österreicherin, sieht gut aus, bisschen älter.«
Wir überlegen gemeinsam, werfen alle ein paar Namen in den Raum. Kein Treffer.
»Regie und so, pah, könnt ihr vergessen, heute ist das ganz anders. Da sagt die, na, die, die Österreicherin, ach Mensch, Alzheimer von hinten und vorne, Mensch, die sagt, wer Regie machen soll. Die sagt das, das müsst ihr euch mal vorstellen, die bestimmt das! Der kommt auch zu den Dorffesten, da ist dann die Feuerwehr, die bauen das auf, und der kommt eben auch und quatscht mit allen. Gibt auch welche, die mehr außerhalb wohnen, die keinen Kontakt suchen. Die brauchen länger, Dreiviertelstunde dauert das, ja.«
»Dauert was?«, fragen wir.
»Nach Berlin zu ihren Freunden.«
»Okay.«
»Okay was?«
»Verstanden! Wie viele«, fragen wir, »sind zugezogen, die Hälfte?«
»Nein, nein!«
»Mehr?«
Er zögert, hält kurz seine rechte Hand an die linke Wange.
»Ja.«
»Zwei Drittel?«
»Vielleicht.«
Er lehnt sich wieder zurück. Das Gespräch interessiert ihn nicht mehr. So sitzen wir eine Weile schweigend da.
»Ich hatte ein Jahr was mit der Stasi«, sagt er, »ich habe mich freiwillig gestellt. Ich bin da ohne Handschellen hingegangen. Ich hatte einen Verhandlungstermin. Ich war pünktlich. Ein Jahr. Ich hätte schon eher rauskönnen. Ein Oberst hat mir gesteckt, dass sie keinen anderen haben, der so pflichtbewusst ist.«
Er legt eine Pause ein.
»Ich musste also bleiben, klar. Meine Frau hat jeden Monat einen Antrag auf...
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