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Wir Untote

Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction

AutorGeorg Seeßlen, Markus Metz
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl319 Seiten
ISBN9783882219937
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die untote Gesellschaft Klon, Transhumanismus, Enhanced Humanity, Hikikomori, Kinect, Cyborg, Epigenetik, Designer-Baby - Begriffe einer neuen Welt, in die wir bereits stärker verstrickt sind, als wir glauben. In das Blickfeld ernsthaften Nachdenkens über die Zukunft des Menschlichen rückt somit die Figur des 'Untoten', des 'Zombie', mit der nicht nur der eine oder andere Menschen (ob Botox-Monster oder hirntot gefesselt an eine Herz-Lungen-Maschine), sondern auch unsere Gesellschaft analysiert werden kann. Neue Konzepte des menschlichen Körpers, neue Formen der Gesellschaft - mit den Fortschritten in der Wissenschaft und Technik verschwimmen die Grenzen zwischen Leben und Tod, Kultur und Technik. Neue Fragestellungen geraten ins Zentrum ethischer und ästhetischer Überlegungen. Die Frage nach der Grenze des Machbaren wurde schon immer von der Realität als fiktiv und nicht relevant entlarvt. Stellen wir uns also der Frage nach dem Menschenpark. Wohin geht die Reise?

Markus Metz studierte Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft in Berlin. Er arbeitet als freier Journalist und Autor, vorwiegend für den Hörfunk. Zuletzt publizierte er gemeinsam mit Georg Seeßlen das Buch 'Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität'. Georg Seeßlen studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie in München. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und arbeitet als freier Autor und Filmkritiker. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel.

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Leseprobe

DAS UNTOTE UND WIE MAN DORTHIN GELANGT


Vorschläge zum kritischen Design eines neuen Diskurses


Ein Wort hat denkwürdige Konjunktur: untot. Die Untoten, das sind natürlich die Zombies, in 35 ziemlich guten und 2000 schlechten Filmen, in Comics und Romanen, im karnevalesken Zombie Walk und in vielleicht nur teilweise ironischen »Zombie Survival Guides«. Aber »untot« drückt auch ein eigenartiges ausuferndes Empfinden der Zeit aus. Da-Sein und doch nicht Da-Sein; Dasein und doch kein Dasein. Man denkt an Gespenster, Retortenwesen oder radikal Entwürdigte, an Menschen jenseits ihrer Geschichte und jenseits ihrer, nun ja, Menschlichkeit, an RoboCops und Pilleneinwerfer, Vampire und Junkies, an Bürokraten und Fließbandarbeiter, Soldatenmaschinen und Maschinensoldaten, Hirndoping und »Flatliners«. Leute, die sich halb zu Tode schuften, und Leute, die sich halb zu Tode amüsieren. An zum Tode Verurteilte, die jahrelang auf die Vollstreckung warten, »Dead Man Walking«, wie man das im Todesstrafen-Land USA nennt. An Demenz erkrankte Verwandte und an unsterbliche Seegurken im Labor. Untot! Und immer denkt man, ein ganz klein wenig, auch an sich selbst mit. Bin ich/ist Ich schon kontaminiert vom Untod?

Das Wort wird unscharf verwendet. Es zieht etwas Ungewisses hinein in einen Bereich noch größerer (aber vernetzter) Ungewissheit; es ist sich seiner mangelhaft verborgenen Widersprüchlichkeit bewusst, es ist Vorschein mehr als Nachhall. Aber dieses Wort »untot« will ein semantisches Feld besetzen, es will kommunizieren und existieren. Wenn zwei sich über das »Untote« unterhalten, dann sind sie beide erregt, aber selten über das Gleiche; man weiß nur, da berühren sich gerade Körper und Sprache, da wollen wir gemeinsam hinein in ein unerforschtes Land.

Das Untote bezeichnet eine gerade neu entdeckte Unschärfe. Definiere »Leben«! Definiere »Tod«! Das war immer schwer und wird noch schwieriger. Nein, treibe dich stattdessen in der Untoten-Zone herum, bildlich, semiotisch, ungreifbar, aber fest entschlossen, wenigstens dieser Zukunft nicht auszuweichen: Da entsteht etwas zwischen dem gewohnten Leben und dem nach wie vor skandalösen Tod: verlängertes Leben, verändertes, verbessertes, enteignetes, reduziertes Leben, oder eben andersherum, verlängertes Sterben, philosophische Zombies, Wesen, denen »ihr eigener Tod«, der ihnen versprochen war (als Todespoesie immerhin), verweigert wurde, der Kino-Spruch von einem, der tot ist, aber es noch nicht weiß, wiedergeboren als Maschine, als Monster, als Mutant, als – genau, Untoter.

So rätselhaft die Sache selbst ist, diese sich ausbreitende Zone einer Ungewissheit, die man sich auf die unterschiedlichste Weise, vom Diskurs zum Bild, von der »Erprobung« zum Modell, von der Pop-Mythe zum Alltagsleben irgendwie vorzustellen versucht, so deutlich sind die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte, die sich ihr in ihrem jeweiligen Interesse und mit den jeweiligen Mitteln nähern und dabei auch in direkte und indirekte Wechselwirkungen treten. Vielleicht kann man sich dies in etwa so vergegenwärtigen:

Ob also zuerst die »Zone« da war oder ob sie vielmehr erst entstand durch das Zusammenwirken der Kräfte, die ein Interesse an ihr haben, ist hier nicht entschieden. (Behalten wir uns ein dialektisches Ineinander von beidem vor.)

Nicht, dass es einen Bereich zwischen Leben und Tod nicht schon immer gegeben hätte. Er mag sogar, genauer besehen, ein wichtiger Baustein am Ursprung der Kulte und Kulturen, der Religion und der Philosophie, der Kunst und des Karnevals sein. Wie auch wäre es anders möglich bei einem Wesen, das in dem Augenblick, da es (im anderen) erkennt, dass es sterben muss, zugleich erkennt, dass es nicht sterben will? »Fast ein jeder hat die Welt geliebt, wenn man ihm zwei Hände Erde gibt«, sagt Brecht. Und fast ein jeder wünscht, die zwei Hände Erde nicht geben zu müssen. Wohin gehen die Toten? In eine bessere Welt, ins Paradies, in die ewigen Jagdgründe vielleicht. Wenn man sie richtig behandelt, wenn ihnen Respekt, Angedenken und Wegzehrung gegeben wird. Doch wenn dies alles nicht geschieht? (Und kann es überhaupt noch geschehen in einer Welt, in der nichts heilig ist und alles Profit und Entertainment?) »Manchmal kommen sie wieder.«

Der Untote, wie auch immer wir ihn uns vorstellen, als ewige Wiederkehr der Schuld, als »Halbwesen« zwischen Mensch und Tier, als Gestalt gewordenen Verstoß des irren Wissenschaftlers der Frankenstein-Art gegen Schöpfung und Naturgeschichte, als manifeste Folge allfälliger Entweihungen, als schlafwandelnden Mörder, als denkende Maschine, als Mutation infolge von Chemie und Strahlung, als ein unschuldig Böses, dem die selbstbegrenzenden und selbsterkennenden Merkmale eines Menschengeistes fehlen, als mediales Phantom, als Monster aus den vergoldeten Laboratorien der plastischen Chirurgie usw., der Untote, so viel steht fest, steht kurz vor seiner technischen Produzierbarkeit (oder er wird schon produziert und wir wissen es nicht, denn wo das Ungewisse ist, da ist auch die Verschwörung nicht weit).

Die Prämisse: Die Ränder zwischen dem Lebenden und dem Toten werden zunehmend unscharf, es breitet sich ein Zwischenstadium aus, von dem wir nur sehr wenig wissen. Auf der einen Seite geht es dabei um ein »künstlich« erhaltenes Leben, um ein Leben, das sich »in der Natur« nicht zu erhalten gewusst hätte, also nicht um die Heilung einer Krankheit und nicht um ein eingeschränktes Leben mit einer Behinderung, sondern um ein anderes Leben. Der Preis für das Überleben: Nicht mehr ganz und nicht mehr ganz man selbst zu sein.

Denken wir uns die Stadien, die von einer »leichten« semantischen Kultivierung des Körpers zur Erschaffung des Postmenschen führen (Monster, Held, Mensch 2.0), als eine Art »Lebensrad«, das sich um ein (imaginäres) Subjekt dreht. Das Zentrum ist ein Wesen, das leben will und vom Tod weiß, und deswegen etliche Strategien entwickelt, die im weitesten Sinne mit »Bewusstsein« zu tun haben:

Leben und Sterben einen SINN geben.

Das Gestorbene in der Kultur der Nachkommen GEGENWÄRTIG lassen, in den Nachkommen WEITERLEBEN, GESCHICHTE werden.

Ein Leben nach dem Leben und jenseits davon IMAGINIEREN.

Leben und Sterben nicht als absolute Grenze, sondern als ZYKLISCHE Konstruktion begreifen (Wiederkehr oder Sterben als »Rückkehr« zur Natur; Sterben ist nur eine weitere REISE, die man diesmal ohne seinen Körper unternimmt, WIEDERGEBURT entweder in einem anderen Körper oder in einer All-Organie).

TRANSZENDENZ als Hoffnung auf die verlorene Ganzheit. Uns ist ja, in der Regel, nur auf Erden nicht zu helfen.

Sich durch Besitz, Ruhm, Macht UNSTERBLICH machen. (Auf einem kapitalen Geldhaufen stirbt sich’s anders als in der Gosse. Die Unsterblichkeit des Analen: Einen großen Haufen hinterlassen.)

SPUREN gezogen haben (Bäume gepflanzt, Kinder gezeugt, Bücher geschrieben, das volle Programm des idealen Bürgers).

Seinen FRIEDEN gemacht, ABSCHIED genommen haben.

Auf der anderen Seite:

Das Leben VERLÄNGERN.

Das Leben REICH und ERFÜLLT machen.

Das Leben für die richtige Sache OPFERN, für Kollektiv, Ordnung, Idee, Glauben, sich verwandeln vom Körper, der sich angenehm ist, zum Körper, der den anderen angenehm ist.

Das LEIDEN mindern, die KRANKHEITEN bekämpfen.

Gefahren BANNEN (böse Geister oder Mikroben).

Die Gefahren für den eigenen Körper auf andere Körper (z. B. Sklaven oder Geliebte) ÜBERTRAGEN.

Gefahren für den Körper abwehren, gefährliche Verrichtungen durch INSTRUMENTE ersetzen.

SCHUTZPANZER benutzen.

Dem Tod ein SCHNIPPCHEN SCHLAGEN.

Den anderen TÖTEN, um sein eigenes Überleben zu spüren.

Die Doppelstrategie, den Tod »kulturell« zu akzeptieren und ihn »technisch« zu bekämpfen, hat sich lange bewährt, vor allem dort, wo Kultur und Technik in eine Balance gebracht werden. (Dort nutzen die Toten den Lebenden und die Lebenden den Toten.) An den Brüchen von Kultur und Technik hingegen bricht die eine oder andere Panik aus; das eine Mal lähmt ein Totenkult (oder gar ein Todeskult), das andere Mal führt pure Technik zu bizarren Experimenten. Unsere Phantasie jedenfalls schlägt Blasen, und von Homer bis Perry Rhodan wartet hier eine Antwort auf die merkwürdige Frage: Wie konnte uns so etwas einfallen?

So erscheinen die Untoten offenbar als Symptome des Bruchs zwischen Totenkult und Lebenstechnik. Es fällt uns nicht schwer zu behaupten, unsere derzeitige Form der Besessenheit von Untoten, Posthumanen und Transhumanen sei nicht nur der näherrückenden technischen Produzierbarkeit der früheren »Wunder« geschuldet, sondern vor allem ein Symptom der radikalen Vorherrschaft ökonomisierter Naturwissenschaft und Technologie gegenüber Philosophie und Kultur. Dauernd wird Technologie und Information »revolutioniert«, und am Elend von Alltag und Geschichte ändert sich so gut wie nichts. (Wer weiß, vielleicht wollen wir auch deshalb länger...

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