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E-Book

Wir waren die Bunkerkinder

Erinnerungen an meine Kindheit im Zweiten Weltkrieg

AutorWalter Sohns
VerlagMeyer & Meyer
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783840311123
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Walter Sohns erzählt in seiner Autobiografie aus dem Blickwinkel und in der Sprache eines Kindes das Leben seiner Familie im Aachen der Vorkriegszeit. Er schildert die allmählichen Veränderungen in den Lebensumständen durch den Einfluss der nationalsozialistischen Politik und dem sich entwickelnden Kriegsgeschehen. Vor den Augen des Kindes verändert sich das Gesicht seiner Heimatstadt. Stellvertretend für das, was viele Menschen in jener Zeit erleben mussten, steht die hier aufgezeichnete Kindheit, der früh die Unbekümmertheit genommen wurde, eine Kindheit im Zeichen von Bombenterror, von durchwachten Nächten im Bunker, Angst um die Angehörigen und schließlich dem Verlust all dessen, was Zuhause und Sicherheit bedeutet.

Walter Sohns, geboren 1934, hat bis auf kurze Unterbrechungen in Aachen gelebt. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Die letzten 21 Jahre arbeitete er in seinem Beruf als Elektromaschinenbaumeister an einem Institut der TH Aachen. Seit seiner Pensonierung 1993 beschäftigt er sich intensiv mit den Recherchen und Aufzeichnungen über seine Jugenderlebnisse während des Zweiten Weltkriegs.

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Leseprobe

... 1937 …


Meine Geschichte beginnt im Frühjahr des Jahres 1937. Von diesem Zeitpunkt an haben sich viele gute und schlechte Erinnerungen aus meiner Kindheit fest in mein Gedächtnis eingeprägt. Diese Erinnerungen sind bestimmt von den Ereignissen, die ich während der Zeit des Nationalsozialismus und des folgenschweren Zweiten Weltkriegs erlebte, der Zeit meiner Kindheit.

Erst vor wenigen Tagen, am Dienstag, den 23. März 1937, bin ich drei Jahre alt geworden. Wegen der schönen Geschenke finde ich Geburtstag und Weihnachten wunderbar. Die drei Kerzen auf der Geburtstagstorte habe ich noch mühelos mit einem Puster zum Erlöschen gebracht. Wir wohnen in einem großen Haus am Friedrich-Wilhelm-Platz 4, auf der dritten Etage und über Aachens größtem Filmtheater, dem UFA-Palast. Vom Fenster aus schaut man auf den Elisenbrunnen gleich gegenüber. So mitten im Herzen der Stadt ist immer etwas los, da genügt schon ein Blick aus dem Fenster, und es wird nie langweilig.

Zunächst will ich aber etwas über meine Familie erzählen. Allem vo­rangestellt muss ich sagen, dass ich ganz liebe und wundervolle Eltern habe. Mutti ist immer zu Hause, sie ist für den Haushalt und uns Kinder zuständig. Dass ich auch schon einen großen, zehnjährigen Bruder habe, – er heißt Gerhard – finde ich schön. Leider kann ich nicht allzu viel Zeit mit ihm verbringen, denn meistens ist er unterwegs. Morgens geht er zur Schule und nachmittags macht er Hausaufgaben. Danach verschwindet er sofort wieder zu seinen Freunden. Na ja, der Altersunterschied ist auch ziemlich groß, so kann er noch nicht viel mit mir anfangen. Außerdem ist Gerhard für mich auch etwas zu rau und wild. Bei seinen Aktivitäten, die meine Eltern immer wieder von Neuem überraschen, muss er schon mal öfters gebremst werden. Durch seine Unruhe und sein Temperament sind meine Eltern sogar zu einem Wohnungswechsel genötigt worden. Trotzdem ist mein Bruder ein lieber Kerl, und ich bin froh, dass ich ihn habe. Die Erwachsenen behaupten, ich sei das genaue Gegenteil von ihm. Das „Oberhaupt“ der Familie, unser lieber Vater, ist Beamter bei der Stadtsparkasse. Sein Vorname ist Fritz, und im November wird er 44 Jahre alt. Unsere Mutter heißt Elfriede, aber sie wird von allen „Friedchen“ genannt. Sie wird im September 34 Jahre alt.

Beide sind keine „Öcher“, doch das Schicksal hat sie hier in der schönen alten Kaiserstadt zusammengeführt. Vater kommt aus der kleinen Stadt Wevelinghoven bei Grevenbroich-Neuss. Dort leben auch seine Eltern und die beiden unverheirateten Schwestern Kätchen und Leni.

In der kleinen Stadt Elze bei Hannover steht das Elternhaus unserer Mutter. Sie hat noch sechs Geschwister, fünf Schwestern und einen Bruder. Zwei ihrer Schwestern leben aber in Aachen. Zunächst ist da unsere Tante Annemarie. Sie ist vor zwei Jahren schon Witwe geworden, als ihr Mann, ein bekannter Aachener Apotheker, plötzlich verstarb. Sie hat zwei siebzehnjährige Kinder, das Zwillingspaar Liselotte und Karl-Heinz. Sie haben in der Ursulinerstraße eine schöne Wohnung, in der Tante Annemarie aber zurzeit nur mit Sohn Karl-Heinz wohnt, der in der Familie auch „Bübchen“ genannt wird. Ihre Tochter Liselotte lebt schon seit einigen Jahren bei ihren Großeltern in Elze, wo sie auch berufstätig ist.

Mutters zweite, in Aachen lebende Schwester heißt Charlotte. Aus unerklärlichen Gründen wird sie aber in der ganzen Familie nur „Minna“ genannt. Für uns Kinder ist sie also unsere Tante Minna. Verheiratet ist sie mit Onkel Gerhard, der wie unser Vater als Beamter bei der Stadtsparkasse tätig ist. Vater und Onkel Gerhard sind somit nicht nur verschwägert, sie sind auch noch Arbeitskollegen. Leider können Tante Minna und Onkel Gerhard keine eigenen Kinder bekommen, was zur Folge hat, dass sich Tante Minna besonders viel um mich kümmert. Ich bin ihr erklärter „Lieblingsneffe“, weil ich angeblich so ein lieber Junge bin. Oft holt sie mich von zu Hause zu einem Stadtbummel ab, wobei sie mir unterwegs etwas Leckeres spendiert, oder wir gehen zusammen Eis essen. Manchmal darf ich auch bei ihr übernachten, was für mich immer eine willkommene Abwechslung ist. Aber auch Tante Annemarie nimmt mich hin und wieder mit in die Stadt oder zu sich nach Hause, wo mein Vetter Bübchen sich dann mit mir beschäftigt. Er besitzt eine elektrische Eisenbahn, mit der ich besonders gern spiele. Bübchen liest auch sehr gern dicke Bücher, wobei er stundenlang am Daumen lutscht. Das sieht bei einem so großen Jungen schon komisch aus, wie ich finde.

Wenn es sommerlich warm wird, herrscht in der Stadt ein reges und buntes Treiben. In der Rotunde des Elisenbrunnens spielen regelmäßig Musikkapellen. Manchmal sind es Militärorchester mit schmissiger Marschmusik.

Auch Ausstellungen gibt es dort schon mal, wobei ich die berühmten Rennwagen von Bernd Rosemeier und Rudolf Caraciola am interessantesten fand.

Jetzt, zur Sommerzeit, wird der Vorplatz des Elisenbrunnens zu einem großen Freiluft-Café, wo die Menschen bei einem Bier oder einem Kaffee gemütlich in der Sonne sitzen. Von Zeit zu Zeit fährt die Straßenbahn vorbei. Wenn sie aus der Adalbertstraße kommt und in die Kurve geht, quietscht es in den Schienen ganz fürchterlich. Man sieht nicht allzu viele Autos, dafür aber Omnibusse, Motorräder, Pferdegespanne, die Bierwagen ziehen, Pferdekutschen und eine Menge Leute auf Fahrrädern. Ein ähnliches Bild bietet sich in der ganzen Innenstadt. Also, ich finde es schön in Aachen!

Wie es in der Zeitung heißt, soll heute Mittag der „Zeppelin“ über unsere Stadt fliegen. Das ist schon ein Ereignis. Unser Haus hat ein großes Flachdach, das man über eine schmale Holztreppe und nach dem Öffnen einer Luke begehen kann. Zu einem solch einmaligen Ereignis nutzen auch fast alle Mieter diese Möglichkeit und finden sich rechtzeitig auf dem Dach ein. Tatsächlich schwebt dann plötzlich auch das riesige Luftschiff „Graf Zeppelin“ ganz tief über uns hinweg. Wir können sogar noch die Menschen erkennen, die in den unter dem Luftschiff hängenden Gondeln sitzen, und winken ihnen zu. Das ist für mich alles sehr aufregend. Bevor sich alle wieder anschicken, vorsichtig die schmale Holztreppe hinunterzuklettern, unterhalten sich meine Eltern noch mit der Familie Kerschgens und der Familie Stern, die unter uns in der zweiten Etage wohnen.

Die Familie Stern ist ein jüdisches Ehepaar. Sie haben erst vor ein paar Monaten ein Baby bekommen. Mutter findet sie sehr nett und spricht oft mit ihnen über alles Mögliche, wenn sie sich im Treppenhaus oder auf der Straße begegnen.

Interessant finde ich auch den Herrn Kerschgens. Er steht immer unten im Foyer des Kinos in einer schicken blauen Uniform mit goldenen Knöpfen und Verzierungen. Auf seiner Schirmmütze steht „UFA-Palast“. Mit seinem schwarzen Schnurrbart sieht er sehr streng aus. Zuerst habe ich immer ein wenig Angst vor ihm gehabt, doch dann habe ich gemerkt, dass er eigentlich sehr nett ist. Das lag wohl vor allem an dem Riegel Schokolade oder den Bonbons, die er mir schon mal zugesteckt hat. Das schafft natürlich Vertrauen.

In diesen Tagen spricht man in Deutschland immer noch viel von den XI. Olympischen Sommerspielen in Berlin, die im vergangenen Jahr am I. August von Reichskanzler Adolf Hitler eröffnet wurden. Für die Machthaber des Dritten Reiches war diese Veranstaltung eine willkommene Gelegenheit, eine durch Massenorganisationen zur Schau gestellte Geschlossenheit von Volk und Führung zu demonstrieren. Das Olympiastadion, mit der von Albert Speer neu erbauten Fassade, war für Hitler aber auch eine geeignete Plattform, den Völkern der Welt seine politischen Erfolge, seinen Einsatz für den sozialen Fortschritt, aber auch seinen angeblichen Friedenswillen darzustellen.

Jetzt, im Jahr 1937, haben die zunächst zurückgestellten Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes gegen politische Gegner und besonders gegen das Judentum wieder drastisch zugenommen. Auch Vertreter der Kirchen, die sich den Zumutungen der Nazis nicht beugen wollen, geraten in die Fänge der Gestapo und werden in Konzentrationslager verschleppt.

Niemand im Haus hat wohl damit gerechnet, dass nun auch das Ehepaar Stern mit seinem Baby plötzlich von der Gestapo abgeholt wird. Ohne jede Vorankündigung werden sie aus ihrer Wohnung geholt und dürfen nur wenige Sachen mitnehmen. Unsere Mutter, die sich zufällig im Treppenhaus aufhält, kann nur erfahren, dass die Familie Stern vorübergehend in ein Arbeitslager gebracht werden soll. Die Wohnung werde man bis zu ihrer Rückkehr versiegeln.

Der Elisenbrunnen in Aachen im Jahr 1937 (Entnommen dem Band „Aachen - so wie es war“ von Helmut A. Crous, Droste Verlag GmbH, Düsseldorf)

Meine Eltern und auch die anderen Hausbewohner zeigen sich über diesen brutalen Vorgang sehr betroffen. Jeder fragt sich, was diese netten Leute wohl getan haben könnten, dass man so mit ihnen umgeht. Alle diskutieren miteinander, doch dies führt nur zu der Einsicht, dass man der Sache recht hilflos gegenübersteht. Mittlerweile ist jedem klar, dass es höchst gefährlich werden kann, sich in irgendeiner Form öffentlich gegen die Nazis zu äußern. Man muss jederzeit damit rechnen, selbst wegen irgendwelcher Äußerungen denunziert zu werden. Ich selbst bin noch zu klein, um etwas davon zu verstehen, doch ich merke wohl, dass hier etwas sehr Bedrückendes vor sich gegangen ist, denn meiner Mutter stehen die Tränen in den Augen.

Im Oktober 1937 ziehen wir in die Franzstraße Nr. 74. Die Wohnung liegt in der zweiten Etage und hat drei große Räume: Wohnküche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Eigentümer des dreigeschossigen Hauses sind Frau und Herr Meier, ein...

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