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E-Book

Wir waren keine Menschen mehr

Erinnerungen eines Wehrmachtssoldaten an die Ostfront

AutorLuis Raffeiner, Luise Ruatti
VerlagEdition Raetia
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl232 Seiten
ISBN9788872834763
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Luis Raffeiner wuchs in Karthaus im Südtiroler Schnalstal in der Zeit des Faschismus auf. Ende 1939 optierte der damals 22-Jährige für Deutschland und wurde in die Wehrmacht überstellt. Als Panzerwart einer Sturmgeschützabteilung zog er 1941 in den Krieg gegen Russland. Dort erlebte er, wie er selbst sagt, 'Krieg in seiner brutalen und grausamen Wirklichkeit'. Eindrücke davon hielt er mit seiner Fotokamera fest, Jahrzehnte später erzählte er sie einer jungen Bekannten. Anschaulich und prägnant schildert Raffeiner Kindheit und Jugendzeit und vor allem die dramatischen Kriegserlebnisse. Dabei bricht er mit dem Mythos der sauberen Wehrmacht und nennt die deutschen Unrechtstaten beim Namen, zum Teil auch solche, an denen er selbst beteiligt war. Der Vernichtungskrieg an der Ostfront ließ ihn gleichzeitig zu Opfer und Täter werden. Seine Erinnerungen sind keine üblichen Landsergeschichten, sondern der Beitrag eines einfachen Mannes, die Schrecken des Krieges und sein Bemühen um Anständigkeit darzustellen. E-Book jetzt neu mit vielen Originalfotos des Autors.

Luis Raffeiner wuchs in Karthaus im Südtiroler Schnalstal in der Zeit des Faschismus auf. Ende 1939 optierte der damals 22-Jährige für Deutschland und wurde in die Wehrmacht überstellt. Als Panzerwart einer Sturmgeschützabteilung zog er 1941 in den Krieg gegen Russland. Dort erlebte er, wie er selbst sagt, 'Krieg in seiner brutalen und grausamen Wirklichkeit'. Eindrücke davon hielt er mit seiner Fotokamera fest, Jahrzehnte später erzählte er sie einer jungen Bekannten. Raffeiner verstarb im März 2012

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Leseprobe

Ein Brand und seine Folgen


Am 21. November 1924 kam es in Karthaus zu einer verheerenden Katastrophe. Es war so gegen 22.30 Uhr, ich lag schon in tiefem Schlummer auf meinem Strohsack, als ich mit den Worten „Auf, auf, es brennt!“ aus meinen Träumen gerissen wurde. Ich begriff überhaupt nicht, was los war. Schlaftrunken taumelte ich aus dem Bett. Meine Schwester Maria half mir in meine Kleidung. Hektische Anweisungen wurden hin und her gerufen, treppauf, treppab eilig die allernotwendigsten Sachen zusammengerafft. Ich stand da, wurde beiseitegeschubst, weil ich im Weg stand. Plötzlich drückte Maria auch mir etwas unter den Arm, und schon wurde ich mit meinen anderen Geschwistern zur Tür hinausgescheucht. Draußen hörte ich aufgeregte Stimmen, Gebrüll von Tieren, Laufschritte auf den Steinen des Klosterganges und Hundegebell. Laternenlichter schwirrten umher, es herrschte ein wirres Durcheinander. Zum Schauen blieb keine Zeit. Inzwischen hatte auch ich begriffen, was los war. Zusammen mit den anderen Kindern wurde ich außerhalb der Klostermauer gebracht. Vater hatte uns unterhalb des Dorfes, wo die Mauer am höchsten war, einen Platz angewiesen. Nachdem er die Kuh aus dem Stall geholt hatte, eilte er zurück, um das Schwein zu retten. Als er beim Stall ankam, hatten die Dachbalken bereits Feuer gefangen, so erzählte er uns später. Ein italienischer Finanzbeamter wollte ihn daran hindern, das Schwein zu holen. Mein Vater schubste den Mann aber unsanft beiseite und rettete unser Schwein aus dem brennenden Verschlag.

Ich wartete mit der Mutter und den Geschwistern inzwischen unterhalb des Dorfes. Die hohe Mauer, die uns schützte, versperrte uns zugleich den Blick auf das Geschehen. Man sah nur den Schein des Feuers, der die Nacht erleuchtete. Stimmenfetzen, Prasseln und Knacken trug der Wind zu uns herunter, Funken schwebten ins Tal, und Brandgeruch schwängerte die Luft. Plötzlich schoss es mir in den Kopf und ließ mir keine Ruhe: Ich musste unbedingt wissen, ob unser Haus auch brannte. Während Mutter mit den kleineren Geschwistern beschäftigt war, eilte ich unterhalb der Mauer entlang, bis ich zu der Stelle kam, wo die Mauer unterbrochen war. Von hier aus sah ich die Flammen, die aus den Häusern loderten. Und tatsächlich: Unser Haus brannte. Ich atmete auf. „Gott sei Dank, es brannte!“ Es gab da nämlich eine Sache, die seit geraumer Zeit schwer auf mein Kindergemüt drückte. Vater besaß nämlich eine silberne Taschenuhr, ein schönes Erbstück, das er nur zu ganz besonderen Anlässen trug. Sie musste ihm sehr wertvoll gewesen sein, denn er hatte uns unter strengster Strafandrohung verboten, diese Uhr anzufassen. Ich war aber ein wissbegieriger Lausbub, und meine Neugier war einfach stärker als die Vernunft. An einem günstigen Tag unterzog ich die Uhr mit meinem Taschenmesser einer gründlichen Inspektion. Mit der Spitze der kleinen Klinge schraubte ich die winzigen Schräubchen heraus. Die Zahnräder waren so dünn und filigran: Dieses technische Wunderwerk faszinierte mich. So zerlegte ich die ganze Uhr mit der Absicht, sie wieder ordnungsgemäß zusammenzusetzen. Leider war mein ehrliches Bemühen nicht von Erfolg gekrönt. Meine Ohren glühten, als ich nach vergeblicher Anstrengung das demontierte Corpus Delicti in die Schatulle meines Vaters zurücklegte. Seit dieser Stunde quälte mich mein Gewissen und noch mehr die Angst vor der Strafe. Deshalb war ich sehr erleichtert, als ich die Flammen sah, denn sie tilgten die Spuren meiner Tat. Das war meine persönliche, kindliche Perspektive dieses dramatischen Ereignisses. Der eigentlichen Tragweite der Flammen war ich mir nicht bewusst. Noch nicht.

Zurück bei meiner Familie verbrachten wir die Nacht an Ort und Stelle im Freien. Es waren die letzten Stunden des gemeinsamen Zusammenseins. Der Brand hatte in dieser Nacht eine verheerende Katastrophe angerichtet: Das ganze Dorf brannte bis auf wenige Häuser ab, auch die Kirche wurde ein Raub der Flammen. Viele Tiere konnten nicht gerettet werden und kamen erbärmlich in der Feuerhölle um. Zwei ältere Menschen fanden im Feuer den Tod, ein weiterer starb einige Tage später an den Folgen des Brandes. Bis heute konnte die Ursache des Feuers nicht restlos geklärt werden. Obdachlos und der wenigen Habseligkeiten beraubt, waren viele Familien der Verzweiflung nahe. Viele hatten Verwandte, die fürs Erste eine Unterkunft anboten, aber dennoch wurden die meisten Familien zerrissen.

In unserem Falle kamen die beiden jüngsten Geschwister Luise und Peter gemeinsam mit den Eltern armselig in der kleinen Mühle unterhalb des Dorfes unter. In der Mühle gab es nur einen kleinen abgeschlossenen Raum, das „Mühlstübele“. In diesem sauber getäfelten Raum schlief meine Mutter mit den Zwillingen. Die Milchzentrifuge passte gerade noch zwischen Schlafplatz und Wand hinein. Vater machte sich beim Treppenaufgang einen Verschlag, in dem er schlafen konnte. In unser Haus kehrten wir leider nie wieder zurück, da unserer Familie zur Sanierung die Mittel fehlten. Nach dem Brand richtete mein Vater den Stall wieder her, und die Mutter ging 17 Jahre lang dreimal am Tag ins Dorf hinauf, um die Tiere zu versorgen.

Wir anderen Kinder bekamen bei verschiedenen Bauern im Tal ein Obdach. Josef, der Älteste, kam auf Gorf, Anton auf Oberörl bei der Familie Spechtenhauser unter. Maria wurde im Elternhaus meiner Mutter, beim Mühlnhof in Katharinaberg, aufgenommen. Mich brachte meine Mutter am Tag nach der Katastrophe auch im benachbarten Dorf Katharinaberg unter, auf dem Mittereggerhof. Ich war sieben Jahre alt und erinnere mich noch gut daran, wie sie mich dorthin brachte und kurz darauf ohne Abschied verschwand. Nun begann eine schlimme Zeit für mich: Die Bauersleute taten mir nichts zuleide, doch lebte ein Knecht auf dem Hof, der mir das Leben zur Hölle machte. Gleich zu Beginn gab er mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich ihm zu „folgen“, also zu gehorchen hatte. Ich war vollkommen eingeschüchtert, und seine Überlegenheit bekam mein hagerer Körper nur allzu oft zu spüren.

Ich musste mit ihm täglich in den Stall gehen und die Schafe versorgen. Dort packte er mich und schmiss mich wie ein Tier von einer Schafskrippe in die andere. Außerdem hatte er bemerkt, dass mir leicht schwindelte. Nun musste ich am Sonntag mit ihm zur Messe gehen, und der Kirchweg von Mitteregg nach Katharinaberg führte ausgerechnet über eine besonders schmale, für mein Verständnis sehr hohe, wackelige Brücke. In der Mitte der Brücke packte er mich und hielt mich übers Brückengeländer. Wie mir dabei zumute war, lässt sich kaum beschreiben. Zum Glück hielt ich die Augen geschlossen.

Jeder Tag war ein Albtraum: Wann immer ihm danach war, packte er mich, stieß mich herum oder schlug mich. Und immer wieder bekam ich die Androhung zu hören: „Wehe, wenn du jemandem davon erzählst, dann geht es dir noch schlechter!“

Wie gerne hätte ich meiner Schwester mein Leid anvertraut. Sie war beim Bauern unterhalb des Mittereggers, beim Mühlnhof, untergebracht. Wenn ich sie auf dem Schulweg sah, fing ich oft zu weinen an. Ich ging ihr sogar aus dem Weg, damit ich nicht in Versuchung kam, ihr meinen Kummer mitzuteilen. So eingeschüchtert war ich. Zutiefst in meiner Kinderseele fühlte ich mich von aller Welt verlassen. Die Bauersleute waren gut zu mir, sie schienen von meinem Schicksal nichts zu ahnen. Nur ab und zu wunderten sie sich über mein seltsames Benehmen, vor allem beim Essen. Mein Peiniger gönnte mir nicht einmal das. Wenn er mich unter dem Tisch mit seinem Fuß anrempelte, musste ich sofort mit dem Essen aufhören. Dieses Spiel bereitete ihm sichtlich Vergnügen. Kein Wunder, dass ich ständig hungrig war. Das wäre mir an einem Wintertag fast zum Verhängnis geworden.

Im Winter, wenn der Weg verschneit und mühsam war, bekamen wir das Essen zur Schule mit. Wir, das waren die drei Kinder des Bauern und ich. Es gab ein Stückchen Speck und die Hälfte eines harten „Paarlbrotes“. Es reichte kaum für alle vier, und meistens kam ich hierbei zu kurz. Auch dieses Mal war ich leer ausgegangen. Da fielen mir jene Kinder ein, die ich im Herbst Pech kauend am Rande des Waldes gesehen hatte. Das schien mir der rettende Gedanke zu sein. Ich lief hinauf zur Kirche. Oberhalb des Untermoarhofes stand eine „Holzplum“, ein großer Holzstapel aus Lärchenstämmen. Da fand ich genügend Pech. Ich griff mir eine kleine Menge dieser zähflüssigen Masse und fing gierig an daran zu kauen. Leider wusste ich nicht, dass nur das Naturharz von Fichtenbäumen genießbar war. Schon nach kürzester Zeit klebte mir Lärchenpech im ganzen Rachen, und ich bekam keine Luft mehr. Ich krümmte mich, weinte und gestikulierte in Todesangst. Zu meinem Glück wurden die Frauen vom Untermoarhof auf mich aufmerksam. Als ich auf ihr Rufen keine Antwort gab, eilten sie mir sofort zu Hilfe. Sie säuberten meinen Mund und retteten mich aus der Erstickungsgefahr.

Ich spürte das Mitleid dieser Frauen: Sie ahnten, dass es mir nicht gut ging. Die Mesnerin, die beim Müller wohnte, lud mich deshalb ab und zu ins Haus ein. Meistens am Samstag, denn da brachte der Bäcker ihr das Brot. Wenn er vorbeiging, roch...

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