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Wir werden nie genug haben

96 Fragen an Kurt W. Rothschild und ein Essay zur verlorenen Zeit

AutorHans Bürger
VerlagBraumüller Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783991001768
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Stell dir vor, es ist Kapitalismus und keiner kann mehr mit. Wem nützt es, wenn alles rundherum wächst und wächst, aber die einen zu wenig Geld und die anderen weder Kraft noch Zeit haben, am gewachsenen Wohlstand teilzuhaben. Haben wir zu wenig Zeit, herauszufinden, was für uns gut wäre? Die Zeit und das Leben. Haben wir beides nicht mehr im Griff? Wir leben heute in einer Gesellschaft ohne Zeit. Mit dieser und noch weiteren Thesen beschäftigt sich der ORF-Journalist Hans Bürger und geht im 2009 geführten Gespräch mit dem langjährigen Doyen der österreichischen Nationalökonomie, Kurt W. Rothschild, unter anderem der Frage nach, warum Unsicherheit der größte Feind des Konsumkapitalismus ist. Dadurch macht er deutlich, dass wir Menschen mehr sind als bloß berechenbare Zahlen und Daten. Wir haben Gefühle und suchen Erfüllung unserer (sozialen) Bedürfnisse, die sich durch zahlreiche Werbestrategien gewiefter Konzerne unwissentlich zu vermehren scheinen. Haben wir überhaupt noch Zeit, uns allen Bedürfnissen ausführlich zu widmen? Zerbricht der Kapitalismus schließlich an der Überforderung des Menschen?

Hans Bürger, geboren 1962 in Linz, absolvierte das Volkswirtschaftsstudium an der Johannes Kepler Universität in Linz. Erst Wirtschafts­journalist, seit 1987 beim ORF. 1997 ORF-Korrespondent in Brüssel, seit 1998 Ressort­leiter Innenpolitik & EU, stellvertretender Chef­redakteur sowie innen­politischer Hauptkommentator der österreichischen Haupt­­­nachrichtensendung Zeit im Bild. Gastgeber der ORF-Presse­stunde sowie Diskussionsleiter der ORF-Sommer­gespräche 2015. Gemeinsam mit dem Öko­nomen Kurt W. Rothschild verfasste er 2009 Wie Wirtschaft die Welt bewegt. Zuletzt erschienen: Der vergessene Mensch in der Wirtschaft (2012).

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Leseprobe

96 FRAGEN AN
KURT W. ROTHSCHILD


Wir befinden uns also von nun an im Frühjahr 2009, die zweite Weltwirtschaftskrise nach jener in den 1930er-Jahren erfasst rund ein halbes Jahr nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers immer mehr Bereiche der Wirtschaft – die dominierende Stimmung ist Ratlosigkeit.

Die Basis klassischen und wirtschaftsliberalen Denkens seit dem 18. Jahrhundert ist, dass der gesunde Egoismus der Unternehmer automatisch zu allgemeinem Wohlstand führen wird. Dieser Lehrsatz hat vielleicht einige Zeit gegolten, aber wie viel ist denn von ihm übrig geblieben? (1)

Na ja, bis zu einem bestimmten Grad stimmt das, ja. Die Grundidee war, dass ein Bäcker seine Semmeln eben nicht nur für sich selbst bäckt, sondern auch für viele andere. Er wird das aber nur dann machen, wenn er selbst Profite erzielt. Das funktioniert jedoch dann wiederum nicht, wenn Monopole entstehen und diese einfach die Preise hinaufsetzen, ohne dafür eine zusätzliche Leistung zu erbringen. Genannt auch Monopolrenten. Aber grundsätzlich stimmt die Marktidee natürlich: Egoismus plus Konkurrenz können Wohlstand erzeugen, das Problem ist dann nur, wie er verteilt wird. Was klassische und später neoklassische Ökonomen nicht sehen wollten, war, dass es auch Marktversagen gibt. Aber vor allem hat eben der komplett freie Markt fürchterliche Ungleichheiten erzeugt. Die Forderungen, den Markt zu regulieren, sind aber im 18. und 19. Jahrhundert nicht aus der Ökonomie gekommen, sondern immer von außen. Von jenen, die am Markt benachteiligt waren. Entweder von den Arbeitern oder von der moralischen Seite, etwa von der katholischen Kirche. Ein interessanter Ökonom von damals, John Stuart Mill, hat immer gesagt: Wir brauchen den Kapitalismus, weil die Produktion noch zu schwach ist, deshalb müsse man einige Zeit auch das Unrecht der ungleichen Einkommensverteilung in Kauf nehmen. Aber je reicher die Gesellschaft wird, desto moralischer wird sie werden. Und sie wird einen moralischen Status der Menschenliebe und der Verantwortung für Leute erreichen, denen es nicht so gut geht.

So kann man sich täuschen …

Das Problem war die Erziehung. Sie hat gefehlt, zum Teil waren die Menschen damals Analphabeten. Aber es hat, wie gesagt, ebenfalls Ökonomen gegeben, die gesagt haben, auch der Staat kann etwas machen – eben über die freien Märkte hinaus. Mill hat zum Beispiel eine 100-prozentige Erbschaftssteuer vorgeschlagen, mit dem Argument: Warum sollen Kinder von reichen Leuten von Beginn an viel besser dran sein, ohne etwas geleistet zu haben. Aber natürlich müssen wir auch die Möglichkeit des Staatsversagens sehen.

Also dass es immer Menschen gibt, die auch den Staat ausnützen? (2)

Ja, der Staat selbst kann den Wirtschaftsprozess durch Korruption und Machtvorteile stören. Was man damals auch falsch eingeschätzt hat, war die Natur des Menschen. Zu glauben, dass alle Länder irgendwann einen Produktivitätszustand erreicht haben, wo mehr oder weniger alle Bedürfnisse der Menschen befriedigt sind und damit das Verteilungsproblem an Bedeutung verlieren wird, war ein Irrtum. Man hat – vor allem für reiche Länder – die Unausschöpflichkeit der Bedürfnisse unterschätzt. Man hat schon damals übersehen, dass Wünsche unaufhörlich wachsen und dass das Problem nie der absolute, sondern der relative Reichtum ist. Armut ist kein absolutes Maß. Ein Armer heute im 21. Jahrhundert ist wesentlich reicher als ein König im 10. Jahrhundert. Das nützt jedoch dem Armen von heute nichts.

Dann kann man aber schon von einer gewissen Naivität der Denker von damals sprechen. Warum sind Gier und Neid so gar nicht beachtet worden? Sogar John Maynard Keynes hat 1930 geglaubt, dass 2030 die gesamte Welt in Wohlstand leben werde. Diese Optimisten haben wir offenbar in jedem Jahrhundert immer wieder erlebt. Und haben sie wirklich daran geglaubt, dass reiche Gesellschaften auch noch natürlicherweise moralischer werden? (3)

Natürlich hat es auch die Pessimisten gegeben. Denken Sie an den Philosophen Hobbes, der immer geglaubt hat, dass die aggressiven, egoistischen Elemente im Menschen so tief drinnen sind, dass sie nicht einmal durch Erziehung beseitigt werden können. Allerdings war Hobbes auch für eine Diktatur, in der ein starker Herrscher oder eine bestimmte Elite Menschen dazu zwingen, miteinander auszukommen.

Aber offensichtlich ist die Moral mit größerem Wohlstand nicht besser, sondern eher schlechter geworden? (4)

Ich bin mir da nicht so sicher. Die Moral war ja auch im 18. Jahrhundert nicht großartig. Außerdem kann diese Frage ohnehin nicht von der Ökonomie beantwortet werden. Es wird immer davon abhängen, wie sehr man das soziale Problem im Auge hat – und dann ergeben sich verschiedene ökonomische Rezepturen. Diese Betonung des ökonomischen Wachstums, das häufig als alleiniger Faktor und Erfolgsmerkmal betrachtet wird, kommt nur von der Elite. Von den Kapitalbesitzern, die Wachstum brauchen, um ihr Kapital einzusetzen und um Gewinne zu machen. Das Verteilungsproblem hingegen ist viel dringlicher für jene am unteren Ende der Einkommensverteilung – und diese Gruppe verlangt mehr Sozialpolitik. Das ist der Kampf zwischen diesen beiden Richtungen. Das 20. Jahrhundert war, wie es der Soziologe Ralf Dahrendorf formuliert hat, das Jahrhundert der Sozialdemokratie.

Im 21. Jahrhundert schaut es für die Sozialdemokratie dann schon etwas düsterer aus. Da fällt mir das Pareto-Optimum ein – ein Zustand, in dem sich eine Gesellschaft dann befindet, wenn es nicht mehr möglich ist, die Wohlfahrt eines Individuums zu erhöhen, ohne dass sich gleichzeitig die Wohlfahrt eines anderen verringert. (5)

Jetzt sind wir bei der Frage gelandet, die auch der Soziologe Max Weber gestellt hat – soll die Wissenschaft überhaupt Werturteile fällen oder soll sie wertfrei sein? Grundsätzlich werden wohl auch heute die meisten Menschen sagen, dass der Staat zwischen „ist“ und „soll“ unterscheiden muss. So sind die Dinge und so sollen sie sein. Ich kann sagen, Rauchen erzeugt Lungenprobleme. Das ist Wissenschaft und Fakt. Wenn man sagt, man soll nicht rauchen, ist das normativ. Das ist keine Aussage über ein Faktum. Max Weber sagt, Wissenschaft muss immer zwischen einem Faktum und einem Urteil unterscheiden. Da kann man immer darüber streiten, ob es richtig oder falsch ist, das so zu sehen. Jedenfalls war es damals der Wunsch vieler Ökonomen, so sein zu können wie Naturwissenschaftler. Das Faktische und das Normative immer zu trennen. Dennoch war bei bestimmten Ökonomen auch dieser andere Wunsch da, Werturteile zuzulassen. Das war dann die Wohlfahrtsökonomie, die Aussagen zugelassen hat wie: Es ist zwar so, aber es könnte doch auch anders sein. Im 19. Jahrhundert ist das sehr vage formuliert worden: Ziel der Ökonomie muss das größte Glück der größten Zahl an Menschen sein. In der Neoklassik hat man dann gesagt: Ziel ist es, den Nutzen jedes einzelnen Menschen so weit wie möglich zu erhöhen.

Womit wir bei der Nutzentheorie des Individuums gelandet wären …

Nicht nur. Es ist schon um den Nutzen aller Individuen gegangen. Der englische Ökonom Arthur Pigou hat ja in den 1920er-Jahren argumentiert, dass man sehr reiche Leute durchaus höher besteuern könne, um den Armen etwas zu geben. Ein zusätzlicher Euro hat für einen Reichen einen sehr niedrigen und für einen Armen einen sehr hohen Grenznutzen. Aber mit dem Wunsch der Ökonomie, eine Naturwissenschaft zu sein, ist das Problem entstanden, dass man ja eigentlich solche Nutzenvergleiche gar nicht machen kann: Der Nutzen für eine Person kann nicht gemessen werden. Denn vielleicht ist ja alles ganz anders und der relativ gesehen Arme ist schon glücklich und der Nutzengewinn bei ihm ist geringer als der Nutzenverlust beim Reichen. Weil der vielleicht so gierig ist. Wie auch immer. Es war die berühmte Ökonomin Joan Robinson, die erst später – 1933 – über die „Unmöglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche“ geschrieben hat.

Und das Ziel hieß Nutzenmaximierung. Ist mit dieser neuen Lehre Ende des 19. Jahrhunderts, also mit der Neoklassik, auch die Frage nach Verteilung besser zu beantworten? (6)

Man könnte zwar sagen, von Reich zu Arm zu verteilen beziehungsweise eine gleichmäßigere Einkommensverteilung ist gut, aber die neoklassischen Ökonomen haben sich darauf ausgeredet: Man kann das nicht messen, also ist das keine ökonomische Frage. Pareto hat immer gesagt, dass er diesen Maßstab suche. Man könne nie eindeutig sagen, dass die Semmel dem zu geben sei, der hungert – ich muss einen Maßstab finden, der den objektiven Schluss zulässt, dass die Gesamtsituation nach einer bestimmten Maßnahme besser ist als vorher. Pareto hat gemeint, wenn ich jemandem etwas geben kann, ohne dass dann jemand anderer schlechtergestellt ist, erst dann könne man...

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