3. Unsichere Lebensbedingungen in der Metropolregion von Mexiko Stadt
Dieses Kapitel beschreibt die Metropolregion der Stadt Mexiko. Der Schwerpunkt liegt auf den Faktoren, welche die unsicheren Lebensbedingungen konditionieren. Dazu zählen nationale, regionale und lokale Bedingungen (Kokot/Wonneberger, 2006:2). Außerdem kann sich die Unsicherheit „auf die Dauer und Zuverlässigkeit der Einkommensquellen wie auf den legalen Status der Akteure oder ihren Aufenthalt im urbanen Raum beziehen […].“ (ebd.). In der Metropolregion gibt es sehr verschiedene lokale Bedingungen und die Unsicherheit variiert zwischen den einzelnen Akteuren. Ihnen gemeinsam ist das Leben in Mexiko sowie in einer der größten Städte weltweit[18] unter prekären Lebensbedingungen.
Zu den beeinflussenden Faktoren gehören ökonomische und politische Ereignisse, Wirtschaftskrisen, extreme Wetterverhältnisse, Wohnungsnot und eine kaum vorhandene Sozialversicherung genauso wie ein Arbeitsmarkt, der teilweise nur unter extremen Bedingungen den Arbeitern erlaubt zu überleben. Auch interne Faktoren, wie die Demographie und Machtverhältnisse innerhalb der Akteurgruppen und körperliche Beschwerden sowie Schicksalsschläge, können die unsicheren Lebensbedingungen hervorrufen.
3.1 Lokale, regionale und nationale Faktoren: Ein historischer Überblick des relevanten Zeitraums stellt lokale, regionale und nationale Faktoren dar. Zudem werden der Arbeitsmarkt und staatliche Leistungen erläutert.
Der historisch relevante Zeitraum reicht von den 1940er Jahren bis zur Mitte des letzten Jahrzehnts, weil sich auf jenen Zeitraum die ethnographischen Daten beziehen[19]. Die Beschreibung geht vor allem auf Ereignisse ein, welche für die spätere Darstellung des empirischen Materials von Bedeutung sind, wie die Migrationswellen ab den 1940er Jahren und die Folgen einer neoliberalen Politik ab den 1980er Jahren sowie die Wirtschaftskrisen 1982 und 1994. Mexiko, wie auch der Großteil von Lateinamerika, ist in dem erwähnten Zeitraum durch zwei sozioökonomische Transformationen geprägt. Hierzu zählt ab den 1930er Jahren eine nach innen orientierte Entwicklungsstrategie, die Importsubstituierende Industrialisierung (Parnreiter, 2007:91) sowie eine Abwendung von derselben zugunsten eines neoliberalen Wirtschaftsmodells ab den 1980er Jahren (ebd.:8).
Mit Beginn der 1940er Jahre ist ein starkes Bevölkerungswachstum in Mexiko Stadt zu verzeichnen. Dieses ist vor allem auf Land-Stadt Migrationsbewegungen (Schteingart, 1981:100) aufgrund einer Industrialisierung und Intensivierung der Land- und Viehwirtschaft zurückzuführen (Bernecker/Pietschmann/Tobler, 2004:322). Außerdem wird den Menschen aus den umliegenden Kleinstädten und Dörfern durch die Verbesserung der Infrastruktur ein einfacher und preisgünstiger Zugang zur ZMCM ermöglicht (Arizpe, 1980:42).
Bis Mitte der 1950er Jahre findet die Mehrzahl der Immigranten Wohnraum in den bereits bestehenden Strukturen (Schteingart, 1981:100f). Zum Ende der 1950er Jahre beginnt die urbane Ausbreitung in die Peripherie. Durch die Entstehung spontaner Siedlungen – beispielweise durch Landbesetzungen – und funktionaler Subzentren bildet sich der metropolitane Charakter des Stadtgebietes heraus (Wildner, 2003b:100). Bei der Ausbreitung der Stadt werden bereits bestehende Dörfer und Kleinstädte eingemeindet (Ward, 1998:26). Hierbei kommt es zu einer Eingliederung in den urbanen Arbeitsmarkt (Gónzalez Ortiz, 2009:81f), was unter anderem das Zahlen von Steuern beinhaltet (ebd.:123) sowie eine Anpassung des Lebensstils (Gónzalez Ortiz, 2009:86; Aguilar Medina, 1996:8). Des Weiteren steigen die Mieten und der Boden kann nicht mehr für die Agrikultur genutzt werden, da das Land für Wohnungsbau benötigt wird (Castellanos Domínguez, 2004:140; Gónzalez Ortiz, 2009:68). Seit Ende der 1980er Jahre steigt die Bevölkerungszahl in der ZMCM nicht weiter (Wildner, 2003b:18). Die Metropole breitet sich aber aufgrund von fehlenden Wohnraum weiter in die Peripherie aus (Bazant Sánchez, 2001:184f). Heute zieht sich die Metropolregion über den Distrito Federal, den Estado de México sowie einem Munizipium im Bundesstaat Hidalgo (Ribbeck, 2002:30).
Bis in die 1970er Jahre ist ein stetiges wirtschaftliches Wachstum vorhanden. Dieses bietet vor allem soziale Aufstiegschancen für die mittleren Schichten sowie für die Festigung einer Elite (Bernecker/Pietschmann/Tobler, 2004:302f). In Hinblick auf die generelle Einkommens- und Vermögensentwicklung kommt es zu einer starken Polarisierung der Bevölkerung (ebd.:329), welche durch die Wirtschaftskrise 1982 verstärkt wird (ebd.:332). Die Folgen zeigen sich in einem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen, fallenden Reallöhnen und einer Zunahme der Menschen, welche in Bereichen arbeiten, die nicht vom Staat erfasst werden können (ebd.:356), wie die Mehrzahl der Straßenhändler[20] (Cross, 1998b:38). Nach Schätzungen bezieht sich die Anzahl derer, die nach 1982 unter diesen prekären Bedingungen leben in Mexiko Stadt, auf ein Drittel der Einwohner (Bernecker/Pietschmann/Tobler, 2004:344). Vor allem für die unteren Schichten ist die Situation auch in den 1990er Jahren bedenklich (ebd.:356). Dies wird durch die Pesokrise 1994 noch verstärkt (ebd.:358): Die Inflation steigt im Jahr 1995 um 54 Prozent, fast 18.000 Firmen zahlen nicht mehr in die Sozialversicherung ein und 800.000 formelle Jobs gehen verloren (Oliveira/García, 1997:212).
Der Zeitraum von 1940 bis in die 1980er zeichnet sich durch politische Kontinuität aus. Die PRI regiert bis zum Ende der 1960er Jahre unangefochten. Die Politik weist autoritäre Züge auf (Bernecker/Pietschmann/Tobler, 2004:301f). Die Macht der PRI wird gefestigt durch Kooptation[21] innerhalb eines klientelistischen[22] Systems, bei dem der Staat Gefälligkeiten gegen politische Unterstützung vergibt (Cross, 1997:93).
Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre kommt es zu einer Legitimitätskrise der PRI Regierung[23], welche bis zur ihrer Abwahl nur teilweise überwunden wird. In der Krise der 1980er erfährt die Politik eine neoliberale Wendung, welche sich in einem Trend der Wirtschaft zu einer Öffnung nach außen, zu einem Abbau der wirtschaftlichen Rolle des Staates sowie zu Privatisierung und Deregulierung äußert (Bernecker/Pietschmann/Tobler, 2004:346). Durch die neoliberale Wende – hierfür steht charakteristisch der Beitritt zum NAFTA[24] - und die „beschleunigte Modernisierung“ wird die soziale Ungleichheit verschärft und es kommt zu verschiedenen Ausgrenzungsprozessen. Auch steigt die Arbeitslosigkeit an, weil die Mehrzahl der Bewohner sich nicht durch entsprechende Spezialisierungen an die neuen technologischen Entwicklungen anpassen (Linares, 2008:181f).
Ende der 1990er verschärft sich die Krise der PRI (Bernecker/Pietschmann/Tobler, 2004:360). Mit Cuauthémoc Cárdenas Solórzano wird am 6. Juli 1997 ein Vertreter der linken Opposition als Bürgermeister Mexiko Stadts gewählt und 2000 gewinnt der PAN Kandidat Vicente Fox die Wahl zum Präsidenten des Landes (ebd.:361).
Mexikos Präsident und der Bürgermeister vom Distrito Federal werden alle sechs Jahre neu gewählt. Der politische Wechsel resultiert unter anderem in veränderten Regulierungen und Gesetzen. Beispielsweise zeichnet sich die Regierungszeit von Ernesto P. Uruchurtus (1952-1966) durch einen Verbot des Straßenhandels aus (Cross/Pineda Camacho, 1996:98). In anderen Zeiträumen wird der Straßenhandel toleriert (ebd.:101).
Die ZMCM wird mit den folgenden Begriffen in Verbindung gebracht: „Fragmentierung“, „Abschottung“, „zunehmender Segregation“ und „Enklavenbildung“ (Becker et al, 2008:17). Dies zeigt sich beispielsweise in der Peripherie, wo ein Nebeneinander von Gated Communities und informellen Siedlungen besteht (Wildner, 2003b:100).
Nach Ward (1998) führt der spezifische Aufbau der Stadt zu einer „Reproduktion der Armut“. Danach sind mit dem Leben in bestimmten Vierteln, wie dem Großteil der informellen Siedlungen, hohe soziale Kosten verbunden. Diese werden beibehalten und reproduziert durch die physische Umgebung (210). Dies zeigt sich am folgenden Beispiel. Das Fehlen von Infrastruktur, wie ein schlechter Zugang zu kostengünstigen Gesundheitszentren (ebd.:210) sowie eine höhere Krankheitsrate aufgrund schlechter hygienischer Zustände (ebd.:206), erhöhen Ausfälle bei der Arbeit durch Krankheit. Auch muss Zeit aufgebracht werden, um die fehlende Infrastruktur zu ersetzten. Durch den zeitlichen Aufwand können beispielsweise Kinder nicht zur Schule gehen und die Arbeitszeit der Erwerbstätigen wird eingeschränkt (Parnreiter, 2007:127; Ward, 1998:225-230). Durch diese Nachteile werden Unterschiede in einer bereits stratifizierten Gesellschaft verschärft und soziale Gruppen separiert (Ward, 1998:216). Durch die Vorteile anderer Gruppen und einer ungleichen Verteilung wird die Differenzierung beibehalten (ebd.:217).
Am Beispiel der ehemals informellen Siedlung Santo Domingo[25] sowie der Ethnographie von Kemper (1977) zeigt sich, dass die Reproduktion der Armut nicht immer...