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E-Book

Wo samstags immer Sonntag ist

Ein deutscher Student in Israel

AutorMarkus Flohr
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644304314
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Wenn ich Jude wäre, hätte ich genug von den Deutschen. ?Die Frage ist, warum man überhaupt nach Israel fährt?, sagte Friedrich. ?Ich meine: Was willst du hier? Es kommen viele, die glauben, es sei sehr edel von ihnen, nach Israel zu fahren. Weil sie den Juden helfen wollen. Oder den Palästinensern. Oder den Christen. Auf jeden Fall helfen und versöhnen. Du kannst ja sagen, es gehe dich nichts an. Aber das stimmt nicht!?» Selten hat jemand so frei und humorvoll über Beklemmungen und Missverständnisse, Politik und Religion geschrieben und dabei ein so einnehmendes Bild von Israel gezeichnet. Ein Buch über das Land, in dem alles heilig ist - fein beobachtet, direkt und komisch.

Markus Flohr, geboren 1980 in Hannover, ist Journalist. Er studierte Geschichte in Hamburg und Jerusalem, besuchte anschließend die Henri-Nannen-Schule, war Redakteur bei Spiegel Online. 2011 wurde er mit dem Buchpreis Hirzen ausgezeichnet. Heute arbeitet er als Autor für Spiegel, Merian und Die Zeit. Außerdem unterrichtet er Journalistisches Schreiben an der Universität Hamburg. Sein großes Interesse gilt der dritten Generation nach der Schoah. 'Alte Sachen' ist sein erster Roman. Markus Flohr lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Hamburg und Tallinn.

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Leseprobe

«A little bit lucky»


Im Fußball hat Israel selten etwas gerissen. Sicher, Hapoel Tel Aviv hat neulich den HSV geschlagen. Vor 40 Jahren soll ein israelisches Fußball-Team bei der WM gewesen sein. Und dann gibt es Jossi Benajoun, der erst beim FC Liverpool Tore schoss und jetzt bei Chelsea London auf der Bank sitzt. Das war’s.

Ich saß im Wohnzimmer meiner neuen Wohnung und las den Sportteil der «Jerusalem Post». Gestern war ich eingezogen. In meinem Zimmer stand nur eine Reisetasche, meine Kleidung hatte ich über das Bett verteilt und eine Postkarte von den Hamburger Landungsbrücken an die Wand geklebt. Im Wohnzimmer sah es auch nicht heimeliger aus, aber dafür war der Kühlschrank nicht so weit weg. Das Problem: Er stand in der Küche. Dort bewegte ich mich noch wie auf heißen Kohlen. Immer von der Angst begleitet, alles auf Jahrhunderte hin zu ent-koschern. Fürs Erste beschloss ich, alle Fleischgerichte von meinem Ernährungsplan zu streichen und ausschließlich Wasser zu trinken.

Die «Jerusalem Post» misst dem Sport keine größere Bedeutung bei, heute reichte es für ganze zwei Seiten. Die Hauptmeldung: Israel spielte am Wochenende in Luxemburg, WM-Qualifikation. Der Trainer warnte vor den gefährlichen Luxemburger Konterstürmern. Mein Magen knurrte. Ich sah zum Kühlschrank, lauschte in die Wohnung. Totenstille.

Nun nahm ich allen Mut zusammen, stand auf und ging rüber zum Kühlschrank. Irgendwann musste ich es wagen. Gestern Abend hatte ich mit Ruths Hilfe einen Lageplan der Küche in meinen Taschenkalender gezeichnet. Darauf war genau zu erkennen, wo sich das Besteck und die Teller für die Milchprodukte befanden und wo der Kram fürs Fleisch. Ich schlug den Kalender auf und sah mir die Zeichnung an. Leider wusste ich nicht mehr, wie herum ich sie halten musste. Waren nun die roten Sachen fürs Fleisch? Rot = Blut? Oder genau umgekehrt? Blau = Rohes Fleisch? Außerdem hatte ich die Begriffe mit Ruths Hilfe auf Hebräisch geschrieben, sehr zu ihrer Erheiterung: «Like a Russian granny!» Ich schüttelte über sie, die russische Oma und mich selbst den Kopf.

Schließlich nahm ich einen Teller mit rotem Rand aus dem Schrank, ein Brot aus dem Korb und ein Messer aus der Schublade. Ich betrachtete diese Dinge, hielt sie vor mir in die Luft und war mir nicht sicher, ob es die richtigen waren.

Ich bestrich das Brot mit Margarine und legte eine Scheibe Käse drauf. Plötzlich war Joel in der Küche. Ich schob den Teller zur Seite und stellte mich so davor, dass er ihn nicht sehen konnte.

«Hi Joel! Auch hungrig?»

Er nickte. Ich beobachtete ihn genau. Er tat exakt das Gleiche wie ich: Er nahm ein Messer – aus der gleichen Schublade. Ein Stück Brot – aus dem gleichen Brotkorb. Einen Teller – mit rotem Rand. Hurra. Dann ging er zum Kühlschrank – und zog die Geflügelsalami heraus. Geflügelsalami, das ist Fleisch. Kein Käse. Keine Milch. Alles falsch gemacht. Ich wollte augenblicklich im Boden versinken. Entsetzt fühlte ich hinter meinem Rücken nach dem Teller mit dem roten Rand, mit dem Brot, auf dem der Käse lag. Holy shit. Ich fürchtete, der Teller würde jeden Moment wie eine Auto-Alarmanlage zu piepen beginnen.

Ich war kaum einen Tag in diesem Haus, und schon hatte ich Joel in eine Krise mit Gott gestürzt, denn zumindest mein Teller war jetzt nicht mehr koscher. Und das Messer? Schnell nahm ich einen blauen Teller aus dem Regal, schob ihn zwischen den roten und das Brot und hoffte, dass Joel es vielleicht nicht gesehen hatte. Wenn er nicht wüsste, dass ich die Sachen verwechselt hatte, könnte Gott ihm das nicht zu seinem Nachteil auslegen, dachte ich. Für mich galten diese Regeln, rein religionstheoretisch, nicht. Das war doch nur logisch. Ich nahm den oberen Teller, ging zügig zurück zum Tisch, aß noch zügiger mein Brot und las im Sportteil.

Hapoel Tel Aviv ist gegen St. Étienne aus dem UEFA-Pokal geflogen. Ein iranischer Schwimmer hat sich bei der WM geweigert, mit einem Israeli gleichzeitig in den Pool zu steigen. Und: Lothar Matthäus wird zur neuen Saison Trainer von Maccabi Netanya.

Lothar! Ich versuchte mir Lothar vorzustellen, wie er in der Kabine bei Maccabi Netanya stand und zwanzigjährigen Israelis erklärte, wie sie gegen den Ball treten sollten. Auf einmal fühlte ich mich tief verbunden mit Lothar. Er erlebte vielleicht in etwa das, was ich gerade in unserer Küche erlitten hatte. Oder? Als Lothar für eine Saison in den USA spielte, sagte er auf einer Pressekonferenz: «I hope we have a little bit lucky.» Das war schon einer seiner stärkeren Sätze gewesen. Von der Pressekonferenz gab es einen Clip, den man sich noch Jahre später auf YouTube anschauen konnte. Ich holte meinen Computer und suchte nach dem Clip.

Joel setzte sich neben mich an den Tisch.

Ich lachte nervös. «Rot, blau – gar nicht so einfach.»

«Nein. Gar nicht so einfach. Habe ich gesehen. Ich wollte am Wochenende sowieso die Küche re-koschern.»

«Ach, das geht?»

«Ja. Mit Besteck jedenfalls.»

«Wie denn?»

«Du legst es einen Tag lang in Seifenlauge ein und steckst es anschließend im Garten in die Erde.»

«Und die Teller?»

«Die nicht. Die können wir jetzt wegschmeißen.» Ich glotzte betreten auf meinen Computer. YouTube hatte den Lothar-Clip gefunden. 22000 Klicks. Gleich daneben ein neuer Film: «Lothar in Israel». Lothar steht da auf dem Flughafen Ben Gurion, kurz nach der Landung, und muss seine Fußball-Philosophie erklären. Das geht so:

«Here in Israel we have to work a lot to be on the same standard like in Germany. Specially the INFRASTRUKTUR. We must to do better. (...) Specially not for us. For the future, for the children. This was my speaking. We must to work hard. Every day. Each player must to work hard all over the world. Not only my players. Everyone must to work hard. To be ready to go into the game in the Coupe Uefa or in the Championship everybody must to work hard. (...) I like to change the style of the football of Maccabi Netanya. My player like to play football – my player like to play with each other. (...) Like Arsenal or Barcelona. We must to work hard.»

Dieser Film hatte schon 5000 Klicks. Heute war ich auch ein Lothar, dachte ich und sah mir einen anderen Film mit seinen tollsten Toren an. Und noch einen: Lothar, wie er 1990 Deutschland Richtung WM-Titel schoss. Meine Cousine hatte damals einen Brief an ihn geschrieben, um ein Autogramm zu bekommen. Lothar hatte nie geantwortet, seitdem mag unsere Familie Lothar eigentlich nicht mehr.

Ich träumte noch ein wenig von der WM 1990, da landete auf meinem Schoß ein Motorradhelm. Simson hatte ihn geworfen. Er rief: «Los. Komm, Deutscher. Fußball.»

Der Helm fiel mit einem Krachen auf den Steinboden. Joel verdrehte die Augen und ging. Simson zuckte mit den Schultern und blickte mitleidig auf mich herab.

«Ins Tor gehst du nicht. Komm jetzt, mein Scooter steht unten bereit.»

Ich hob den Helm auf, zwängte meinen Kopf hinein, holte schnell meine Schuhe und mein braun-weißes Trikot. Auf der Treppe begegnete ich Joel. Ich sah ihn durch das Visier an.

«Was hast du denn jetzt vor?»

«Fußball spielen.»

 

Simsons Scooter kam aus Japan, war rot und sehr dreckig. Auf dem Lenker klebte ein Sticker, auf dem eine Figur zu sehen war, die wie ein Kung-Fu-Kämpfer einen Arm nach vorne streckte und dabei in einer riesigen Sichel stand. Simson drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor aufheulen. Ich nahm hinter ihm Platz. Mit einem Ruck raste der Roller los. Vor Schreck schlug ich beide Arme um Simsons Hüften. Er stöhnte, verlor das Gleichgewicht, wir stürzten. Ich schlug mit dem Helm gegen einen Laternenpfahl. Simson rollte sich ab und stand in einer Bewegung wieder auf den Beinen. Er schrie mich an. «Ma seh? Ma atah osseh? Atah meschuggah? Eise Germani! Eise Nazi! You want to kill me? You want to finish the Holocaust?»

Er griff mir unter die Arme, hob mich hoch, sodass ich fünf Zentimeter über dem Boden schwebte. Dann schlug er seinen Helm an meinen.

Klong. Er setzte mich ab. Wir schwiegen. Er ging zum Roller und richtete ihn auf. Er trat gegen das Seitenblech, rastete den Lenker ein. Er sah zu mir.

«Möchtest du fahren?»

Mochte ich nicht.

Als wir wieder losrollten, hielt ich mich am Gepäckträger fest. So gut es eben ging. An der Ampel bremste Simson, ich klammerte mich tapfer an den Roller. Wir bogen ab auf die Hebron-Straße. Sie hat drei Spuren, die Autos fahren so schnell wie auf einer deutschen Autobahn und so vorsichtig wie beim Auto-Scooter.

40 Kilometer pro Stunde.

Wir überholten rechts einen weißen Kleinwagen, am Steuer eine Frau mit Brille. Sie schüttelte den Kopf.

50 Kilometer pro Stunde.

Simson fuhr Slalom durch drei Kleinlaster, wir überholten links einen grünen Chevrolet. Der Fahrer hupte und zog sein Auto zu uns rüber. Ich hielt aus einem Reflex die Hand raus, um ihn auf Abstand zu halten. Sie schlug gegen seinen Seitenspiegel. Ich wollte mich umsehen, ließ es dann aber bleiben. Der Fahrtwind. Tatsächlich war ich froh, dass wir nun ...

60Kilometer pro Stunde

... fuhren, auch wenn ich mich kaum noch auf dem Sozius halten konnte....

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