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E-Book

Wo sind die Toten von Hoheneck?

Neue Enthüllungen über das berüchtigte Frauenzuchthaus der DDR

AutorEllen Thiemann
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783776682076
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
'Ihr Delikt kommt gleich nach Massenmord', nahm man Ellen Thiemann im Gefängnis in Empfang. Verurteilt worden war sie für versuchte Republikflucht. Zwei Jahre lang ging sie durch die Hölle von Hoheneck. Sie erlebte mit, wie verzweifelte Strafgefangene Suizid begingen, und ertrug selbst grausame Folterungen. Sie schildert, wie Müttern die Kinder durch Zwangsadoptionen entrissen und Inhaftierte durch verordneten Missbrauch von Psychopharmaka ruhiggestellt wurden. Noch nach dem Mauerfall erlitten einstige Gefangene Repressionen durch die Stasi, deren Funktionäre bis heute wichtige Positionen in unserer Gesellschaft bekleiden und aus Selbstschutz die Opfer von früher angreifen. Die Journalistin hört nicht auf, die Verbrechen der DDR-Diktatur anzuprangern.

Ellen Thiemann,1937 in Dresden geboren, wurde 1973 zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Republikflucht verurteilt. 1975 durfte sie in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen, wo sie als Ressortleiterin für Express arbeitete und Exklusiv-Reportagen für Bild am Sonntag und verschiedene Regionalzeitungen schrieb. Heute ist sie gefragte Zeitzeugin bei Film und Fernsehen. Die Autorin lebt in Köln.

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Leseprobe

Akteneinsicht 2012

Neues aus dem Stasi-Sumpf: IM »Spree« und IM »Aster«

Die Hölle von Hoheneck: Angst einflößender Gefängniskoloss, Gitter über Gitter, Endlosgänge, Metalltreppen. Diskriminierungen, Hunger und Verzweiflung. Massen von weiblichen Häftlingen unterschiedlichen Kalibers, degradiert zu Vogelscheuchen in ihrer schauerlichen Anstaltskluft. Brüllendes Personal, mit Schlagstöcken bewaffnet.

Als mir 1973 in diesem Horrorszenario das erste Mal eine ganz bestimmte Aufseherin begegnete, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Zwar zeigten die Sternchen auf der Schulter nur den Dienstrang einer Frau »Meister«. Aber was ich sah, stand im krassesten Gegensatz zum übrigen Personalbestand des berüchtigten Frauenzuchthauses. Ich blickte in ein perfekt geschminktes, hübsches Gesicht. Das glänzende, schulterlange Haar schimmerte leicht rötlich. Und selbst die verhasste Uniform wirkte an dieser Gefängniswärterin ausgesprochen sexy. Ihre Figur war perfekt, die langen, wohlgeformten Beine und ein sensationeller Gang rundeten die Erscheinung optisch ab. Die meisten »Erzieherinnen« und »Wachteln« erschienen damals grobschlächtig oder maskulin. Viele von ihnen hörte man den ganzen Tag nur Kommandieren oder Herumbrüllen.

Aus diesem Haufen stach die Geschilderte deutlich hervor: Frau Meister Iris Demmler. Ich habe sie in der Zeit von 1973 bis 1975 nicht ein einziges Mal schreien, unsachlich oder andere schikanierend erlebt. Lediglich bei einem Besuch meines Mannes Ende November 1974 gab es eine Zurechtweisung für mich.

1 Deckblatt der Stasi-Akte von Iris Demmler/Wetzel alias IM »Spree«, angelegt am 26. Juni 1970

Im Jahr 2012, fast 40 Jahre später, ermittelte ich: Die bildhübsche Iris Demmler, später verheiratete Wetzel, war Stasi-IMS »Spree«.

Damals hatte ich Meister Demmler auf 25 Jahre geschätzt. Heute weiß ich, dass sie 1949 in Zwickau geboren wurde, dort auch zur Schule ging, das Abitur in Verbindung mit einem Facharbeiterabschluss ablegte. Nach einjähriger Tätigkeit in einem VEB wurde sie im Oktober 1969 als Wachtmeisterin im Aufsichtsdienst des Frauenzuchthauses eingestellt. Schon im Juni 1970 hatte sie sich der Stasi als IM »Spree« verpflichtet. Ihre unmittelbaren Kontaktpersonen im Strafvollzug waren die unter den Häftlingen nur mit Spitznamen bekannten Hauptamtlichen des MfS »James« alias Klaus-Peter Schoch und »Daisy« alias Helga Göllnitz.

In einer ersten Beurteilung durch Stasi-Leutnant Enderlein heißt es im Juni 1970 über Demmler:

»Seit Beginn ihres Dienstes im operativen Zugdienst tritt sie korrekt gegenüber den Strafgefangenen auf. Es ist zu erkennen, daß sie ihre Aufgaben mit Umsicht und Eigenverantwortung löst. Sie wurde am 21. April 1970 vereidigt und hat von Oktober 1969 bis Januar 1970 an einem Dienstanfänger-Lehrgang teilgenommen, den sie mit guten Ergebnissen abschloss. Die Kandidatin ist für die Tätigkeit als IMS geeignet. Auf Grund ihrer Verbindungen zu den ledigen SV-Kräften ist sie über Vorkommnisse in den Unterkünften, Kontakte zu Männern, Interessengebiete und Verhaltensweisen der SV-Angehörigen informiert. Sie kann es ohne weiteres einrichten, daß sie über Nacht in Hoheneck bleibt.«

Und während Iris Demmler anfangs vornehmlich über Kolleginnen ausgehorcht wurde, änderte sich das im Laufe der Zeit. Sie musste künftig über Verbindungen zu zivilen Personen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Anstalt berichten.

Mit ihr zusammenarbeiten sollte eine Kollegin mit Decknamen »Veilchen«, die ich als die aus Oelsnitz stammende Inge Pickert, Jahrgang 1936, entschlüsseln konnte. In Hoheneck war sie offiziell seit Juni 1969 als Kaderleiterin tätig. Inoffiziell schwärzte sie ab Oktober 1969 vorwiegend Kollegen an – die kleine Wachtmeisterin genauso wie die Erzieherin, den Chefarzt wie auch die Anstaltsleitung. Und weil sie sich positiv entwickelte, ab 1970 steuerte sie andere Spitzel wie IMS »Alfons Brückner«, IMS »Radj« und GMS »Harald Schulze«, wurde sie umregistriert von der IMS zur FIM (Führungs-IM). Als ihre unmittelbaren Dienstvorgesetzten wurden neben IMS »Spree« alias Iris Demmler auch noch GMS »Huster« in den Akten genannt.

Hinter IM »Huster« verbirgt sich der 1919 in Großgollnisch geborene Heinz Scholz. Ende 1960 wurde er in Hoheneck als Stellvertreter Allgemein eingesetzt, ab Ende 1968 als Anstaltsleiter, ab Januar 1972 als stellvertretender Leiter des Strafvollzugskommandos Karl-Marx-Stadt.

Der erste offizielle Auftrag für Iris Demmler alias »Spree« lautete, dass sie ausspähen sollte, wer Westfernsehen und -radio einschaltete. Das tat sie dienstbeflissen und kletterte auf der Karriereleiter sehr schnell nach oben. 1973 trat sie in die SED ein, 1974 wurde sie als »Erzieherin« eingesetzt. Drei Jahre später erwarb sie im Fernstudium den Fachschulabschluss »Erzieher für Jugendheime«. 1977 wurde sie zum Unterleutnant des Strafvollzuges ernannt. Auch ihre Heirat fiel in dieses Jahr. 1983 wurde sie als »Offizier für staatsbürgerliche Erziehung und allgemeine Bildung der Strafgefangenen« eingesetzt. Im Juli 1984 beförderte man sie zum Oberleutnant.

Sie hielt sich häufig in den Räumen der Staatssicherheit auf, die in einem Quergebäude des Zuchthauses in der ersten Etage angesiedelt waren. In einer Einschätzung von Stasi-Hauptmann »Daisy« vom Januar 1985, der Iris Demmler seit 1982 unterstand, erfährt man, dass sie zur Kontrolle und operativen Bearbeitung negativer SV-Angehöriger im Freizeitbereich eingesetzt war und dabei hohe Einsatzbereitschaft zeigte. Des Weiteren wurde sie mit konspirativer Arbeit unter den Strafgefangenen betraut und zur Bespitzelung der Erzieher eingesetzt. Ein Karrieresprung binnen zehn Jahren, der seinesgleichen suchte.

Interessant liest sich ein handschriftlicher Bericht vom November 1972. »Spree« erläuterte, welche Strafgefangenen nach der Amnestie vom Oktober 1972 nach ihrer Entlassung in die DDR auch weiterhin für die volkseigenen Betriebe tätig sein wollten. 15 amnestierte Häftlinge meldeten sich insgesamt für Elmo (Motoren), Esda (Strumpfhosen) und Thalheim (Bettwäsche). Das Elektromotorenwerk lehnte eine Beschäftigung ab mit der Begründung, dass man keinen Wohnraum für die Amnestierten beschaffen könne.

Bei einem vierstündigen Treff mit »James« im September 1973, da befand ich mich drei Monate in Hoheneck, beklagte sich IM »Spree« über eine Reihe junger Mädchen, die gerade ihren Dienst in Hoheneck begonnen hätten:

»Es handelt sich ausschließlich um Abiturientinnen. Ich gewann den Eindruck, daß alle bisher sehr lustlos und gleichgültig ihren Dienst verrichten. (…) Diese SV-Angehörigen sind nach fast einem Monat noch nicht einmal völlig eingekleidet (keine vollständige Uniform, keine Uniformschuhe). Offensichtlich ist mit ihnen noch nicht richtig gesprochen worden, denn sie kennen nicht die einfachsten Regeln des militärischen Anstandes, Auftretens und Äußeren (Einige sehen aus wie Teenager, aber nicht wie SV-Angehörige).«

Diese Beschreibung bringt mich zum Lächeln. Meister Demmler sah in ihrem Minirock auch nicht gerade wie eine typische Gefängniswärterin aus. In dem Bericht plauderte sie auch über ältere Kolleginnen Details aus. Beispielsweise, dass eine Genossin Obermeister häufig Textilien unterschiedlicher Größe unter den Kolleginnen verkaufe, die sie von ihrer in Berlin wohnenden Schwester mitbrächte, die angeblich beim MfS tätig sei.

Dann fiel mir eine Aufzeichnung in die Hände, die für mich besonders interessant ist. Meister Demmler gab in einer Tonbandabschrift vom Januar 1974 an, dass ein Pfarrer aus Karl-Marx-Stadt sie Ende November 1973 angerufen und verlangt habe, dass er in Hoheneck Gottesdienst abhalten dürfe. Ich erinnere mich, dass Bärbel K. bei einem Zusammentreffen mit ihrem Mann, der in Cottbus eingesperrt war, erfahren hatte, dass dort regelmäßig Gottesdienste stattfanden. Sie informierte ihre Eltern im nächsten Brief und die wiederum wollten sich wegen Hoheneck bemühen. Dass diese Angelegenheit im Frauenzuchthaus Hoheneck abgeblockt wurde und man sich nicht an die einfachsten Regeln und Gesetze hielt, war typisch für diese Zeit.

Demmler behauptete, dass kein Interesse seitens der Gefangenen bestünde. Außerdem gab sie zu Protokoll: »Mir ist bekannt, dass der überwiegende Teil der Strafgefangenen, die nach § 213 verurteilt sind, ständig danach trachten, kirchliche Veranstaltungen besuchen zu können, sie stellen entsprechende Fragen an die Erzieher, werden jedoch abgewimmelt.«

Anfang August 1976 vertraute sich eine Inhaftierte ausgerechnet Iris Demmler mit einem sehr heiklen Thema an. Sie wäre vor einiger Zeit zu »James« gebracht worden und hätte Angst davor, künftig Aufträge zum Aushorchen anderer Gefangener zu erhalten. Demmler riet der ahnungslosen Gefangenen, die seit dem Gespräch unter starkem psychischem Druck litt und nicht mehr schlafen konnte, »dass sie mit anderen SG keinesfalls darüber sprechen soll, dann würde sie ihre Lage erst recht verschlimmern. Sie solle ihre Bedenken dem MfS vortragen, wenn sie wieder geholt wird. Sollte sie nicht klarkommen, dann soll sie sich wieder an mich wenden.«

Diese Frau war offenbar in einen großen Gewissenskonflikt geraten. Einerseits hatte sie sich als Zellenspitzel anwerben lassen, andererseits kam sie im Kreis ihrer Mitinhaftierten dann doch nicht klar damit.

In einem ausführlichen Bericht Ende August 1974 meldete Demmler bei »James« über eine Erzieherin mit Dienstrang Leutnant, dass diese sich im Allgemeinen zu den wegen »Staatsverbrechen« und...

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