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E-Book

Wolle

Ein Fan zwischen Ost und West

AutorAlex Raack
VerlagTropen
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783608108873
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Es ist das Jahr 1982, Wolfgang Großmann, genannt Wolle, sitzt in einer Zelle der Stasizentrale Dresden. Er ist Staatsfeind, weil er Fan des falschen Vereins ist - Fan von Borussia Mönchengladbach. Wolle wird kurz vor dem Bau der Berliner Mauer in Mönchengladbach geboren, doch bereits zwei Jahre später ziehen seine Eltern mit ihm nach Dresden. Als die innerdeutsche Grenze geschlossen wird, zerschlagen sich alle Hoffnungen, wieder in die BRD reisen zu können. In Dresden verliebt sich »Gladbach-Wolle« in die Borussia aus seiner Geburtsstadt - und rebelliert, wo er nur kann. Als Jugendlicher wird er zum Rowdy, der Fußball wird sein Ventil für die Wut auf das DDRRegime. In Mönchengladbach kennt bald jeder den durchgeknallten Ossi, der sich aus Liebe zum Verein von der Stasi verfolgen lässt. Als sein Ausreiseantrag 1985 endlich genehmigt wird, zieht es ihn natürlich an den Ort seiner tiefsten Sehnsucht ... Wolles Biographie ist die Geschichte eines glühenden Fußballfans, der nie müde wird, für seine Freiheit zu kämpfen. Eine dramatische Geschichte voller Verrücktheiten, die zeigt, was die Liebe zum Fußball bewegen kann. »Wolle, wir kommen hier niemals raus. Aus diesem beschissenen Land.«

<p>Alex Raack, geboren 1983 in Celle, war bis September 2016 Redakteur für das Fußballmagazin »11FREUNDE«, nun schreibt er als freier Autor über seine Leidenschaft. Seine Biographie über Uli Borowka »Volle Pulle. Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker« avancierte zum Spiegel-Bestseller. Bei Tropen erschien zuletzt »Wolle« (2018). <br /></p>

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Leseprobe

2

Weistropp


Eigentlich ist Wolles Großmutter Elisabeth Knübben an allem schuld. Die Dame wohnte Mitte der fünfziger Jahre mit ihrem Mann Martin in Rheindahlen, ein paar Fußballfelder von Mönchengladbach entfernt. Oma Elisabeth hatte sieben Kinder, davon vier Töchter, und die sollten gefälligst anständige Burschen heiraten. Die drei jungen Männer, die 1956 der Arbeit wegen aus dem fernen Weistropp bei Dresden nach Rheindahlen kamen, fand die Oma anständig genug. Also nahm sie sich vor, Hans Großmann und seine beiden Cousins Herbert und Harald mit ihren Töchtern zu verkuppeln. Frauen können das einfach. Herbert heiratete Käthe und Hans ihre Schwester Antoinette, die alle nur Anita nennen. Am 5. Juni 1957 kam ihr erstes Kind zur Welt. Hans und Anita gaben ihm den Namen Wolfgang. Der war zwei Jahre alt, als seine Eltern entschieden, ihren Lebensmittelpunkt in den Osten zu verlegen. Die Behörden in Weistropp, der Heimat von Hans, hatten ihnen eine Wohnung zugesagt. Und Anita Großmann noch ganz andere Dinge versprochen.

Das ist Wolles Urkatastrophe: die Erinnerung daran, wie die DDR-Behörden seine Mutter beschissen. Wie sie ihr, die ihre Wurzeln in Westdeutschland hatte, versprachen, jederzeit in die Heimat reisen zu können, wenn ihr denn danach sei. Wie sie ihr in die Augen schauten und dabei logen. Spätestens, als in Berlin im August 1961 eigentlich niemand die Absicht hatte, eine Mauer zu bauen, und dann doch eine gebaut wurde, war Wolles Mutter Anita in der DDR eingesperrt. Schon bei unserem ersten Gespräch, erzählte mir Wolle: »Meine Mutter ist daran zu Grunde gegangen.« Und dann hatten sich seine Augen mit Tränen gefüllt. Das wird sich in den kommenden Wochen und Monaten wiederholen, sobald ihm diese große Ungerechtigkeit wieder ins Gedächtnis kommt. Sie hat Wolles Leben entscheidend beeinflusst. Manchmal haben ihm die Emotionen geholfen, seinen Weg zu gehen. Sehr häufig aber waren sie wie Räuberbanden am Wegesrand, die einem alles nehmen. Und dann musste auch er wieder von vorne anfangen.

Doch selbst als eine Mauer das Leben in der DDR erschwert, wollen sich Hans und Anita nicht davon abhalten lassen, ein eigenes Leben aufzubauen. Wolfgangs Bruder Dieter kommt 1961 zur Welt, Nachzüglerin Carmen 1965. Die Familie wohnt zunächst in einer Dachgeschosswohnung, direkt über einem Gasthof, den Hans und Anita später einige Zeit lang nebenbei bewirtschaften. Links die Schlafzimmer, in der Mitte das Wohnzimmer, rechts die Küche, Etagenklo. 1963 folgt der Umzug in ein ehemaliges Altersheim am Rande des Dorfes, mehr Platz, ein Aufstieg. Hans arbeitet als Kranführer und Staplerfahrer für den VEB Wärmegerätewerk Dresden im nahen Cossebaude, Anita wird in der Gießerei eingestellt. Die Großmanns sind beliebt. Wenn Wolles Vater mit seinem Stapler über das Firmengelände rollt, rufen die Kollegen: »Da kommt der lachende Hans!« Weistropp ist von fruchtbaren Feldern umgeben, in den Gärten züchten sich die Menschen, was sonst schwer zu bekommen ist. Der leichte Aufschwung der DDR-Wirtschaft durch das »Neue Ökonomische System« ist auch auf dem Land zu spüren.

Wolle erinnert sich an volle Felder und Vesper mit Verpflegungsbeuteln voller Obst und Wurst. In Gedanken klaut er gerade Äpfel, Birnen und Kirschen beim Nachbarn und fackelt bei seiner ersten heimlichen Kippe aus Versehen das Kornfeld ab. »Ich hatte eine schöne Kindheit.«

Kinder können noch nicht so viel mit Grenzen anfangen. Und doch wird Wolle regelmäßig daran erinnert, dass dort, hinter jener ominösen Mauer, eine andere Welt existiert. Eine Welt, in der er geboren ist und aus der als Abgesandte die Verwandtschaft seiner Mutter alle paar Monate aufschlägt. Tanten, Onkel, Großeltern und Cousins kommen mit West-Kaffee, West-Kaugummi, West-Kondensmilch, West-Schokolade. Wolle trägt West-Jeans und West-Hemden. Mit 13 nimmt ihn ein Lehrer zur Seite, um Wolle zu fragen, ob er diese todschicken Stiefel mit Fransen selbst gestaltet hat. Und Wolle kräht: »Die hab’ ich aus’m Westen!« Was ihm mal wieder Ärger einbringt.

Er weiß nicht, dass die Verwandten seiner Mutter auf Urlaube verzichten, um die in der Zone Eingesperrten mit Produkten aus der Heimat zu beliefern. Wenn die Familienmitglieder wieder abreisen, sieht Wolle den Abschiedsschmerz seiner Mutter, rennt anschließend über die Wiesen zur nahegelegenen Bahnstrecke und winkt dort wie wild dem Zug, der mit hoher Geschwindigkeit ganz offensichtlich seine Verwandten in den Westen bringt. Erst Jahre später erfährt Wolle, dass er in all den Jahren einem anderen Zug gewunken hat.

Wolle verbringt sein noch junges Leben mit dem Pflücken von Beeren und Birnen, die seine Mutter dann einkocht. Er macht Heu und schaut seinem Opa, dem einzigen Parteimitglied der Familie, dabei zu, wie er Hasen mit der Handkante tötet. Er liebt die Matchbox-Autos und Legosteine der Gladbacher Verwandtschaft. An einem Weihnachtsfest bekommt Wolles Vater von seinem Schwager einen Satz Gläser mit den Gesichtern der Spieler von Borussia Mönchengladbach geschenkt. Hans Großmann ist großer Fan von Dynamo Dresden, die Fahne seines Herzensclubs ist selbstverständlich an seinem Gabelstapler befestigt. Sein Sohn schenkt den Gläsern zunächst wenig Beachtung. Fan ist er eher von den älteren Jungs, die Fuchsschwänze an ihren Jawa-Motorrädern befestigt haben und im Wald angeblich Mädchen knutschen. Er spielt Fußball. Und fast noch lieber Indianer. Den Besuch im Karl-May-Museum in Radebeul wird er nicht vergessen. Er baut Kanus, die absaufen, und schließt Freundschaften, die ein Leben lang halten sollen. Sein Freund Ulrich und er werden sogar Blutsbrüder und ritzen sich dafür mit einer alten Glasscherbe in die Hand.

»Wir haben uns damals geschworen, einmal zusammen nach Amerika zu fahren«, sagt Wolle. »Nur wussten wir noch nicht, dass das unmöglich war.«

Wolles erste große Liebe heißt tatsächlich Lolita. Der 13-Jährige lässt sich den Kopf verdrehen und lernt, dass das auch wehtun kann. Er ist nicht, wie so viele andere, in der FDJ, wird kein Pionier. Auch wenn die Stasi-Akten etwas anderes behaupten. Seine Mutter ist katholisch erzogen worden, inzwischen aber zum evangelischen Glauben übergetreten. Die Großmanns sind keine großen Kirchgänger, aber linientreu sind sie ganz sicher nicht. Wenn Wolles Opa seinen realsozialistischen Zeigefinger hebt, nehmen sie ihn nicht ernst. Auf dem Dorf ist das noch möglich. Hier gelten eigene Gesetze, die sein Vater entsprechend ausnutzt. Wie fast alle im Dorf haben auch die Großmanns eine meterlange selbstgebaute Antenne im Garten stehen. Damit bekommen sie, unweit vom Tal der Ahnungslosen in Dresden, West-Programme rein. Wolle wächst mit Bonanza, Rauchende Colts, Am Fuß der blauen Berge und Daniel Boone auf, was seine Leidenschaft für Cowboys und Indianer nur noch verstärkt. Dazwischen laufen Lieber Onkel Bill, die Hafenpolizei und natürlich der Sandmann. Als im März 1971 Muhammad Ali zum Kampf des Jahrhunderts gegen Joe Frazier antritt und verliert, darf Wolle mit seinem Vater die Nacht zum Tag machen.

Ein schönes, ein unbeschwertes Leben. Die Schatten sind noch klein, aber es gibt sie. Wie an jenem Tag, als sowjetische Soldaten beim Rangieren eines LKWs einen Jugendlichen aus dem Dorf überfahren und die Tragödie unter den Tisch gekehrt wird. In der Schule macht Wolle im Russischunterricht einen vermeintlich sowjetfeindlichen Spruch, irgendwie muss man so etwas ja verarbeiten. Der Lehrer schickt Wolle daraufhin nach Hause, seine Eltern werden zum Direktor zitiert – und geigen dem Mann so intensiv die Meinung, dass der viel zu baff ist, weitergehende Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen. Als Wolle an einem Sommertag sein West-Radio auf dem Fahrrad mitnimmt und Hits der Beatles und Rolling Stones durch den Äther jagt, bekommt er Anschiss von einem Dorfpolizisten. Momente, in denen Wolle daran erinnert wird, dass Freiheit in der DDR begrenzt ist wie das Fleisch in der Auslage beim Metzger.

Erstmals richtig dunkel wird es im Sommer 1971. Zu Hause nimmt Wolle ein Telegramm entgegen, Absender ist Oma Elisabeth. Ihr Enkel öffnet es und liest: »Oma Tod Hardy«. Wolle ruft im Wärmegerätewerk Cossebaude an und überbringt seiner Mutter die traurige Nachricht über den Tod...

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