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'Work and Box Company' statt Jugendstrafvollzug. Alternative Resozialisierung als Weg aus schwerer Jugenddelinquenz

Zu strukturellen Bedingungen und Hintergründen erfolgreicher Reintegration von mehrfach straffälligen Jugendlichen

AutorIris Hecker
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl189 Seiten
ISBN9783640486335
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Pädagogik - Pädagogische Psychologie, Note: 1,4, Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig ... Denn dazwischen ist nichts, als ... die Alten ärgern, stehlen, balgen' Dieser knapp 400 Jahre alte Ausspruch lässt sich problemlos auch heute noch gut nachvollziehen. Die Diskussion über neue gesellschaftliche Reaktionen auf Jugenddelinquenz ist vielerorts voll im Gange. Das dieses gesellschaftliche Problem stetig in das Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt, beweisen auch die kontinuierlich steigenden Zahlen der Gesamtkriminalität jugendlicher Straftäter in den letzten Jahrzehnten. Aber es wird auch immer deutlicher, dass diese Straffälligkeit nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex von Fehlentwicklungen junger Heranwachsender ist, denen dann mit staatlicher Repression und veralteten Bestimmungen begegnet wird. Dabei ist nicht unbedingt von der episodenhaften oder anders ausgedrückt, der 'normalen' Jugendkriminalität während der Pubertät die Rede, welche sich von selber wieder legt, sondern die Entwicklung die sich hinter soziökonomischen Belastungen, defizitären Erziehungsstilen, familiäre Gewalt, Bildungsarmut und sozialer Randständigkeit heraus entwickelt. Schweres und langfristiges kriminelles Handeln ergibt sich erst, wenn die genannten Risiken kumulieren. Nach und nach verfestigen sich dann diese sozialen Erfahrungen und gleichzeitig verringern sich die Möglichkeiten nicht- deviante Entwicklungschancen wahrzunehmen. Kriminellen Jugendlichen offenbart sich ein ganzes Bündel aus sozialen, ideologischen und seelischen Zerrüttungen. Am Ende steht trotz allem eine Endkonsequenz: der Jugendstrafvollzug. Trotz neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse, dass Wegsperren von jungen Menschen kontraproduktiv ist und die hohe Rückfallwahrscheinlichkeit, welche der Jugendstrafvollzug mit sich bringt, plädieren politischen Entscheidungsträger nach wie vor für Maßnahmen wie Strafvollzug oder Arrest. Aber bevor die Gesellschaft allzu schnell selbstgefällig mit dem Finger auf die Jugend zeigt, sollte sie sich daran erinnern, mit welchen Bedingungen und Situationen die jungen Heranwachsenden belastet sein können. Man sollte sich fragen, welche Zukunft man den jungen Menschen geben kann, die am Rande der Gesellschaft stehen und wie man verantwortungsbewusst an dieser Zukunftsgestaltung mitwirken kann. Ist der Bau von Gefängnismauern dafür das Richtige?

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Leseprobe

3. Theoretische Hintergründe zur Entstehung abweichenden Verhaltens


 

3.1. Ursachen und Entstehung von Kriminalität und Begriffsbestimmungen


 

Oft liest man in bundesdeutschen Zeitungen über steigende Jugendkriminalität oder die zunehmende Brutalität unter der Jugend.  Erpressung, Raub, Körperverletzung sorgen für Schlagzeilen. Wir hören von „Horrorkids“ und „Totschlägerbanden“, auch wenn diese Meldungen schlagzeilenträchtig sein sollen und sicher auch im gewissen Maße in der Öffentlichkeit überzeichnet sind. Was wir in der Regel über Kriminalität wissen, wissen wir aus den Medien oder von Bekannten und aus Erfahrungswerten. Kriminalität und abweichendes Verhalten sind Phänomene, für die sich speziell Kriminologen interessieren. Unter Kriminalität versteht man im juristischen Sinne:“ Handlungen mit strafrechtlichen Rechtsfolgen“.[97] In der Soziologie wird meist nicht von Kriminalität gesprochen, sondern von „abweichendem Verhalten“. Der Begriff „abweichendes Verhalten“ ist weit verzweigt. LAMNEK definierte ihn folgendermaßen: „Abweichendes Verhalten  bezeichnet diejenigen Verhaltensweisen, die gegen die geltenden sozialen Normen einer Gesellschaft oder Teilstruktur verstoßen und auf die bei ihrer Entdeckung mit Maßnahmen zur Bestrafung, Isolierung, Behandlung oder Besserung reagiert wird.“[98] Es gibt letztendlich viele Definitionen zum Begriff „abweichendes Verhalten“  Daraus wird deutlich, das „abweichendes Verhalten“ ein Konstrukt ist.[99] Abweichendes Verhalten oder Jugenddelinquenz entsteht im Sozialprozess und kann wiederum auch nur im Sozialprozess begegnet werden.[100] Entstehung abweichenden Verhaltens sieht LAMNEK aus zwei Perspektiven, der äthiologischen und der interaktionellen Perspektive. Die äthiologische Perspektive erklärt, dass abweichendes Verhalten entsteht, weil sich Menschen nicht an Gesellschaftsnormen anpassen. Die wichtigsten Vertreter hierzu sind MERTON und COHEN. Die interaktionelle Perspektive erklärt, wie Menschen andere als abweichend betrachten und als solches definieren. Hierbei ist einer der wichtigsten Vertreter SACK.[101] In diesem Kapitel ist es mir wichtig herauszuarbeiten und aufzuzeigen, dass Jugendkriminalität etwas ist, dem soziale Bedingungen vorausgehen, welche aus sozialem Handeln entstehen und auf welche wieder soziales Handeln folgt.[102] Im Folgenden sollen Ausschnitte aus den  klassischen kriminologischen Theorien betrachtet werden, welche erklären, wie abweichendes Verhalten bei Jugendlichen entsteht. Ich beziehe mich hier bewusst auf die Klassiker, denn ich habe beim Literaturstudium bemerkt, dass diese auch in der heutigen Zeit  noch  nichts an Aktualität verloren haben. Zunächst möchte ich aber einen Blick in die Entwicklungspsychologie werfen, wo Jugendkriminalität aus der Adoleszenz entsteht und somit als vorübergehende Krise bewertet werden kann.[103]

 

3.2. Delinquenz in der Entwicklung


 

Die  kriminologischen Forscher sind sich weitestgehend einig, dass Delinquenz unter Jugendlichen und Heranwachsenden ein Ausdruck von Protest gegenüber den Normen der Erwachsenenwelt ist.[104] Dieser Art von Kriminalität durchzieht aller sozialen Schichten und wird als Ubiquität bezeichnet.[105] Dahingehend ist kriminelles Verhalten lediglich der episodenhafte Ausdruck eines entwicklungstypischen Prozesses und der persönlichen Identitätsbildung.[106] Es ist offenbar so, dass die wirklich gravierenden Straftaten nur von einem kleinen Teil Jugendlicher begangen werden.[107] Dieser Teil macht etwa 5% aus.[108] Die Rolle der Clique beziehungsweise der Peergroup hat besondere Bedeutung, um sich von den Eltern abzugrenzen. Dabei dienen Straftaten dazu, Anerkennung unter Gleichaltrigen zu erlangen und sich einen Lebensstil zu finanzieren, der einen gewissen Status innerhalb der Gruppe verspricht. Autoritäten herauszufordern und Statussymbole zur Schau zu stellen, finden als Verhaltensweisen innerhalb eines Reifungsprozesses statt.[109] Aber delinquentes Verhalten muss nicht immer nur zwangsläufig die Folge von irgendetwas sein oder Ausdruck von Protest, sondern kann auch Auslöser oder gar Bedingung von Entwicklungsprozessen sein. MONTADA beschrieb diese Art von Kriminalität als „Entwicklungsunfall“.[110] Wird kriminelles Verhalten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden mit irgendeiner Art institutionalisierter Sanktion, wie zum Beispiel Gefängnis bestraft, hat es zumeist Folgen für die Entwicklung.[111] Der im nächsten Unterpunkt folgende Labelingansatz beschreibt anschaulich die Wirkung institutioneller Sanktionen auf die Entwicklung von Jugendlichen. Dennoch ist hierbei zu beachten, dass trotz aller entwicklungspsychologischen Theorien, die Delinquenz nicht ausreichend beschrieben werden kann. Denn trotz aller widrigen Umstände und schwierigen entwicklungsspezifischen Bedingungen, gibt es auch Jugendliche, die nicht kriminell werden.[112] Somit wird eine Erklärung von entwicklungsbedingten kriminellen Handlungen immer an ihre Grenzen stoßen, denn es gilt auch die individuellen Unterschiede von situativen sowie sozialen Faktoren einzelner Jugendlicher zu beachten. Diese Art von Perspektive möchte ich an dieser Stelle aber nicht weiter beleuchten sondern lediglich kritisch angemerkt haben.

 

 3.3. Der Labelingansatz


 

Eine der bekanntesten Theorien zu abweichenden Verhalten entwickelte Fritz SACK in den 60er Jahren. Die Grundidee des Labelingansatzes ist folgende: Je stärker die soziale Umwelt, sowie Institutionen der sozialen Kontrolle einer Person und dessen Handeln ein stigmatisierendes Merkmal, beziehungsweise abweichendes Verhalten zuschreiben, desto mehr verschlechtern sich die konformen Handlungsmöglichkeiten dieser Person.[113] Zur sozialen Umwelt gehören zum Beispiel Eltern, Geschwister, Kollegen, Mitschüler und zu den Institutionen sozialer Kontrolle gehören neben Behörden und Schule, auch Polizei sowie die Gerichte. Der Ansatz versucht zu erklären, was mit dieser Person in Interaktion mit anderen geschieht, wenn ihre Handlungsweisen das Label eines z.B. Diebes, Drogendealer, Gewaltverbrecher oder ähnliches tragen. Dabei ist es völlig unerheblich, ob das zugeschriebene Merkmal auch wirklich auf diese Person zutrifft oder praktiziert wird. Man kann es letztlich folgendermaßen definieren: Kriminelles Handeln ist die Folge eines Zuschreibungsprozesses, wobei als kriminell derjenige gilt, dem das Etikett bzw. das Label „kriminell“ angeheftet wurde. Abweichendes Verhalten ist ein Verhalten, welches von anderen so klassifiziert wurde.[114] Es wird erklärt, dass Kriminalität nicht Ergebnis einer Handlung ist, sondern aus einem Stigmatisierungsprozess entsteht.[115] Insgesamt bedeutet das, dass der Labelingansatz nicht die Entstehung einer kriminellen Handlung erklären möchte, sondern zeigt, wie eine Zuschreibung von Kriminalität zwischen gesellschaftlichen Akteuren zustande kommt. Es geht darum, dass die Gesellschaft das Handeln einzelner Personen als kriminell etikettiert und das gleiche Handeln bei einem anderen Menschen vielleicht nur als „dummen Streich“ abtut. Ich möchte das an einem aktuellem Beispiel verdeutlichen: Verliert eine Person, insbesondere ein junger Heranwachsender aus einer sozial benachteiligten Schicht seine Arbeit oder seinen Ausbildungsplatz durch Kündigung und später wegen mangelnder finanzieller Ressourcen zusätzlich die Wohnung, sinkt auch die soziale Anerkennung in der Gesellschaft. Erschwerend hinzu kommt der zumeist vorausgegangene wenig qualifizierten Bildungsabschluss. Die damit zunächst verbundenen negativen Folgen einer gesellschaftlichen Stigmatisierung kann die Person in ihr Selbstbild mit einbeziehen und somit diese negativ zugeschriebenen Merkmale in ihr Handeln übernehmen. Durch das Sinken des sozialen Status  und den Mangel an finanziellen Ressourcen schränken sich die konformen Handlungsmöglichkeiten einer Person ein. Damit besteht die Gefahr, dass sich diese Person faktisch abweichend verhält und möglicherweise im Supermarkt einen Diebstahl begeht, da sie über keinerlei finanzielle Mittel mehr verfügt, um eine Ware gesellschaftlich anerkannt durch Bezahlung zu erwerben. Dieses Handeln wird von der Gesellschaft als „kriminell“ gelabelt oder etikettiert, wobei das gleiche Verhalten bei einem sozial besser gestellten Jugendlichen möglicherweise als „Mutprobe oder Dummer - Jungen - Streich“ betrachtet wird. Das bedeutet, dass die Gesellschaft zunächst die Tat und das Handeln einer Person  „labelt“ und an Hand dessen den Täter als kriminell „abstempelt“ und ihm dann die dazugehörigen Eigenschaften zuschreibt. Labeling- Theoretiker wie SACK, GREVE oder ENZMANN gehen davon aus, dass Menschen, deren Handlungsweisen als abweichend angesehen werden und diese dann als kriminell etikettiert werden, diese Deutung übernehmen und sie in ihr Selbstbild einbauen, so dass im Extremfall ein nicht abweichendes Verhalten und Handeln gar nicht mehr möglich ist.[116] Die Labeling- Theorie hatte seit den siebziger Jahren innerhalb der Kriminologie eine große Bedeutung. Sie führte auch zu mehr Sympathien mit den Tätern, da man sich davon löste, bestimmte Merkmale für bestimmte Tätergruppen zu...

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