Exakt betrachtet, umfasst der Terminus Wortbildung genau drei Bedeutungen. Erstens versteht man darunter die sprachwissenschaftliche Disziplin der Rekonstruktion und Beschreibung von Mustern bzw. Regeln, nach denen die Wörter der deutschen Sprache strukturiert sind und neue Wörter gebildet werden.[22], [23] Zweitens bezeichnet der Begriff „Wortbildung“ den Prozess der Bildung neuer Wörter auf Basis gegebener sprachlicher Modelle und Einheiten (gehen + ver- → vergehen). Drittens, nennt man das Ergebnis dieses Prozesses, das „gebildete“ Wort selbst (vergehen), „Wortbildung“.[24]
Grundsätzlich muss sich ein komplex gebildetes, ein »mögliches«[25] Wort, den Mustern und Regeln entsprechend, morphologisch wie semantisch auf eine oder mehrere sprachliche Einheiten zurückführen lassen, aus denen es konstruiert wurde, um als wohlgeformt, als gültige Wortbildung bezeichnet werden zu können.[26] Ist dieser Bezug in der Gegenwartssprache transparent, kann also der Sinngehalt der Bildung aus den Ausgangseinheiten erschlossen werden, so liegt morphosemantische Motivation vor.[27]
Betrachtet man das einsilbige Wort Haus, so wird schnell klar, dass nicht alle Wörter des Deutschen durch Wortbildung entstehen bzw. entstanden sind. Haus verfügt über keine sprachlichen Einheiten, aus denen die Wortstruktur bzw. -bedeutung begreiflich würde, ist also demotiviert und somit in die Kategorie der einfachen, der nach de Saussure arbiträren Wörter einzuordnen.[28] Morphologisch einfache Wörter sind klar von der Wortbildung abzugrenzen.
Auch syntaktische Fügungen sind distinktiv zu betrachten. Im Gegensatz zu den morphologisch stabilen Wortbildungen sind sie strukturintern flektierbar (im Salzwasser – im salzigen Wasser) sowie erweiterbar durch lexikalische Einheiten (warmes salziges Wasser – salziges warmes Wasser, aber: warmes Salzwasser).[29]
Differenzieren muss man ebenso zwischen (Fremd)Wortbildung und Entlehnung. Während beispielsweise pragmatisch auf Basis des fremden Bestandteiles pragmat- nach Wortbildungsstrukturen des Deutschen gebildet wird, also als Fremdwortbildung gilt, wird ein Wort wie Entertainer als Ganzes aus einer fremden Sprache, hier dem Englischen, übernommen und ist somit eine Entlehnung. Allgemein gelten all jene Fremdwörter als Wortbildungen des Deutschen, die über Transparenz verfügen, also motiviert sind.[30]
Was für Fremdwörter gilt, betrifft auch die nativen Wörter. Intransparent gewordene, demotivierte Wortbildungen werden nicht von der gegenwarts-sprachlichen Wortbildungslehre und der daran angeschlossenen synchronen Betrachtungsweise der Wortelemente behandelt. Der Begriff Gerät ist beispielsweise nicht mehr durch Rat bzw. raten und ge- erklärbar. Nur eine Betrachtung auf diachroner Ebene bringt mögliche Aufschlüsse. Gefährt hingegen ist zumindest teilmotiviert, d.h., ein Bezug zu fahren ist formal und semantisch herstellbar, aber es existiert eben keine Verbindung zu einem gültigen bedeutungszuweisenden Typus mit den gebundenen Segmenten Ge- und -t.[31] Was existiert, ist z.B. Ge + Verbstamm → Bildung von Kollektiva.[32] Wörter dieser Form (Gebell, Geflüster, Gebrüll etc.) sind vollmotiviert.
Insbesondere ist in diesem Zusammenhang die Abgrenzung der Wortbildung, hier vor allem der Derivation (Ableitung) von der Flexion (Formenbildung), zu beachten. Obwohl bei beiden Wortbildungsprozessen bestimmte Bausteine miteinander zu größeren Einheiten kombiniert werden, könnten die Endprodukte nicht unterschiedlicher sein. Derivation liefert neue eigenständige Wörter mit jeweils spezifischen lexikalischen Bedeutungen (Deutung – Bedeutung); die Flexion offenbart unterschiedlichste grammatische Formen eines Wortes (Deutung – Deutungen).[33] Darüber hinaus ist ein Wortartenwechsel bei der Derivation nicht selten (SBST/ADJ: Schlaf → schläfrig), bei der wesentlich regelmäßigeren Flexion jedoch völlig ausgeschlossen. Auch sind flexive Bildungsprodukte stets semantisch transparent und motiviert, derivative jedoch nicht.[34]
Schließlich existiert noch die sogenannte Wortschöpfung, auch »Urschöpfung«[35] genannt, welche nicht als Wortbildung gilt. Wird einer Lautfolge erstmals ein Inhalt zugewiesen, d.h. erhält sie einen bis dahin nicht bekannten Zeichencharakter, spricht man von Wortschöpfung. Ein Bezug auf vorhandene sprachliche Einheiten ist nicht gegeben und somit auch keine Wortbildung. Wortschöpfungen liegen hauptsächlich als Schall nachahmende Bildungen (Kuckuck) und Kunstwörter der Werbebranche (Aral, Haribo) vor.[36]
Ein Durchschnittssprecher nutzt aktiv, abhängig vom Bildungsgrad, etwa zwischen 10.000 und 20.000 Wörtern. Dies ist nur ein verschwindend geringer Anteil von umgerechnet etwa 3,33% bis 4% des Gesamtwortschatzes der deutschen Sprache, dessen Umfang heute auf etwa 300.000 bis 500.000 Wörter geschätzt wird. Angesichts dieses Faktums erscheint es überaus erstaunlich, dass jährlich ca. weitere 1.000 neue Wörter lexikalisiert, also in den Wortschatz des Deutschen integriert werden. Die Anzahl aller neuartigen Wortbildungen in einem Jahr ist in Wahrheit sogar noch viel höher, rechnet man die okkasionellen Bildungen (Gelegenheitsbildungen)[37] hinzu, die vermehrt in der Werbung auftauchen. Dies verdeutlicht vor allem eines: Es existiert ein kontinuierlicher Bedarf an neuen Wörtern, also an einer Wortschatzerweiterung,[38] von Peter Eisenberg auch Lexikonerweiterung genannt. Sie sei die Hauptfunktion der Wortbildung.[39]
Diese Erweiterung beruht laut dem Wörterbuch der deutschen Gegenwarts-sprache (WDG) zu 83% auf neuen Wortbildungen; der Anteil der Wörter, denen eine komplett neue Bedeutung zukomme, liege hingegen bei nur 12%.[40] Den geringsten Anteil, nämlich nur 5%, tragen neue Entlehnungen aus anderen Sprachen bei.[41] Die Entstehung neuer Redewendungen bzw. Phraseologismen, als eine letzte Möglichkeit der Wortschatzerweiterung, macht einen derart geringen Teil der lexikalischen Neuheiten im Deutschen aus, dass sie in der Erhebung des WDG nicht berücksichtigt werden.
Warum gerade die Wortbildung die am häufigsten verwendete Variante der Wortschatzerweiterung ist, kann einfach erklärt werden. Wortbildungen sind überaus leicht verständlich und prägen sich schnell ein. Das hängt mit dem bereits erwähnten möglichen Rückgriff auf schon bekannte sprachliche Einheiten der jeweiligen Wortbildung zusammen. Der Sprecher kann formal wie semantisch an bereits Bekanntes anknüpfen. Neue, unbekannte Buch-stabenabfolgen, verknüpft mit neuem Sinngehalt, existieren und belasten hier nicht. Das Gedächtnis wird sogar geschont.[42]
Betroffen von der Wortschatzerweiterung durch Wortbildung sind die Wortarten Substantiv (zu 60%), Verb (zu 25%), Adjektiv (zu 15%) und in sehr geringem Maße das Adverb.[43]
Wann und aus welchem Grund kommt man überhaupt in die Situation, ein neues Wort zu bilden? Zunächst erscheint es einsichtig, dass es sich anbietet, ein Wort dann neu zu bilden, wenn ein Sachverhalt, eine Situation etc. anders nicht verständlich bezeichnet werden kann. Alles, was neu ist, egal ob in der Technik (Heimkino), der Wissenschaft (Wurmloch), bei Wahrnehmungen und Gefühlen (Selbstbewusstsein) oder bei neuen Tätigkeiten (simsen), braucht einen „Namen“, um kommunizierbar zu werden. Solche Bildungen nennt man Erstbenennungen. Darüber hinaus existieren aber auch die sogenannten Zweitbenennungen. Auf diese trifft man immer dann, wenn ein Sprecher, seinem subjektiven Empfinden nach, ein Wort beispielsweise als zu negativ konnotiert betrachtet und er daher die Bezeichnung nach seiner Vorstellung korrigiert(Altersheim → Seniorenresidenz, Putzfrau → Raumpflegerin, Nachtwächter → Wachmann, Linienrichter → Schiedsrichterassistent etc.).[44]
Die zweite wichtige Funktion der Wortbildung liegt in der Optimierung der Textbildung und der Ausprägung des Stiles von Textbausteinen. Ob Wortbildungen geeignet sind im Hinblick auf geplante Textgestaltungen oder nicht, hängt stets von den »systemgegebenen Möglichkeiten«[45] der Form wie auch der Inhaltsseite der Wortbildungen ab. Nicht jede text- und stilrelevante Eigenschaft kommt bei jeder einzelnen möglichen Wortbildung zum Tragen.[46] Trotzdem ist es wichtig, die unterschiedlichen Eigenschaften im Folgenden kurz erläutern.
Als erstes ist die morphosemantische Motivation von Wortbildungen zu nennen (s. 2.1.1). Motivierte...