Einführung
Einige von Ihnen haben vielleicht bereits folgende Erfahrung gemacht: Sie kommen gerade aus einem Workshop für Gewaltfreie Kommunikation und sind voller Hoffnungen und Ideen. Sie sind energiegeladen und ganz gespannt auf Ihre zukünftigen bedeutungsvollen, mit einem Gesprächspartner verbundenen Kommunikationen. In Ihrer Begeisterung, das Gelernte mit jemandem zu teilen, gehen Sie nach Hause oder zurück an Ihren Arbeitsplatz, um bei der nächstbesten Gelegenheit etwas aus dem Workshop auszuprobieren. Doch statt der kraftvollen emotionalen Verbindung und der klaren Bitte, auf die Sie sich gefreut haben, sagt der andere: „Wie redest du denn?“ Sie spüren, wie Ihre Aufregung schwindet, Ihr Energielevel sinkt und zu Ihrem großen Bedauern reagieren Sie genauso wie immer statt auf mitfühlende verbundene Weise, wie Sie es sich erhofft hatten.
Wenn unsere ersten Versuche, das Gelernte zu üben oder mit anderen zu teilen, auf wenig Begeisterung stoßen, dann sind wir schnell entmutigt und glauben, dass die neu erworbenen Fähigkeiten in manchen Situationen – wie zum Beispiel am Arbeitsplatz – nur schwierig anzuwenden sind. So kann es passieren, dass Sie die frisch gelernten Kenntnisse über GFK für sich selbst als sinnvoll erachten, aber dennoch so etwas denken wie: „Ich kann den Wert von GFK für mein Privatleben erkennen, und vielleicht können andere Leute sie auch an ihrem Arbeitsplatz anwenden, aber an meinem geht das nicht! Die Leute an meinem Arbeitsplatz sind dafür einfach nicht offen!“
Solche Gedanken kann ich verstehen, denn ich habe auch mal so gedacht. Als ich anfing GFK zu lernen, arbeitete ich als Strafverteidiger. Das letzte Gerichtsverfahren, an dem ich teilnahm (1999 vor meinem Rückzug als Anwalt und meiner Arbeit im Vorstand des CNVC), fand vor dem Oberlandesgericht im Central Valley of California statt. Es ging um die Entsorgung toxischer landwirtschaftlicher Chemikalien. Als Zeugin der Regierung trat eine hoch qualifizierte, sehr analytische Chemikerin auf, die noch nie vor einem Gericht ausgesagt hatte. Ich kannte ihre Zeugenaussage, weil ich sie vorher aufgenommen hatte. Während des Verfahrens wollte ich einige der Aspekte herausstellen, um sicherzustellen, dass sie ins Gerichtsprotokoll aufgenommen wurden. Mein Kreuzverhör wurde jedoch zu einem quälend unerfreulichen Prozess. Sie beantwortete zwar jede meiner Fragen, führte aber dann unnötigerweise alle anderen Aspekte ausführlich an, zu denen sie bereits eine Aussage gemacht hatte.
In meiner Verzweiflung setzte ich alle Techniken ein, die ich als Anwalt gelernt hatte, um sie unter Kontrolle zu bringen und sie daran zu hindern, diese langen Erklärungen zu wiederholen. Keine dieser Kreuzverhörtechniken brachte den gewünschten Erfolg. In einer Pause erfuhr ich sogar, dass die Zeugin meine Versuche als Erniedrigung ihrer Person interpretierte. Es ist mir peinlich zugeben zu müssen, dass es mir den ganzen Tag lang nicht in den Sinn kam, eine andere Art der Kommunikation auszuprobieren.
Ich war verzweifelt, denn wir lagen weit hinter dem Zeitplan zurück, und ich befürchtete, der Richter würde das Kreuzverhör abbrechen, wenn es am nächsten Tag so weiterging. Am Abend überlegte ich mir, was ich tun könnte, als eine kleine innere Stimme mir sagte: „Versuch es doch mal mit GFK.“
Meine spontane Antwort war: „Nein, nicht in dieser Situation!“ Nach meinen Erfahrungen mit der steifen Umgebung des Gerichtssaals – ich am Rednerpult, die Zeugin in ihrer Zeugenbank, der Richter am Richtertisch und hinter mir ein Haufen Anwälte der Regierung, die nur allzu bereit waren, gegen meine Sprache Einspruch einzulegen, wenn ich von dem abwich, was üblich war – hielt ich es für äußerst schwierig, meine GFK-Fähigkeiten einzusetzen. Dennoch ließ mir meine Situation keine andere Wahl und ich fing an, mir einen Weg mit GFK zurechtzulegen. Nachdem ich mir eine Zeit lang Selbst-Empathie gegeben hatte, legte ich mir das Verhör der Zeugin gedanklich zurecht.
Am nächsten Tag fing das alte Spiel von Neuem an. Als die Zeugin auf meine Fragen wieder mit ihren langen Erklärungen begann, unterbrach ich sie: „Entschuldigen Sie mich bitte.“ Als sie still war und ich ihre ganze Aufmerksamkeit hatte, fuhr ich fort: „Ich mache mir Sorgen, dass Ihre Zeugenaussage die gesamte verbleibende Zeit in Anspruch nimmt und frage mich, ob Sie wohl bereit wären, erst einmal nur meine Fragen zu beantworten und Ihre Erklärungen auf später zu verschieben. Ich verspreche Ihnen, dass Sie Zeit bekommen werden, noch vor Abschluss der Zeugenaussagen mit dem Regierungsrat zu sprechen und alle weiteren Dinge zu erklären. Wären Sie jetzt erst einmal bereit, nur meine Fragen zu beantworten?“
Ich gebe zu, während ich diese Frage stellte war meine Pulsfrequenz in die Höhe geschossen und das Herz schlug mir bis zum Hals. Bis heute weiß ich nicht, was ich mir selbst einredete, dass ich so stark reagierte. Vielleicht hatte ich panische Angst, jemand könne Einspruch erheben und mit den Worten aufspringen: „Sie können in einem Gerichtssaal nicht GFK anwenden!“ Natürlich rührte sich niemand. Nach einem kurzen, Zustimmung erheischenden Blick auf die Regierungsvertreter war sie mit meinem Vorschlag einverstanden. Ich musste sie zwar noch einige Male an unsere Vereinbarung erinnern, aber das Kreuzverhör endete schneller und reibungsloser als befürchtet.
Meine heftige physische Reaktion beim Versuch, eine neue Art der Kommunikation auszuprobieren, zeigt, wie schwer es vielen von uns fällt, unser Verhalten in einer etablierten Umgebung zu verändern. Wir glauben, die Leute um uns herum erwarten eine bestimmte Verhaltensweise von uns, und oft reagieren wir darauf so, dass wir unser Verhalten und unsere Kommunikation deren engen Grenzen anpassen, weil wir vermuten, dass das von uns erwartet wird. Das muss aber nicht so sein.
Wenn Sie meinen, dass die Einführung von etwas Neuem an Ihrem Arbeitsplatz eine nervenaufreibende und angsterfüllende Angelegenheit ist, dann ist dieses Buch für Sie geschrieben. Sie finden hier Vorschläge, die Sie in all Ihren Lebensbereichen anwenden können. Dennoch geht es hauptsächlich um den Arbeitsplatz, weil viele Menschen sich unwohl fühlen, wenn sie ihre neuen Kommunikationsfähigkeiten bei Mitarbeitern, Vorgesetzten und Angestellten ausprobieren. Das ist besonders dann der Fall, wenn sie kein Vertrauen haben, dass ihre Bedürfnisse nach Selbsterhalt und Überleben auch künftig bei der Arbeit erfüllt werden.
Dennoch werden diese Beziehungen am Arbeitsplatz genauso wie andere Beziehungen von Ihren GFK-Kenntnissen profitieren – und wir hoffen, dass das Ergebnis mehr Freude an der Arbeit ist. Wir gehen davon aus, dass Sie einige Aspekte Ihrer GFK-Fähigkeiten am Arbeitsplatz anwenden können, ganz gleich, wie fortgeschritten Sie sind. Wir geben Ihnen eine Grundausstattung mit Übungen an die Hand, die Ihr Vertrauen in GFK stärken und Ihnen helfen wird, sie so fließend zu beherrschen, dass Sie das Gelernte sogar in solchen Situationen werden anwenden können, in denen Sie es jetzt noch für unmöglich halten.
Einige Bemerkungen, bevor wir anfangen
Dieses Buch soll Ihnen helfen, bereits Gelerntes zu vertiefen, damit Sie sich sicher genug fühlen, Ihre GFK-Fähigkeiten am Arbeitsplatz einzusetzen. Bevor wir mit dem ersten Kapitel beginnen, wollen wir Ihre Grundkenntnisse auffrischen, damit Sie sich im Buch besser zurechtfinden. In Kapitel 1 werden wir ergründen, wie die stille Anwendung von GFK funktioniert. So können Sie Ihre Fähigkeiten sofort für sich in den Situationen anwenden, in denen Sie sich jetzt noch unwohl fühlen würden, es laut zu tun. Das darauffolgende Kapitel erklärt den Lernzyklus und sein Verhältnis zu Übungen des Bedauerns und Feierns. Diese Übungen können besonders wichtig sein, da sie Sie an Ihren Wunsch erinnern, Ihre Kommunikationsfähigkeiten auszudehnen, und an die Versprechen, die Sie sich selbst zur Umsetzung gegeben haben. Wenn Sie dies in Ihr Leben integrieren wollen, ist Übung der Schlüssel dazu. Kapitel 3 beschäftigt sich damit, wie der Wille Ihre Absichten unterstützen kann. Für uns ist das Äußern von Bitten ein überaus wichtiger Teil bei der Anwendung von GFK, und nur wenige von uns beherrschen es richtig. Darum werden wir in Kapitel 4 Wege vorstellen, auf denen Sie zum Ziel gelangen. Wenn sich dann schließlich Ihre Fähigkeiten gefestigt haben und Sie nach weiteren Herausforderungen Ausschau halten, finden Sie im letzten Kapitel Beispiele, wie man mit Problemen umgeht, die sich typischerweise am Arbeitsplatz stellen.
Sie können dieses Buch auf verschiedene Weise nutzen. Wenn Sie es von Anfang bis Ende durchlesen wollen, nehmen Sie sich bitte auch Zeit für die Übungsvorschläge. Vielleicht möchten Sie sich aber lieber ein Kapitel vornehmen, das Ihr aktuelles Problem behandelt. Sollten Sie zum Beispiel bei der Arbeit in einem Konflikt stecken und merken, dass Sie sich selbst oder andere Beteiligte verurteilen, möchten Sie vielleicht direkt in die Feindbilder-Abteilung in Kapitel 5 gehen, wo Sie „Vorschläge für den Umgang mit den üblichen Problemen der Kommunikation am Arbeitsplatz“ finden.
Vielleicht möchten Sie auch einfach nur ein Buch wie dieses lesen, ohne irgendetwas zu üben. Im Text werden Sie überall verteilt Kästen mit der Überschrift „Übungspause“ finden. Wir hoffen, dass diese Übungen Sie dennoch dazu verführen, eine Pause einzulegen und sofort etwas zu üben, bevor Sie weiterlesen. Die...