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Wozu Wissenschaft?

Neun Antworten auf eine alte Frage

AutorJoachim Schummer
VerlagKulturverlag Kadmos Berlin
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl243 Seiten
ISBN9783865992598
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wozu Wissenschaft? Um zweckfreie Erkenntnis zu gewinnen oder um neue Techniken zu entwickeln? Der Philosoph Joachim Schummer weist beides zurück und zeigt anschaulich, wie alle Wissenschaften schon immer neun verschiedene Zwecke verfolgt haben. Alle arbeiten auf ihre Weise an einer Verbesserung der Welt, an Methoden zur Schärfung des Denkens, Erklärungen und Aufklärung über die Welt, Formen des Umgangs mit der Zukunft, der Erzeugung von neuem und provokativem Wissen, der Befriedigung kultivierter Neugier, Orientierungen in der Welt, der fachlichen und allgemeinen Bildung sowie der Erfüllung in einer selbstgewählten Lebensform. Nur wenn alle Zwecke beachtet werden, kann die Wissenschaft der Gesellschaft von Nutzen sein.

Joachim Schummer, Dr. phil. habil., geb. 1963, ist Philosoph, Soziologe und diplomierter Chemiker. Er lehrt an Universitäten nur noch auf Einladung, zuletzt als Gastprofessor u.a. in den USA, Australien, Brasilien, Bulgarien, Kolumbien, Philippinen und Deutschland. Er war wissenschaftlicher Berater der UNESCO und des Deutschen Museums in München und ist seit zwei Jahrzehnten Herausgeber einer internationalen Fachzeitschrift zur Philosophie der Chemie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Philosophie, Geschichte, Ethik, Soziologie und Politik der Wissenschaften.

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Leseprobe

2.


Ideen zur Weltverbesserung


Ein beachtlicher Teil der naturwissenschaftlichen Forschung findet heute eine direkte oder indirekte Verwertung bei der Entwicklung und dem Gebrauch von Technik. Viele Projekte sind sogar ausdrücklich auf solche Nutzung ihrer Ergebnisse ausgerichtet. Umgekehrt ist die Technikentwicklung in den meisten Bereichen auf wissenschaftliches Wissen angewiesen. Das ist keine Besonderheit heutiger Hochtechnologien; vielmehr erkannte das im vierten vorchristlichen Jahrhundert bereits Platon, von dem viele dies nicht vermuten würden, weil er ihnen als Vertreter »zweckfreier« Wissenschaft gilt. Tatsächlich unterschied er aber zwei Arten von Erkenntnissen, eine auf »reine« Einsicht gerichtete und eine, die allem praktischen Handeln zugrunde liegt. Die erste Art sah er in der »reinen« Mathematik verwirklicht, deren ausschließlicher Zweck die pädagogische Einübung und Pflege abstrakten Denkens war, worauf wir in Kapitel 10 zurückkommen werden. Die zweite umfasste die Kenntnis von Ursachen und Prinzipien der Welt, um menschliche Handlungen zu rationalisieren, weswegen gerade auch die Techniken diese benötigten.3 Weil alles menschliche Handeln nach ethischen Standards orientiert sein sollte, war ihm die Technik jedoch selbst kein Zweck, sondern lediglich Mittel zur Beförderung des Guten.

Platons Unterscheidung, aus der sich in der europäischen Aufklärung die Trennung von »reiner« und »angewandter« Wissenschaft ableitete,4 kann nicht als Begründung der in der Einleitung skizzierten Polarisierung herhalten. Denn weder beschreibt sie eine zweckfreie Wissenschaft, noch bestimmt sie die Technik als Zweck. Hinter dieser, wie hinter jeder »angewandten« Wissenschaft, stehen vielmehr Ideen darüber, was durch sie bewirkt werden soll.

Weil Technik durch die Polarisierung so sehr in den Vordergrund gerückt ist und uns den Blick für die Vielheit der Zwecke verstellt, nimmt dieses Kapitel, wie bereits in der Einleitung angedeutet wurde, einen anderen Weg als die folgenden. Es beginnt mit einer Relativierung der Technik als eines Zwecks der Wissenschaft. Ich versuche das nicht durch subtile philosophische Argumente, sondern indem ich gleichsam den Alltagsverstand mit einer Reihe von Tatsachen und einfachen Überlegungen zur ihrer Rolle in der Gesellschaft konfrontiere. Daran schließt eine Neubestimmung des übergeordneten Zwecks der Weltverbesserung an, die der Platonschen Vorstellung nicht unähnlich ist, aber alle Wissenschaftsdisziplinen umfasst. Statt die abstrakte Idee des Guten zu reflektieren, resümiere ich schließlich die wichtigsten Konzepte der Technikethik, die jedes wissenschaftliche Bemühen um Weltverbesserung berücksichtigen sollte.

Relativierung der Technik als Zweck der Wissenschaft


Die meisten Menschen beantworten die Frage nach dem Zweck der Wissenschaft heute pauschal durch Verweis auf die Technik. Da technisches Gerät im Alltag wie im Berufsleben allgegenwärtig ist, scheint nichts plausibler, zumal Bedienungsanleitungen oft schon sprachlich eine wissenschaftliche Herkunft verraten. Computer, Internet, Digitalkamera, Flachbildfernseher, Navigationsgerät, Smartphone …: die Wissenschaft scheint ein unerschöpflicher Quell für die Unterhaltungselektronik zu sein, die ihre Outlets in allgegenwärtigen Elektronikmärkten finden. So gerne dieses Bild zur Legitimation von Wissenschaft verwendet wird, wenn es etwa um die Zuweisung öffentlicher Forschungsgelder geht, so sehr bedarf es der Korrektur.

Zunächst fällt die Einseitigkeit der Perspektive auf, die Geistes- und Sozialwissenschaften gänzlich ausklammert zugunsten der Natur- und insbesondere der Technikwissenschaften, hier sogar nur sehr spezieller Zweige der Elektrotechnik und Informatik. Diese Ausblendung geht zum Teil auf einen Anglizismus zurück, denn das englische Wort science bedeutet nicht Wissenschaft, sondern meint ursprünglich nur Naturwissenschaft und Mathematik. Das amerikanische Alltagsverständnis ist sogar so sehr durch die eigene Science-Fiction geprägt – in der seltenst Naturwissenschaft, aber stets eine fiktive Technik dramatische Funktionen übernimmt –, dass die Bedeutungen von Wissenschaft und Technik miteinander verschmolzen sind. Eine ähnliche Einseitigkeit findet man in den amerikanischen Forschungsförderinstitutionen sowie daran anlehnend auch im Pendant der Europäischen Kommission, ganz zu schweigen von dem deutschen Forschungsministerium, das bekanntlich als »Bundesministerium für Atomfragen« begann. Die besondere Fokussierung auf Computer- und Kommunikationstechnik ist überdies durch das ausgeprägte Interesse amerikanischer Medien für den heimischen Markt bestimmt. Auch wenn dies inzwischen weltweit kopiert oder international verbreitet wird durch Internet-Newsportale von Google, Yahoo, Microsoft und anderen US-Firmen dieser Branche, so liefert deren Berichterstattung doch ein äußerst verzerrtes Bild der internationalen Wissenschafts- und Techniklandschaft.

Zur Korrektur des Bildes sollte man bedenken, dass der weitaus größte Teil der Technik von Verbrauchern gar nicht wahrgenommen wird, weil es sich dabei gar nicht um Konsumgüter dreht oder Dinge, mit denen man im Alltag in bewusste Berührung kommt. Das betrifft zum Beispiel die Militär- und Raumfahrttechnik, die Fertigungs-, Prozess-, Verfahrens- und chemische Technik, die Metallerzeugung und -verarbeitung, die Mess- und Regelungstechnik, die betriebswirtschaftliche Informatik, den Anlagenbau sowie die meisten Bereiche der Material-, Elektro-, Medizin-, Umwelt-, Abfall- und Energietechnik sowie weite Teile des Maschinenbaus und der Pharmazie. In vielen dieser Bereiche ist die deutsche Industrie international stark vertreten, während die beliebten Konsumgüter der Unterhaltungsindustrie seit Jahrzehnten überwiegend in Asien produziert und entwickelt werden. Demgegenüber macht der Gesamtwert deutscher Geräte der Unterhaltungselektronik gerade einmal 0,1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder 0,6% der gesamten Industrieproduktion aus, während für die Forschung hier insgesamt das Dreihundertfache ausgegeben wird.5 Dadurch wird aber der Verweis auf diese Produkte und andere Dinge des täglichen Lebens als Legitimation der Wissenschaft schlechthin zumindest für dieses Land (und die meisten Industrieländer) mehr als fragwürdig.

Um die Bedeutung der Wissenschaft für die Technik in der Gesellschaft zu ermessen, ist es hilfreich, sich einige Zahlen zu vergegenwärtigen. Die deutsche Industrie (beziehungsweise das »verarbeitende Gewerbe« im Jargon der amtlichen Statistiker) lieferte im Jahr 2011 eine Wertschöpfung von knapp 505 Milliarden Euro. Das waren etwa 22% des BIP im Unterschied zu den fast drei Vierteln des BIP, das der sogenannte Dienstleistungssektor erwirtschaftete, für den keine Forschungsquoten vorliegen. Ein großer Teil der Industrie produziert jedoch weitgehend unabhängig von neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnis, etwa die Nahrungsmittel-, Getränke-, Genussmittel-, Möbel-, Druckerei-, Textil-, Baustoff-, Kunststoff-, Schwer-, Mineralöl- und chemische Grundstoffindustrie sowie große Teile des Maschinenbaus, Schiffsbaus und der Bautechnik, obwohl natürlich in der Vergangenheit immer wieder Forschungsergebnisse in die jeweiligen Verfahren eingeflossen sind oder sie erst ermöglicht haben. Auf nennenswerte Aufwendungen für Forschung und Entwicklung kommen heute nur die wenigen Industrien, die sich unter einem technischen Innovationsdruck befinden, der verschiedene Gründe haben kann. Entweder etabliert man noch relativ junge Techniken (wie zum Beispiel die Umwelt- und alternative Energie-, Gen-, Medizin-, Elektrotechnik und Informatik), steht unter anhaltendem Konkurrenzdruck auslaufender Patente (pharmazeutische Industrie), möchte den Eindruck ständiger Modellinnovation erwecken (Automobilindustrie) oder bedient einen politischen Wettstreit mit öffentlichen Geldern (Militär- und Raumfahrttechnik). Selbst bei sehr großzügiger Berechnung machen diese Bereiche zusammengenommen keine zehn Prozent des BIPs aus. Das ist weniger als über die Vermietung von Grundstükken und Wohnungen in Deutschland erwirtschaftet wird. Wer die gesamte Wissenschaft als Dienstleisterin der Technik aus ökonomischer Perspektive begreift, degradiert also ihre gesellschaftliche Bedeutung auf die von Immobilienmaklern.

Gegenüber diesem relativ kleinen Bereich innovationsgetriebener Industrie erscheinen die gesamtgesellschaftlichen Forschungsaufwendungen von etwa 70 Milliarden Euro in Deutschland astronomisch hoch. Die Zahl wird aber relativiert, sobald man bedenkt, dass davon allein circa 47 Milliarden Euro von Industrieunternehmen für die »Forschung und Entwicklung« ihrer spezifischen Produkte ausgegeben werden. Denn fast die gesamte Summe wird für die äußerst kostenintensive Prozedur verwendet, eine wissenschaftlich etablierte Idee in ein marktfähiges Produkt zu überführen. Dazu bedarf es sehr aufwändiger Studien, die ein im Labor bewährtes Prinzip über Prototypen zum großtechnischen Verfahren oder marktfähigen Produkt entwickeln, die das Prinzip als eine von vielen Komponenten in ein...

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