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E-Book

Wut ist ein Geschenk

Das Vermächtnis meines Großvaters Mahatma Gandhi

AutorArun Gandhi
VerlagDuMont Buchverlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783832189617
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
10 Wege zu Frieden und Gewaltlosigkeit Arun Gandhi ist der Enkel Mahatma Gandhis. Als 12-Jähriger erlebte er den bedeutenden und einflussreichen Friedensaktivisten aus nächster Nähe. Zwei Jahre lang lebte er gemeinsam mit ihm im Ashram Sevagram in Zentralindien. Während dieser Zeit lehrte sein Großvater ihn die zehn wichtigsten Lektionen des Lebens, ein Vermächtnis, das Arun in diesem Buch mit uns teilt. So enthält jedes Kapitel eine zeitlose Lektion Mahatma Gandhis. Allmählich lernt Arun die Welt in der Obhut seines geliebten Großvaters neu zu sehen. Und gemeinsam mit ihm durchdringt auch der Leser Fragen zum Umgang mit Wut, zur Identität, zu Depression, Verschwendung, Einsamkeit, Freundschaft und Familie. Mahatma Gandhi hat mit seiner Lehre die Welt verändert. Seine Idee des Widerstands durch Ungehorsam und Gewaltlosigkeit haben Tausende, darunter Martin Luther King und Nelson Mandela, inspiriert. Sein Vermächtnis an seinen Enkelsohn kann uns allen Orientierung geben in diesen schwierigen Zeiten.

Arun Gandhi, geboren 1934, ist der fünfte Enkel von Mahatma Gandhi. Dreißig Jahre lang arbeitete er als Journalist für die >Times of India< und schrieb zudem für die >Washington Post<. Arun Gandhi ist Präsident des >Gandhi Worldwide Education Institute< und hält regelmäßig Vorträge. Bei DuMont erschienen >Wut ist ein Geschenk. Das Vermächtnis meines Großvaters Mahatma Gandhi< (2018) und >Sanftmut kann die Welt erschüttern< (2019). Er lebt in Rochester, New York.

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Leseprobe

 

VORWORT

Die Lektionen meines Großvaters

 

Wir waren auf dem Weg zu meinem Großvater. Für mich war er nicht der große, in aller Welt verehrte Mahatma Gandhi, sondern einfach nur Bapuji, der freundliche Großvater, von dem meine Eltern sehr oft erzählten. Von unserer südafrikanischen Heimat nach Indien war es eine lange Reise. Von Bombay aus fuhren wir mit dem Zug. Sechzehn Stunden lang saßen wir in einem überfüllten Abteil der dritten Klasse, in dem es nach Zigaretten, Schweiß und dem Rauch der Lokomotive stank. Als der Zug in die Station von Wardha einfuhr, waren wir erschöpft. Auf dem Bahnsteig schnappten wir nach frischer Luft, es tat gut, dem Kohlestaub zu entkommen.

Es war kurz vor neun Uhr am Morgen, doch die Sonne brannte schon heiß herab. Die Station bestand aus einem Bahnsteig und einem einzigen Raum für den Stationsvorsteher. Mein Vater hatte einen Gepäckträger in langem rotem Hemd und Lendenschurz ausfindig gemacht, der uns half und uns zu den Pferdewagen führte, die in Indien tongas genannt werden. Vater hob Ela, meine sechsjährige Schwester, in den Wagen und bat mich, mich neben sie zu setzen. Er und Mama würden zu Fuß hinter dem Wagen her laufen.

»Dann laufe ich auch«, sagte ich.

»Es ist ein langer Weg, an die dreizehn Kilometer«, betonte Vater.

»Das macht nichts«, beharrte ich. Ich war zwölf Jahre alt und wollte beweisen, dass ich stark war.

Nicht lange, und ich bereute meine Entscheidung. Die Sonne brannte immer gnadenloser, und die Straße war vom Bahnhof aus nur etwa anderthalb Kilometer weit geteert. Schon bald war ich erschöpft. Der Schweiß lief in Strömen an mir herab, und ich war bedeckt von Staub und Ruß. Doch ich wusste: In den Pferdewagen konnte ich jetzt nicht mehr klettern. In unserer Familie galt die Regel, dass, wer etwas sagte, es mit seinem Tun untermauern musste. Dass mein Ego stärker war als meine Beine, war allein mein Problem – ich musste weiterlaufen.

Endlich kamen wir in Bapujis Ashram an, der Sevagram genannt wurde. Wir hatten unser Ziel erreicht: ein abgelegenes Fleckchen im ärmsten Herzen des armen Indiens. Ich hatte schon so viel von der Schönheit und Liebe gehört, die Großvater in die Welt hinausgetragen hatte, dass ich blühende Blumen und rauschende Wasserfälle erwartet hatte. Stattdessen wirkte der Ort flach, trocken, staubig und unscheinbar. Er bestand aus nichts als ein paar Lehmhütten, die um einen offenen Gemeinschaftsraum herum angeordnet waren. Und für diese öde Tristesse war ich so weit gereist? Ich hatte mindestens mit einer Willkommensparty zur Begrüßung gerechnet, doch keiner schenkte uns auch nur die geringste Aufmerksamkeit.

»Wo sind die denn alle?«, fragte ich meine Mutter.

Wir betraten eine einfache Hütte, in der wir uns waschen konnten. Als ich fünf Jahre alt gewesen war, war ich Bapuji schon einmal begegnet, aber ich konnte mich nicht mehr an diesen Besuch erinnern, und nun, da unsere zweite Begegnung bevorstand, war ich etwas nervös. Meine Eltern hatten uns eingeschärft, artig zu sein, wenn wir ihn begrüßten, denn Großvater war ein bedeutender Mann. Auch in Südafrika, wo mein Großvater einundzwanzig Jahre lang – von 1893 bis 1914 – gelebt hatte, hatte ich die Leute mit Ehrfurcht von ihm sprechen hören, und ich stellte mir vor, irgendwo auf dem Gelände des Ashrams stehe eine Villa, in der Bapuji, umringt von seinen Dienern, lebte.

Umso schockierter war ich, als wir zu einer der schlichten Hütten liefen und ein gerade einmal drei mal viereinhalb Meter großes Zimmer betraten. In einer Ecke hockte Bapuji auf einer dünnen Baumwollmatte, die den Lehmboden bedeckte.

Später würde ich erfahren, dass selbst Staatsoberhäupter, die zu Besuch kamen, um mit dem großen Gandhi zu sprechen und sich beraten zu lassen, sich auf der Matte neben ihn hockten. Doch nun zeigte Bapuji sein schönes, zahnloses Lächeln und winkte uns zu sich.

Meine Schwester und ich folgten dem Beispiel meiner Eltern und verbeugten uns vor seinen Füßen, wie es in Indien Tradition ist. Doch davon wollte er nichts wissen. Rasch zog er uns an sich und nahm uns liebevoll in die Arme. Er küsste uns auf beide Wangen, und Ela quiekte vor Freude.

»Wie war die Reise?«, fragte Bapuji.

Ich war so eingeschüchtert, dass ich zu stottern begann. »Bapuji, ich bin den ganzen Weg vom Bahnhof aus gelaufen.«

Er lachte, und ich sah ihn zwinkern. »Was du nicht sagst. Ich bin stolz auf dich«, sagte er und drückte mir noch mehr Küsse auf die Wange.

Ich spürte sofort seine bedingungslose Liebe, und die war in dem Moment genau das, was ich brauchte. Ich empfand sie als einen Segen.

Und viele Segnungen sollten dieser ersten noch folgen.

Meine Eltern und Ela blieben nur für einige Tage im Ashram, dann machten sie sich auf den Weg, um die große Familie meiner Mutter in anderen Teilen Indiens zu besuchen. Ich jedoch sollte für die nächsten zwei Jahre bei Bapuji leben, mit ihm reisen und dabei von einem naiven zwölfjährigen Kind zu einem etwas einsichtigeren jungen Mann von vierzehn Jahren heranwachsen. In dieser Zeit lernte ich seine Lektionen. Sie haben mein Leben für immer verändert.

Bapuji hatte oft ein Spinnrad neben sich stehen. Und so stelle ich mir sein Leben gern als einen goldenen Faden aus Geschichten und Lektionen vor, der sich durch die Generationen spinnt und all unsere Leben zu einem elastischeren Stoff verwebt. Inzwischen kennen viele Menschen meinen Großvater nur noch aus dem Kino, oder sie erinnern sich, dass er einst zum gewaltlosen Widerstand aufgerufen und die Bewegung der Gewaltlosigkeit ins Leben gerufen hat und damit viele inspirierte, zum Beispiel auch die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Ich jedoch kannte ihn als warmherzigen, liebevollen Großvater, der in mir das Beste suchte – und es auf diese Weise auch hervorbrachte. Er ermutigte mich und so viele andere Menschen dazu, besser zu sein, als wir uns das je zugetraut hätten. Politische Gerechtigkeit war ihm wichtig, aber nicht aus einer gloriosen theoretischen Perspektive heraus, sondern weil ihm die Notlage jedes Einzelnen naheging. Er glaubte, dass jeder von uns es verdient habe, das bestmögliche Leben zu leben.

Wir alle brauchen – heute mehr denn je – Bapujis Lektionen. Mein Großvater wäre traurig über das Ausmaß von Wut in der heutigen Welt. Aber verzweifeln würde er nicht.

        

Die ganze Menschheit ist eine Familie.

        

»Die ganze Menschheit ist eine Familie«, sagte er immer wieder. Zu seinen Lebzeiten wurde er bedroht und gehasst, doch seine praktische Philosophie der Gewaltlosigkeit half Indien, sich zu befreien, und diente der ganzen Welt als Vorbild dafür, wie man die Menschenrechte voranbringen konnte.

Gerade jetzt, in diesem Moment, sollten wir uns auf ihn und seine Lehre besinnen. Wir sollten einander nicht länger bekämpfen und uns den tatsächlichen Bedrohungen widmen. Tödliche Bombenanschläge gehören inzwischen zu unserem Alltag. Wir werden Zeugen, wie Polizisten und friedliche Demonstranten kaltblütig umgebracht werden. In unseren Schulen und Straßen werden Kinder ermordet, und die sozialen Medien sind ein Forum für Hass und Vorurteile. Politiker schüren Gewalt und Wut, anstatt einen gemeinsamen Nenner zu suchen.

Mein Großvater begriff die Gewaltlosigkeit nie als Passivität oder Schwäche. Gewaltlosigkeit war für ihn ein Mittel, sich moralisch und ethisch zu stärken und sich selbst in die Lage zu versetzen, die Gesellschaft in Einklang zu bringen. Am Anfang, als er dabei war, seine Gewaltlosigkeitskampagnen zu entwickeln, bat er die Menschen um Hilfe, einen Namen für seine neue Bewegung zu finden, und einer seiner Cousins schlug das Sanskrit-Wort sadagraha vor, was so viel wie »Festhalten am Guten« bedeutet. Das Wort gefiel Bapuji, doch er beschloss, es ein wenig abzuwandeln, in satyagraha, was in etwa »Festhalten an der Wahrheit« heißt. Später wurde seine Wortschöpfung auch mit »Seelenkraft« übersetzt, was uns eindringlich daran erinnert, dass, wer die richtigen Werte hat, auch wirklich große Kraft daraus schöpft.

Ich glaube, was wir alle im Moment brauchen, ist eine Rückkehr zur satyagraha, zur »Seelenkraft« meines Großvaters. Er rief eine Bewegung ins Leben, die zu einer gewaltigen politischen Umwälzung führte und Millionen von Indern Selbstbestimmung brachte. Doch das Wichtigste ist, dass Bapuji zu zeigen versuchte, dass wir unsere Ziele durch Liebe und Wahrhaftigkeit erreichen können und dass die größten Fortschritte dann geschehen, wenn wir unser Misstrauen aufgeben und Kraft schöpfen aus einer positiven Einstellung und unserer eigenen Zivilcourage.

Mein Großvater vertraute keinen Etiketten. Spaltungen zwischen den Menschen wollte er verhindern. Obwohl er zutiefst spirituell war, lehnte er jede Religion ab, die die Menschen eher auseinander- als zusammenbrachte. Im Ashram standen wir jeden Tag um 4:30 Uhr auf, um uns fertig zu machen für die Fünf-Uhr-Gebete. Bapuji hatte universale Gebete aus den Texten der verschiedensten Religionen herausgefiltert. Er glaubte, dass jede Religion ein Quäntchen Wahrheit enthalte und dass es problematisch sei, zu glauben, das Quäntchen sei die ganze und einzige Wahrheit.

Bapuji sprach sich gegen die britische Herrschaft und für die Selbstbestimmung aller Menschen aus, und dafür saß dieser Mann, der nichts als Liebe und Frieden verbreiten wollte, fast sechs Jahre lang in indischen Gefängnissen. Seine...

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