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Zeit der Zauberer

Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 - 1929

AutorWolfram Eilenberger
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783608110173
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Die Jahre 1919 bis 1929 markieren eine Epoche unvergleichlicher geistiger Kreativität, in der Gedanken zum ersten Mal gedacht wurden, ohne die das Leben und Denken in unserer Gegenwart nicht dasselbe wäre. Die großen Philosophen Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger prägten diese Epoche und ließen die deutsche Sprache ein letztes Mal vor der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zur Sprache des Geistes werden. Wolfram Eilenberger, Bestsellerautor, langjähriger Chefredakteur des »Philosophie Magazins« und der wohl begabteste und zurzeit auffälligste Vermittler von Geistesgeschichte im deutschsprachigen Raum, erweckt die Philosophie der Zwanziger Jahre und mit ihr ein ganzes Jahrzehnt zwischen Lebenslust und Wirtschaftskrise, Nachkrieg und aufkommendem Nationalsozialismus zum Leben. Der kometenhafte Aufstieg Martin Heideggers und dessen Liebe zu Hannah Arendt. Der taumelnde Walter Benjamin, dessen amour fou auf Capri mit einer lettischen Anarchistin ihn selber zum Revolutionär macht. Der Genius und Milliardärssohn Wittgenstein der, während er in Cambridge als Gott der Philosophie verehrt wird, in der oberösterreichischen Provinz vollkommen verarmt Grundschüler unterrichtet. Und schließlich Ernst Cassirer, der Jahre vor seiner Emigration in den bürgerlichen Vierteln Hamburgs am eigenen Leib den aufsteigenden Antisemitismus erfährt. In den Lebenswegen und dem revolutionären Denken dieser vier Ausnahmephilosophen sieht Wolfram Eilenberger den Ursprung unserer heutigen Welt begründet. Dank der großen Erzählkunst des Autors ist uns der Rückblick auf die Zwanziger Jahre zugleich Inspiration und Mahnung, aber in allererster Linie ein mitreißendes Lesevergnügen.  »Dieses schön erzählte Buch schildert die Jahre zwischen 1919 und 1929, in denen Heidegger, Wittgenstein, Benjamin und Cassirer Weltbedeutung gewannen. Zusammen bilden sie eine erstaunliche geistige Konstellation, vier Lebensentwürfe und vier Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch? Herausgekommen ist dabei das Sternbild der Philosophie in einem großen Augenblick im Schatten der Katastrophen davor und danach.« Rüdiger Safranski

Wolfram Eilenberger, geboren 1972, war langjähriger Chefredakteur des Philosophie Magazins, ist Zeit-Kolumnist, moderiert die »Sternstunde Philosophie« im Schweizer Fernsehen und ist Programmleiter der phil.cologne. In zahlreichen Talkshow-Auftritten im Deutschen Fernsehen gibt er der Philosophie eine Stimme und ein Gesicht. Sein Buch »Zeit der Zauberer« stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde 2018 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Bestseller »Feuer der Freiheit«.

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Leseprobe

I. Prolog


Die Zauberer


Gottes Ankunft


»Macht euch nichts draus, ich weiß, ihr werdet das nie verstehen.« Mit diesem Satz endete am 18. Juni 1929 in Cambridge, England, das wohl eigenartigste Rigorosum der Philosophiegeschichte. Zur Doktorprüfung angetreten vor den Ausschuss, der aus Bertrand Russell und George Edward Moore bestand, war ein 40-jähriger Ex-Milliardär aus Österreich, der die vorangegangenen zehn Jahre hauptsächlich als Grundschullehrer gearbeitet hatte.1 Sein Name lautete Ludwig Wittgenstein. Wittgenstein war in Cambridge kein Unbekannter. Im Gegenteil, in den Jahren 1911 bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er dort bei Russell studiert und war unter den damaligen Studenten ob seiner offenbaren Genialität wie auch seiner Eigenwilligkeit schnell zu einer Kultgestalt aufgestiegen. »Gott ist angekommen, ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug«, notiert John Maynard Keynes in einem Brief vom 18. Januar 1929. Keynes, zu diesem Zeitpunkt wohl der bedeutendste Ökonom der Welt, hat Wittgenstein am ersten Tag von dessen Rückkehr nach England zufällig getroffen. Und es sagt viel über die ausgesprochen enge und damit gerüchteträchtige Atmosphäre der damaligen Zirkel aus, dass sich Wittgensteins alter Freund G. E. Moore ebenfalls in diesem Zug von London nach Cambridge befand.

Man sollte sich die Atmosphäre im Abteil indes nicht als allzu ausgelassen vorstellen. Denn Small Talk und herzliche Umarmungen waren zumindest Wittgensteins Sache nicht. Vielmehr neigte das Genie aus Wien zu plötzlichen Wutausbrüchen und war überdies äußerst nachtragend. Bereits ein einziges loses Wort oder eine scherzhafte politische Äußerung konnten zu jahrelangem Groll, ja zum Abbruch der Beziehungen führen – wie es auch mit Keynes und Moore mehrfach der Fall gewesen war. Dennoch: Gott war zurück! Und die Freude entsprechend groß.

Bereits am zweiten Tag nach Wittgensteins Ankunft beruft man in Keynes’ Haus deshalb den sogenannten Kreis der »Apostel« ein – ein ausgesprochen elitärer, inoffizieller Studentenclub, der vor allem für die homosexuellen Techtelmechtel seiner Mitglieder berüchtigt war –, um den verlorenen Sohn willkommen zu heißen.2 Im Rahmen eines feierlichen Abendessens wird Wittgenstein in den Rang eines Ehrenmitglieds (»Angels«) erhoben. Mehr als 15 Jahre sind für die meisten seit der letzten Zusammenkunft vergangen. Viel ist seither geschehen. Wittgenstein indes wirkt auf seine Apostel äußerlich so gut wie unverändert. Nicht nur, dass er auch an diesem Abend seine immer gleiche Kombination aus kragenlosem Knöpfhemd, grauer Flanellhose und schweren, bäuerlich wirkenden Lederschuhen trägt. Auch körperlich scheinen die Jahre spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Auf den ersten Blick gleicht er deshalb eher einem der ebenfalls zahlreich geladenen Elitestudenten, die den seltsamen Mann aus Österreich bisher nur aus den Erzählungen ihrer Professoren kennen. Sowie natürlich als Autor des »Tractatus logico-philosophicus«, jenes legendären Werks, das die philosophischen Diskussionen in Cambridge die vorangegangenen Jahre entscheidend geprägt, wenn nicht dominiert hat. Zwar hätte keiner der Anwesenden behaupten wollen, das Buch auch nur annähernd verstanden zu haben. Die Faszination für den »Tractatus« befeuerte diese Tatsache indes nur noch mehr.

Wittgenstein hatte das Buch 1918 in italienischer Kriegsgefangenschaft mit dem festen Bewusstsein beendet, sämtliche Probleme des Denkens »im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben«, und folgerichtig beschlossen, der Philosophie nunmehr den Rücken zu kehren. Nur wenige Monate später überschrieb er, als Erbe einer der reichsten Industriellenfamilien des Kontinents, sein gesamtes Vermögen seinen Geschwistern. Wie er Russell damals brieflich mitteilte, wolle er – geplagt von schweren Depressionen und wiederkehrenden Selbstmordgedanken – fortan »mit ehrlicher Arbeit« sein Leben verdienen. Konkret hieß dies, als Grundschullehrer in der Provinz zu unterrichten.

Dieser Wittgenstein also war zurück in Cambridge. Zurück, wie es hieß, um zu philosophieren. Indes besaß das Genie, mittlerweile 40 Jahre alt, keinen akademischen Titel und zeigte sich zudem vollkommen mittellos. Das wenige, was er sich über die Jahre hatte ansparen können, ist bereits nach einigen Wochen in England aufgebraucht. Vorsichtige Erkundigungen, ob nicht die reichen Geschwister bereit wären, ihm finanziell auszuhelfen, werden mit aller Heftigkeit abgewehrt: »Akzeptieren Sie bitte meine schriftliche Erklärung, daß ich nicht nur eine Anzahl wohlhabender Verwandter habe, sondern daß sie mir auch Geld geben würden, wenn ich sie darum bäte. DASS ICH SIE ABER NICHT UM EINEN PENNY BITTEN WERDE«,3 lässt er Moore noch am Vortag seiner mündlichen Doktorprüfung wissen.

Was tun? Niemand in Cambridge zweifelt an Wittgensteins Ausnahmebegabung. Jeder, darunter die einflussreichsten Gestalten der Universität, wollen ihn halten und ihm helfen. Doch ohne akademischen Titel erwies es sich selbst in der familiären Atmosphäre von Cambridge als institutionelle Unmöglichkeit, dem Studienabbrecher von einst ein Forschungsstipendium oder gar eine feste Stelle zu besorgen.

So verfällt man schließlich auf den Plan, Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus« als Doktorarbeit einreichen zu lassen. Russell hatte sich für die Veröffentlichung im Jahre 1921/1922 persönlich eingesetzt und eigens ein Vorwort verfasst, um die Publikation zu ermöglichen, hielt er das Werk des einstigen Zöglings seinen eigenen, nicht weniger epochalen Arbeiten zur Philosophie der Logik, Mathematik und Sprache doch für weit überlegen.

Kein Wunder also, dass Russell beim Betreten des Prüfungssaals fluchte, »in seinem ganzen Leben nichts derart Absurdes erlebt zu haben«.4 Dennoch: Eine Prüfung ist eine Prüfung, weshalb sich Moore und Russell nach einigen Minuten freundschaftlicher Erkundigungen dann schließlich doch noch zu einigen kritischen Fragen entschlossen. Sie betrafen eines der zentralen Rätsel des an dunklen Aphorismen und mystischen Einzeilern nicht eben armen Traktats von Wittgenstein. Bereits der erste Satz des nach einem ausgeklügelten Dezimalsystem streng angeordneten Werks liefert dafür ein eindrückliches Beispiel. Er lautet:

1  Die Welt ist alles, was der Fall ist.

Aber auch Einträge wie die folgenden gaben den Wittgenstein-Adepten Rätsel auf (und tun dies bis heute):

6.432  Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.

6.44  Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.

Trotz dieser Rätselhaftigkeit ist der Grundimpuls des Buches klar. Wittgensteins »Tractatus« steht in einer langen Tradition moderner Werke wie die »Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt« (posthum 1677) von Baruch de Spinoza, David Humes »Untersuchung über den menschlichen Verstand« (1748) und Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781). All diese Werke streben an, eine Grenze zu ziehen zwischen den Sätzen unserer Sprache, die im eigentlichen Sinne sinnvoll und damit wahrheitsfähig sind, und solchen, die nur sinnvoll erscheinen und unser Denken und unsere Kultur aufgrund dieser Scheinhaftigkeit in die Irre führen. Es handelt sich beim »Tractatus« mit anderen Worten um einen therapeutischen Beitrag zu der Problemstellung, wovon man als Mensch sinnvoll sprechen kann – und wovon nicht. Nicht zufällig endet das Buch mit dem Lehrsatz:

7  Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.

Und nur eine Dezimalstelle zuvor, unter Eintrag 6.54, legt Wittgenstein seine eigene therapeutische Verfahrensweise offen:

6.54  Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)

Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.

Genau an diesem Punkt nun hakt...

Blick ins Buch

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