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E-Book

Zerbrochene Länder

Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet

AutorScott Anderson
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783518754689
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR

»So ist also die Frage beantwortet, ob man das aktuelle Chaos in der arabischen Welt in einem einzigen journalistischen Stück erfassen kann. Man kann. Scott Anderson kann es sogar grandios.«

Die Zeit

»Die hellsichtigste, kraftvollste und menschlichste Erklärung dessen, was in der Region passiert ist, die Sie jemals lesen werden.«

The New York Times Magazine

»Manchmal fließt die Geschichte der Menschheit bedächtig vor sich hin, manchmal bewegt sie sich sehr schnell.« Diesen Satz formulierte Muammar al-Gaddafi 2002 gegenüber Scott Anderson. Tatsächlich hat sich die Geschichte im Nahen Osten überschlagen, seit die USA 2003 im Irak einmarschiert sind: 2011 weckte der Arabische Frühling Hoffnungen, doch bald versanken Länder wie Syrien und der Irak im Chaos, von dem wiederum der Islamische Staat profitierte. Millionen Menschen flohen aus Syrien in Nachbarstaaten und nach Europa.

Anhand der Erlebnisse von sechs Menschen schildert Anderson die Geschichte einer zerbrechenden Region. Er begleitet den jungen Iraker Wakaz, der sich vorübergehend dem IS anschließt, Laila, die Witwe eines prominenten ägyptischen Menschenrechtsanwalts, deren Sohn innerhalb kurzer Zeit von drei Regimes inhaftiert wird, und Majd, den seine Flucht von Homs über das Mittelmeer bis nach Dresden führt. Illustriert wird Andersons Großreportage mit Aufnahmen des renommierten Fotografen Paolo Pellegrin. Ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument.



<p>Scott Anderson, geboren 1959, ist ein amerikanischer Schriftsteller und Kriegsberichterstatter. Er schreibt u. a. f&uuml;r <em>GQ</em>, <em>Vanity Fair</em> und das Magazin der <em>New York Times</em>. Sein 2013 erschienenes Buch <em>Lawrence in Arabia</em> gilt bereits heute als Klassiker der biografischen Literatur.</p>

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Leseprobe

7PROLOG


Bevor wir mit dem Auto in den Nordirak fahren, tauscht Dr. Azar Mirkhan seine westliche Kleidung gegen die traditionelle Kluft kurdischer Peschmerga: Er streift eine eng anliegende kurze Wollweste über sein Hemd, schlüpft in bauschige Pluderhosen und legt einen breiten Kummerbund an. Dann kommen die speziellen Accessoires der kurdischen Streitkräfte: ein Kampfmesser, das er ordentlich an seinem Kummerbund befestigt, eine geladene Pistole, Kaliber .45, und ein Feldstecher für Scharfschützen. Sollte es besonders heikel werden, liegt sein M4-Sturmgewehr griffbereit auf dem Rücksitz; zusätzliche Magazine hat er im Fußraum verstaut. Der Arzt zuckt mit den Schultern: »Ist eine unsichere Gegend.«

An diesem Maitag im Jahr 2015 wollen wir an den Ort fahren, mit dem Azar seinen größten Schmerz verbindet – einen Schmerz, der ihn bis heute verfolgt. Im vorigen Jahr haben Kämpfer des Islamischen Staates (IS) eine blutige Schneise durch den Nordirak geschlagen, die ihnen zahlenmäßig weit überlegenen irakischen Truppen in die Flucht geschlagen und schließlich ihre Aufmerksamkeit den Kurden zugewandt. Azar hatte genau vorhergesagt, an 8welcher Stelle die Mörder des IS als Nächstes zuschlagen würden. Er hatte gewusst, dass ihnen Tausende Zivilisten hilflos ausgeliefert waren. Doch niemand hatte auf ihn und seine Warnungen gehört. In seiner Verzweiflung hatte er seinen Wagen mit Waffen beladen und war schnellstmöglich zum Ort des Geschehens gefahren. An einer bestimmten Stelle auf der Straße sah er, dass er nur wenige Stunden zu spät gekommen war. »Es war offensichtlich«, erklärt Azar, »einfach offensichtlich. Aber niemand wollte mir glauben.« An diesem Tag kehren wir dorthin zurück, wo die sagenumwobenen kurdischen Krieger des Nordirak ausmanövriert und zum Rückzug gezwungen wurden – an die Stelle, an der es Dr. Azar Mirkhan nicht gelungen war, eine kolossale Tragödie abzuwenden, und an der er noch monatelang gegen den IS kämpfen sollte.

Eigentlich ist Azar praktizierender Urologe, doch selbst ohne seine Waffen und seine Kriegerkluft strahlt der 41-Jährige die Aura eines Jägers aus. Wenn er geht, schreitet er auf merkwürdige Art und Weise voran, so dass er kaum ein Geräusch dabei macht; im Gespräch neigt er dazu, sein Kinn zu senken und unter schweren Lidern sein Gegenüber anzublicken, als würde er es mit einer Waffe anvisieren. Mit seiner markanten Nase und seinen pechschwarzen Locken erinnert er ein wenig an den jungen Johnny Cash.

Das Waffenarsenal des Arztes passt gut zu seiner persönlichen Philosophie, wie sie in einer Szene seines Lieblingsfilms, Zwei glorreiche Halunken, zum Ausdruck kommt: Eli Wallach wird in der Badewanne von einem Mann überrascht, der ihn töten will, doch sein potenzieller Mörder setzt zu einem triumphierenden Monolog an, statt Wallach auf der Stelle zu erschießen. So gelingt es Wallach, seinem Häscher zuvorzukommen und ihm den Garaus zu machen.

9»›Wer schießen will, der soll schießen und nicht quatschen‹«, zitiert Azar den Film. »So ist das bei uns Kurden mittlerweile. Das ist nicht die Zeit zum Reden, sondern um zu schießen.«

Dr. Azar Mirkhan ist einer von sechs Menschen, deren Leben auf diesen Seiten erzählt wird. Diese sechs stammen aus unterschiedlichen Regionen, Städten, Stämmen und Familien. Doch sie teilen mit Millionen anderer Menschen im Nahen Osten das Schicksal, in einer aus den Fugen geratenen Welt zu leben. Die Umbrüche und Unruhen, die 2003 mit dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in den Irak begannen und letztlich in Aufständen und Revolutionen mündeten, die im Westen als »Arabischer Frühling« bekannt geworden sind, haben ihr Leben für immer aus den Angeln gehoben. Aufgrund der Verwüstungen des IS sowie der von Terroranschlägen und zerfallenen Staaten in der Region dauern diese Entwicklungen bis heute an.

Es war jeweils ein einzelnes Ereignis, das jeder dieser sechs Personen die Umwälzungen besonders deutlich vor Augen führte. Für Dr. Azar Mirkhan war es der Tag, an dem er auf der Straße nach Sindschar mit eigenen Augen sah, dass seine schlimmsten Albträume Wirklichkeit geworden waren. Für Laila Soueif aus Ägypten zeigte sich der Wandel, als sich ein junger Mann aus einem vorbeiziehenden Demonstrationszug löste und sie umarmte, was sie damals zu der Ansicht brachte, die Revolution werde gelingen. Für den Libyer Majdi el-Mangoush kam dieser Augenblick, als er durch ein tödliches Niemandsland streifte und sich, von plötzlicher Euphorie übermannt, das erste Mal in seinem Leben vollkommen frei fühlte. Für Khulood al-Zaidi aus dem Irak war es so weit, als ihr ein paar drohende Worte einer ehemaligen Freundin endgültig verdeutlichten, dass alles, wofür sie gearbeitet 10hatte, nicht mehr existierte. Für den Syrer Majd Ibrahim kam dieser Moment, als er von Milizionären verhört wurde und er einen von ihnen dabei beobachtete, wie er sein Handy nach vermeintlichen Hinweisen auf die Identität von Majds »Verbindungsoffizier« durchsuchte, und ihm klar wurde, dass seine Hinrichtung bevorstand. Für Wakaz Hassan aus dem Irak, einen jungen Mann ohne besonderes Interesse an Politik oder Religion, kam er, als eines Tages bewaffnete IS-Kämpfer in seinem Dorf auftauchten und ihn vor die Wahl stellten.

So unterschiedlich diese Momente auch gewesen sein mögen, bedeuteten sie für jede dieser sechs Personen doch eine Art Übergang: eine Reise an einen Ort, von dem es kein Zurück mehr gab. Solche Veränderungen, die zweifellos Millionen von Menschen bekannt sind, haben auch ihre Heimatländer im Nahen Osten und damit unausweichlich die ganze Welt erfasst.

Trotz der Plötzlichkeit, mit der sich all diese Veränderungen vollzogen haben, ist nichts davon ohne Vorwarnung geschehen. Geschichte ist stets das Ergebnis scheinbar zufälliger Ereignisse und Ströme, deren Bedeutung erst im Nachhinein klar oder – häufiger noch – bestritten wird. Wer den Versuch wagt, die Hintergründe der Geschehnisse im Nahen Osten zu entschlüsseln, wird einerseits neue und andererseits jahrhundertealte Erkenntnisse aufdecken.

Während er geistesabwesend mit einer selbst gebastelten Fliegenklatsche spielt – einem aus mehreren getrockneten Rosmarinzweigen bestehenden Bündel, das mit einem Streifen Aluminiumfolie verschnürt wurde –, betrachtet der 60-jährige Mann durch die braungetönten Gläser seiner Sonnenbrille wie in Trance die schattenspendenden Palmwedel über seinem Kopf.

11»Die Geschichte der Menschheit ist ständig im Fluss«, murmelt er nach einer Weile, »und das nicht immer in derselben Geschwindigkeit. Manchmal geht es bedächtig voran; manchmal bewegt sich alles sehr schnell. Der Lauf der Zeit ist überaus flexibel.« Er legt seine Fliegenklatsche auf dem billigen Terrassentisch aus Plastik ab und wendet sich zu mir. »Das vergangene Stadium war das nationalistische – das der nationalen Identität. Das hat sich nun auf einmal geändert. Jetzt befinden wir uns in der Ära der Globalisierung, und viele neue Faktoren beeinflussen heute die Aufteilung der Welt.«

Was die sich wandelnden Zeiten angeht, verfügt der Mann mit der Sonnenbrille über einige Expertise. Sein Name ist Muammar al-Gaddafi, Alleinherrscher Libyens, ein Diktator, der zu dem Zeitpunkt, als ich ihn im Oktober 2002 treffe, seit 33 Jahren an der Macht ist. In diesen 33 Jahren hat er die sich ständig verändernden geopolitischen Klippen der Region stets erfolgreich umschifft.

Diese Geschicklichkeit erklärt auch meine Anwesenheit in der Bab-al-Aziziya-Kaserne in Tripolis. Ende 2002 hat das Saddam Hussein geltende Washingtoner Säbelrasseln seinen Höhepunkt erreicht; unter Präsident George W. Bushs engsten Vertrauten heißt es, der lästige Libyer sei als Nächstes dran, sobald der irakische Despot erst einmal aus dem Weg geräumt worden sei. Um das zu verhindern, hat Gaddafi kürzlich eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um sich aus der Schusslinie zu manövrieren, darunter eine PR-Kampagne, die eben angelaufen ist. In jenem Herbst gestattet der für sein zurückgezogenes Dasein bekannte Potentat einigen ausländischen Journalisten die ersten Interviews mit nichtlibyschen Medien seit mehr als einem Jahrzehnt.

Hinsichtlich seiner Beziehungen zur Bush-Regierung mögen Gaddafis Handlungen von einer gewissen Unruhe 12zeugen, aber von dieser Nervosität ist nichts zu spüren, wenn er auf sein Ansehen beim libyschen Volk zu sprechen kommt. Nach über 30 Jahren an der Macht ist er im Alltag seiner Landsleute so allgegenwärtig geworden, dass sie in Unterhaltungen kaum noch seinen vollen Namen verwenden. Er ist schlicht und ergreifend »der Führer«. Das Ausmaß seiner Zuversicht offenbart sich, als er sich in Reaktion auf meine Frage, wie er den Leuten im Gedächtnis zu bleiben gedenkt, einen Scherz erlaubt und ebenso zynisch wie selbstkritisch erklärt: »Ich hoffe, die Menschen werden der Ansicht sein, dass ich kein Egoist war und dass ich mich und meine Bedürfnisse vernachlässigt habe, um andere zufriedenzustellen und ihnen zu helfen. Ich hoffe inständig, die Leute werden so etwas sagen.« Dann beugt er sich zu mir und sagt leise kichernd: »Und ich hoffe, dass ich wirklich so gewesen bin.«

Die Ironie an der Geschichte ist natürlich, dass die Amerikaner ihn sich nicht vorknöpften – jedenfalls für den Augenblick. Der Führer würde weitere zehn Jahre auf seinem Thron in Tripolis verharren, nur um von einer Gefahr eingeholt zu werden, die er selbst nie hatte kommen sehen: einem Aufstand seines eigenen Volkes. Muammar al-Gaddafi sollte zu einem der bekanntesten und am brutalsten zur Schau gestellten Opfer der von der...

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