PROLOG
Eine Mutter
»Ich gehe allein … Jetzt werde ich lange allein gehen müssen …
Er hat einen Menschen getötet … Mein Sohn … Mit einem Küchenbeil, damit habe ich immer Fleisch zerteilt. Er ist aus dem Krieg zurückgekommen, und hier hat er getötet … Am Morgen kam er nach Hause und legte das Beil wieder an seinen Platz, in den Geschirrschrank. Ich glaube, ich habe ihm an diesem Tag noch Koteletts gemacht … Nach einer Weile wurde im Fernsehen gesagt, oder es stand in der Abendzeitung, Angler hätten eine Leiche aus dem Stadtsee gefischt … Zerstückelt … Meine Freundin rief mich an: ›Hast du gelesen? Ein Profimord … Typische Afghanen-Handschrift …‹
Mein Sohn war zu Hause, er lag auf der Couch und las ein Buch. Ich wusste noch nichts, ahnte nichts, aber nach diesen Worten sah ich ihn an … Das Herz einer Mutter …
Hören Sie das Hundegebell? Nein? Ich höre es – immer wenn ich davon erzähle, höre ich Hunde bellen. Hunde, die laufen … Dort im Gefängnis, wo er jetzt sitzt, gibt es große schwarze Schäferhunde … Auch die Menschen sind alle schwarz gekleidet, nur schwarz … Wenn ich nach Minsk zurückkomme und die Straße entlanggehe, vorbei am Brotladen und am Kindergarten, mit einem Weißbrot und Milch, dann höre ich dieses Gebell. Ohrenbetäubendes Gebell. Mir wird ganz schwarz vor Augen … Einmal wäre ich beinahe unter ein Auto geraten …
Ich wäre bereit, ans Grab meines Sohnes zu gehen … Dort neben ihm zu liegen … Aber ich weiß nicht … Wie ich damit leben soll, weiß ich nicht … Manchmal habe ich Angst, in die Küche zu gehen, den Schrank zu sehen, in dem das Beil lag … Hören Sie es nicht? Sie hören nichts … Nein?!
Ich weiß nicht, wie mein Sohn ist. Und wie werde ich ihn in fünfzehn Jahren zurückbekommen? Er hat fünfzehn Jahre strenge Lagerhaft gekriegt … Wie ich ihn erzogen habe? Er interessierte sich für Gesellschaftstanz … Wir fuhren zusammen nach Leningrad, in die Eremitage. Lasen zusammen Bücher … (Sie weint.) Afghanistan hat mir meinen Sohn genommen …
Wir bekamen ein Telegramm aus Taschkent: Holt mich ab, Flug Nummer soundso … Ich rannte auf den Balkon, ich wollte laut hinausschreien: ›Er lebt! Mein Sohn ist lebend aus Afghanistan heimgekehrt! Dieser schreckliche Krieg ist für mich vorbei!‹ Und verlor das Bewusstsein. Zum Flughafen kamen wir natürlich zu spät, das Flugzeug war längst gelandet, wir fanden unseren Sohn im Park. Er lag auf der Erde, hielt das Gras fest und staunte, wie grün es war. Er konnte nicht glauben, dass er heimgekehrt war … Aber sein Gesicht war ohne Freude …
Am Abend besuchten uns die Nachbarn, sie haben ein kleines Mädchen, dem hatten sie eine blaue Schleife ins Haar gebunden. Er nahm die Kleine auf den Schoß, drückte sie an sich und weinte, die Tränen liefen nur so. Weil sie dort getötet hatten. Auch er … Das wurde mir später klar.
An der Grenze haben ihm die Zöllner seine ausländischen Unterhosen abgenommen. Amerikanische. Das sei nicht erlaubt … Er kam also ohne Unterwäsche an. Für mich hatte er eine Kittelschürze dabei, ich wurde in dem Jahr vierzig, die nahmen sie ihm weg. Für die Großmutter ein Tuch – das nahmen sie ihm auch weg. Er hatte nur Blumen dabei. Gladiolen. Aber sein Gesicht war ohne Freude.
Wenn er morgens aufstand, war er ganz normal. ›Mamka! Mamka!‹ Zum Abend wurde sein Gesicht immer dunkler, seine Augen wurden bleiern … Das kann ich Ihnen nicht beschreiben … Anfangs trank er keinen Tropfen … Saß da und starrte die Wand an. Dann sprang er vom Sofa, schnappte sich seine Jacke …
Ich stellte mich vor die Tür. ›Wo willst du hin, Valjuschka?‹
Er schaute mich an, als wäre ich gar nicht da. Und ging.
Einmal komme ich spät von der Arbeit, der Betrieb ist weit weg, und ich hatte Spätschicht, ich klingle an der Tür, aber er macht nicht auf. Er erkennt meine Stimme nicht. Das war so seltsam – wenn er die Stimmen seiner Freunde nicht erkennt, na schön, aber meine! Zumal nur ich ihn Valjuschka nannte. Es war, als wartete er die ganze Zeit auf irgendwen, als hätte er Angst. Einmal hab ich ihm ein neues Hemd gekauft und ließ es ihn anprobieren, da sehe ich: seine Arme sind voller Schnittwunden.
›Was ist das?‹
›Nichts weiter, Mamka.‹
Später habe ich es erfahren. Nach dem Prozess … Während der Ausbildung hat er sich die Pulsadern aufgeschlitzt … Bei einer Musterübung war er Funker, er schaffte es nicht, das Funkgerät rechtzeitig auf einen Baum zu werfen, schaffte die vorgeschriebene Zeit nicht, und der Sergeant ließ ihn fünfzig Eimer aus der Toilette schöpfen und an der angetretenen Truppe vorbeischleppen. Dabei wurde er ohnmächtig. Im Lazarett stellten sie die Diagnose: leichter Nervenzusammenbruch. In derselben Nacht hat er versucht, sich die Pulsadern aufzuschlitzen. Das zweite Mal in Afghanistan … Vor einem Einsatz wurde das Funkgerät überprüft – es funktionierte nicht. Wertvolle Teile fehlten, irgendwer hatte sie geklaut … Wer? Der Kommandeur beschuldigte ihn der Feigheit, er hätte die Teile versteckt, um nicht mit den anderen in den Einsatz zu müssen. Dabei beklauten sie sich dort alle gegenseitig, sogar die Autos nahmen sie auseinander und schafften sie als Ersatzteile in einen Dukan, einen Laden, zum Verkaufen. Und kauften Drogen … Drogen, Zigaretten. Und Essen. Sie waren ständig hungrig.
Im Fernsehen lief mal eine Sendung über Edith Piaf, die sahen wir uns zusammen an.
›Mama‹, fragte er mich, ›weißt du, was Drogen sind?‹
›Nein‹, log ich und beobachtete ihn – ob er welche nahm?
Ich konnte nichts entdecken. Aber dort haben sie Drogen genommen, das weiß ich.
›Wie ist es dort in Afghanistan?‹, habe ich ihn einmal gefragt.
›Hör auf, Mamka!‹
Wenn er fortging, las ich seine afghanischen Briefe wieder, ich wollte herausfinden, was mit ihm los war. Aber ich fand darin nichts Besonderes, er schrieb, dass er sich nach grünem Gras sehne, bat seine Großmutter, sich im Schnee fotografieren zu lassen und ihm das Foto zu schicken. Aber ich sah doch, ich spürte, dass etwas mit ihm geschah. Ich hatte einen anderen Menschen zurückbekommen … Das war nicht mein Sohn. Und ich selbst hatte ihn zur Armee geschickt, er war eigentlich zurückgestellt. Ich wollte, dass er ein Mann wurde. Ich redete ihm und mir selbst ein, die Armee würde ihn besser machen, stärker. Ich schickte ihn mit einer Gitarre nach Afghanistan, richtete zu seiner Verabschiedung eine Kuchentafel aus. Er lud seine Freunde ein, ein paar Mädchen … Ich weiß noch, ich habe zehn Torten gekauft.
Nur ein einziges Mal kam er auf Afghanistan zu sprechen. Gegen Abend … Er kam in die Küche, ich nahm gerade ein Kaninchen aus. Die ganze Schüssel war voller Blut. Er tauchte die Finger in dieses Blut und schaute es an. Betrachtete es. Und sagte zu sich selbst: ›Sie bringen einen Freund mit Bauchwunde … Er bittet mich, ihn zu erschießen … Und ich habe ihn erschossen …‹
Die Finger voller Blut … Vom Kaninchenfleisch, es war ganz frisch … Mit diesen Fingern schnappte er sich eine Zigarette und ging auf den Balkon. An diesem Abend sprach er kein Wort mehr mit mir.
Ich ging zu Ärzten. Gebt mir meinen Sohn zurück! Rettet ihn! Ich erzählte ihnen alles … Sie schauten ihn sich an, untersuchten ihn, aber außer einer Radikulitis fanden sie nichts.
Eines Tages komme ich nach Hause: Am Tisch sitzen vier unbekannte junge Männer.
›Mamka, sie kommen aus Afghanistan. Ich hab sie auf dem Bahnhof getroffen. Sie haben kein Nachtquartier.‹
›Ich backe euch gleich einen Kuchen. Geht ganz schnell.‹ Aus irgendeinem Grund freute ich mich.
Sie blieben eine Woche bei uns. Ich hab nicht gezählt, aber an die drei Kisten Wodka haben sie bestimmt getrunken. Jeden Abend fand ich bei mir zu Hause fünf Fremde vor. Der Fünfte war mein Sohn … Ich wollte ihre Gespräche nicht mit anhören, sie erschreckten mich. Aber in einer so kleinen Wohnung … Unwillkürlich hörte ich mit … Sie erzählten, wenn sie zwei Wochen lang in einem Hinterhalt saßen, hätten sie Aufputschmittel bekommen, damit sie mutiger wurden. Aber das alles werde geheim gehalten. Mit welchen Waffen man am besten töten könne … Aus welcher Entfernung … Später fiel mir das alles wieder ein, nachdem es passiert war … Später fing ich an nachzudenken, erinnerte mich fieberhaft. Bis dahin aber war mir nur bange. Oje, sagte ich mir, sie sind alle irgendwie verrückt. Sie sind alle nicht mehr normal.
In der Nacht … Vor jenem Tag … An dem er tötete … Da hatte ich einen Traum: Ich warte auf meinen Sohn, er kommt und kommt nicht. Und dann bringen sie ihn mir … Vier ›Afghanen‹. Sie werfen ihn auf den schmutzigen Zementfußboden. Verstehen Sie, Zementfußboden bei mir zu Hause … In unserer Küche … Ein Fußboden wie im Gefängnis.
Zu der Zeit hatte er schon die Aufnahmeprüfung für die Vorbereitungsfakultät des Instituts für Kommunikationstechnik bestanden. Er hatte einen sehr guten Aufsatz geschrieben. Er war glücklich, dass für ihn alles gut lief. Ich dachte schon, er beruhige sich allmählich. Er würde studieren. Heiraten. Doch sobald es Abend wurde … Ich hatte Angst vor dem Abend … Dann saß er da und starrte die Wand an. Schlief im Sessel ein … Ich hätte mich am liebsten über ihn geworfen, ihn beschützt und ihn nicht mehr weggelassen. Jetzt träume ich oft von meinem Sohn: Er ist noch klein und hat Hunger … Er ist die ganze Zeit hungrig. Streckt mir die Arme entgegen … Wenn ich von ihm träume, ist er immer klein und hilflos. Und die...