Mit Blick auf die Ätiologie scheint es sehr vielfältige Möglichkeiten zu geben, eine Soziale Phobie zu entwickeln, von denen jedoch keine zwangsläufig zu einer Sozialen Phobie führen muss. Bislang herrschen immer noch viele Unklarheiten darüber, warum manche Menschen die Störung ausbilden und andere nicht (Hudson & Rapee, 2000; Rapee & Spence, 2004). So ist davon auszugehen, dass die Störung auf einer komplexen Interaktion zwischen genetischen Faktoren, Persönlichkeitseigenschaften, familiärem Umfeld und persönlichen Erfahrungen beruht, wobei nach wie vor nicht eindeutig festzustellen ist, auf welche Weise diese Faktoren miteinander interagieren (Iancu & Goldstein, 2009; Merikangas et al., 2003). Am häufigsten wird in diesem Zusammenhang das Vulnerabilitäts-Stress-Modell hinzugezogen (Brook & Schmidt 2008; Hudson & Rapee, 2000; Rapee & Spence, 2004). Dieses verbindet biologische und psychologische Faktoren sowie Umweltfaktoren miteinander und kann mittlerweile als ein schulenübergreifend anerkanntes Modell angesehen werden.
In den verschiedenen Studien zu einem solchen Vulnerabilitäts-Stress-Modell werden zumeist folgende Bereiche beschrieben, die zur Ätiologie beitragen sollen:
Genetische Faktoren und Persönlichkeitseigenschaften
kognitive Aspekte
Eltern-Kind-Interaktionen und ungünstige Umweltbedingungen
soziale und kulturelle Einflüsse
Einen detaillierten Überblick hierzu, insbesondere zu den umweltbedingten Risikofaktoren in Bezug auf eine Soziale Phobie, geben Brook und Schmidt (2008).
Der Begriff „Vulnerabilität“ meint bei diesem Modell eine erhöhte Wahrscheinlichkeit bei einer Person, aufgrund bestimmter Eigenschaften eine psychische Störung – in diesem Fall eine Soziale Phobie – auszubilden. Diese Eigenschaften interagieren zugleich mit stressvollen Erfahrungen in der Umwelt (Hofmann et al., 2002). Demzufolge ist davon auszugehen, dass bei einer größeren zugrunde liegenden Vulnerabilität für eine Soziale Phobie umso geringerer Stress benötigt wird, um entsprechende Verhaltensmuster auszulösen (Brook & Schmidt 2008). Jedoch muss es sich bei den Vulnerabilitätsfaktoren nicht ausschließlich um rein biologische bzw. genetische Merkmale handeln, wie häufig angenommen wird. Auch Umwelteinflüsse, die aus der zwischenmenschlichen Interaktion und dem sozialen Kontext heraus resultieren, sind als Risikofaktoren von Bedeutung (Hofmann et al., 2002; Murray, Creswell & Cooper, 2009). Als Beispiel für ein solches Vulnerabilitäts-Stress-Modell, wie es oben beschrieben wurde, soll im Folgenden das Modell von Rapee und Spence (2004) dargestellt und erläutert werden. Hierbei ist erneut darauf hinzuweisen, dass die Soziale Phobie und ihre Entwicklung im Sinne eines Kontinuums zu verstehen sind (vgl. Kapitel 2.1).
Wie in Abbildung 1 dargestellt, wird das Individuum bereits durch bestimmte genetische Merkmale in seiner Persönlichkeit beeinflusst, welches sich u.a. in der Emotionalität (z.B. negative Affektivität) und der Geselligkeit des betreffenden Individuums niederschlägt. Dadurch wird das Individuum bereits entlang des Kontinuums in Richtung eines bestimmten Grads der sozialen Ängstlichkeit gelenkt, dem sogenannten „Set Point“, welcher als eine Art Schwellenwert verstanden werden kann. Dieser Set Point ist relativ konstant und stabil, kann jedoch gleichzeitig von verschiedenen, zumeist umweltbedingten Faktoren beeinflusst werden. Die Stärke des Einflusses durch einen Umweltfaktor ist abhängig von dem Zeitpunkt seines Auftretens, seiner Intensität und Bedeutung für das Individuum sowie von seiner Einwirkungsdauer. So kann sich, laut Rapee und Spence (2004), ein Individuum mit geringer genetischer Vulnerabilität durch bestimmte traumatische Erlebnisse oder Umwelteinflüsse entlang des Kontinuums aufwärts in Richtung hoher sozialer Ängstlichkeit bewegen und gegebenenfalls eine Soziale Phobie entwickeln. Umgekehrt kann allerdings auch das Niveau der sozialen Ängstlichkeit eines Individuums mit einer hohen genetischen Disposition verringert werden, solange es in einem stark unterstützenden Familienumfeld aufwächst, welches soziale Interaktionen und das Eingehen sozialer Risiken ermutigt. Die Autoren nehmen jedoch an, dass Veränderungen durch Umwelteinflüsse meist eher gering und temporär sind. So fällt das Individuum häufig wieder auf den ursprünglichen Set Point zurück, sobald der betreffende Einflussfaktor nicht mehr vorhanden ist. Große Schwankungen im Laufe des Lebens eines Individuums sind daher relativ selten (Rapee & Spence, 2004).
Abbildung 1: Das Entstehungsmodell zur Sozialen Phobie von Rapee & Spence
(Quelle: Rapee & Spence, 2004, S. 756)
Anhand des Modells wird deutlich, dass verschiedene Risikofaktoren auf die Ausprägung der Störung einwirken. So haben die Eltern besonders im frühen Kindesalter einen großen Einfluss auf die Störungsentwicklung. Hierbei sind vor allem Bindungsstile und ein bestimmtes Erziehungsverhalten wie Überbehütung und Kontrolle von Bedeutung sowie die Übernahme bestimmter sozialer Verhaltens- und Denkweisen durch das sogenannte Modelllernen. Dem Kind kann dadurch z.B. die Überzeugung vermittelt werden, dass andere Menschen grundsätzlich sehr kritisch eingestellt sind und dass das Kind selbst nicht über ausreichende Fähigkeiten und Kompetenzen verfügt (Rapee & Spence). Durch die Pfeile zwischen den jeweiligen Komponenten wird in Abbildung 1 ein wechselseitiger Einfluss zwischen Eltern und den Eigenschaften des Kindes aufgezeigt. Denn nicht nur das Verhalten der Eltern hat Auswirkungen auf das Kind, sondern auch die Persönlichkeitseigenschaften des Kindes, wie z.B. Schüchternheit oder Verhaltenshemmung, beeinflussen umgekehrt das elterliche Erziehungsverhalten (Hofmann et al., 2002; Hudson & Rapee, 2000; Rapee & Spece, 2004). Die Rolle der Eltern bei der Entstehung einer Sozialen Phobie und insbesondere die Bedeutung des Erziehungsverhaltens sollen in den folgenden Kapiteln ausführlicher thematisiert werden (vgl. Kap. 4; Kap. 5).
Da sich das Kind nicht nur im Elternhaus, sondern in verschiedenen Lebenswelten wie Kita, Schule oder (Sport-)Vereinen bewegt, wächst mit zunehmendem Alter der Einfluss durch andere gleichaltrige Kinder, die sogenannte Peergruppe (Asendorpf, 2002). Hierbei können insbesondere Erfahrungen wie Missachtung, Zurückweisung oder Hänseleien bis hin zum Mobbing als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Sozialen Phobie betrachtet werden (Rapee & Spence, 2004). Gleichzeitig können jedoch soziale Akzeptanz und soziale Unterstützung durch andere Gleichaltrige sowie eine als hoch empfundene Freundschaftsqualität als Schutzfaktoren fungieren (vgl. Kap. 5.2) (Festa & Ginsburg, 2011).
Bezüglich der Modell-Abbildung wäre an dieser Stelle allerdings kritisch anzumerken, dass es sich bei der Interaktion mit der Peergruppe ebenfalls um eine Reziprozität handelt, da sich Auftreten und Verhalten des betreffenden Individuums auf das Verhalten seiner Mitmenschen auswirkt. So verhält sich ein Kind mit ängstlichen Charakterzügen häufig in einer bestimmten Art und Weise, die es von der Gruppe abspaltet und somit anfälliger für deren Ablehnung und Hänseleien macht (Hudson & Rapee, 2000). Das wechselseitige Zusammenspiel zwischen Sozialverhalten des Kindes und dem Verhalten der Gruppenmitglieder wird in diesem Modell noch an anderer Stelle thematisiert. Dennoch wäre auch hier eine entsprechende Kennzeichnung des Einflusses durch das Kind auf die Peergruppe sinnvoll.
Eine weitere Rolle bei der Entwicklung einer Sozialen Phobie spielen negative Lebensereignisse. In diesem Zusammenhang werden häufig Erlebnisse wie elterliche Konflikte, physischer oder sexueller Missbrauch sowie Erfahrungen von Vernachlässigung, Ablehnung, Bedrohung und Mobbing genannt (Iancu & Goldstein, 2009). Negative Lebensereignisse haben besonders dann einen großen Einfluss, wenn sie langanhaltend wirken, wie beispielsweise der Verlust eines nahestehenden Menschen. Zudem wird angenommen, dass frühe interpersonale Erfahrungen die Temperamentseigenschaften des Individuums beeinflussen können und mit diesen interagieren. Jedoch ist die Frage der Kausalität bisher nicht eindeutig geklärt. Es ist daher nicht sicher, ob diese Erfahrungen überhaupt störungsspezifische Variablen darstellen und ob sie als Ursache oder vielmehr als Folge sozialphobischen Verhaltens gelten können (ebd.). Auch hierbei ist vermutlich von einer wechselseitigen Beeinflussung auszugehen. Für eine ausführlichere Betrachtung der Bedeutung von Lebensereignissen im Hinblick auf eine Soziale Phobie sei u.a. auf Iancu und Goldstein (2009) verwiesen.
Wie bereits angedeutet, hat auch das Verhalten des Individuums selbst Auswirkungen auf das Verhalten anderer und damit auf den Ausgang sozialer Situationen. Daher wird im Modell von Rapee und Spence (2004) das Sozialverhalten des Individuums als eigene Einflussgröße aufgeführt (in Abbildung 1 als „poor social skills“ und „interrupted...