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E-Book

Zur Psychodynamik des Suizids

Eine metapsychologische Betrachtung

AutorThomas Weber
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl70 Seiten
ISBN9783656451730
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2013 im Fachbereich Psychologie - Klinische u. Gesundheitspsychologie, Psychopathologie, Note: 2,0, Universität Bremen (Studiengang Psychologie), Sprache: Deutsch, Abstract: Der Autor beschäftigt sich anhand ausgewählter psychoanalytischer Konzepte (Aggressionskonflikt, Ambivalenzkonflikt, Objektverlust, Objekbeziehungstheorie und Narzissmus) mit psychodynamisch fundierten Erklärungsversuchen für suizidales Handeln: Freud, Kernberg, Kohut, Henseler, Balint, etc.

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5. Objektbeziehungstheorie


 

Die Objektbeziehungstheorie setzt sich mit den Selbst- und Objektrepräsentanzen eines Individuums auseinander. Sie geht der Frage nach, welche unbewussten, vorbewussten oder bewussten Annahmen ein Mensch über sich selbst und die anderen hat. Diese Annahmen beeinflussen in hohem Maße sein Verhältnis zu sich selbst sowie die Wahrnehmung seines sozialen Umfeldes und die Interaktionen mit diesem.[22] Derartige Eigenschaften stellen sich im psychoanalytischen Setting anhand von Übertragung und Gegenübertragung dar.

 

 In seinem Aufsatz 'Triebe und Triebschicksale' führt Freud den Begriff des Objektes ein. Ein Objekt sei eine andere Person (oder wie im Sonderfall des Fetischismus ein Gegenstand), die dem Trieb des Individuums, einem Subjekt, zu seinem Ziel, dem Triebziel, verhelfe. Dabei sei das Objekt einerseits austauschbar, denn „Das Objekt des Triebes ist dasjenige an welchem und durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. […] Es ist das Variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung“ (l.c.) zur Befriedigung zugeordnet (Freud 1915c, S. 215). Andererseits sei das Objekt eine Wiederfindung in Bezug auf die primäre Bezugsperson.

 

 In „Das Ich und das Es“ (Freud 1923b) setzt der Begründer der Psychoanalyse sich mit den Bedeutungen des Objektes für die Beziehungen des Subjekts zu sich selbst und zu den Anderen auseinander. So werde das Subjekt durch das Benennen des Objektcharakters der Beziehungen in die Lage versetzt, „sich so oder anders zu entscheiden“ (ebd. S. 280). An dieser Stelle wird die emanzipatorische Intention der Objektbeziehungstheorie deutlich. Die Beziehungen von Personen zu sich selbst und zu anderen sind durch unbewusste Annahmen über Gestalt, Wesen und Intentionen der Objekte, der Anderen, beeinträchtigt. Diese Annahmen können aber aufgedeckt und korrigiert werden. Somit kann ein größeres Maß (inter)subjektiver Freiheit gewonnen werden.

 

 Die Objektbeziehungstheorie unterstellt eine hochgradig wechselseitige Abhängigkeit der inneren und äußeren Objekte voneinander. Ein äußeres Objekt erzeugt immer ein inneres Objekt, ein Abbild vom Anderen, eine bewusste und unbewusste Vorstellung über den Anderen. Ist dieses Abbild des Anderen noch nicht integriert oder ist eine Identifizierung nicht möglich, beispielsweise weil sich der Andere, die primäre Bezugsperson, in nicht adäquater Weise verhält, entsteht ein Introjekt. Ein solches ist per definitionem unverdaut, es „gärt“ im Individuum, erzeugt „Faulgase“, führt zu Spannungen und Psychopathologien verschiedenster Art, auf die ich später noch näher eingehen werde. Die Vorstellungen über die Objekte, die Objektrepräsentanzen, führen zu Annahmen über die eigene Person, zu Selbstrepräsentanzen, wie sie Kernberg bezeichnet. Die Selbstrepräsentanzen sind an die Objektrepräsentanzen angehängt.

 

Laut übereinstimmender Lehrmeinung bilden sich die Objektrepräsentanzen aus den angeborenen Eigenschaften des Säuglings und der Qualität des Kontaktes, den die primäre Bezugsperson mit ihm aufnimmt. Im Verlauf des wissenschaftlichen Diskurses wurde diesen beiden Aspekten ein unterschiedlicher Wert beigemessen: Freud, Klein aber auch Bion betrachten als maßgeblich für die Ausbildung von Objektbeziehung das Triebhafte, Biologische, Angeborene. Der Umwelt, dem „Real-Objekt“ wird lediglich eine modulierende Funktion zugesprochen; das a priori Konstitutionelle wird abgemildert. So teilte Bion mit, „die Ödipuskonstellation [sei] sowohl Inhalt wie auch Form der mentalen Funktionen“ (zit. nach Hinz in Mertens/Waldvogel 2002).

 

 Im Gegensatz hierzu stehen Autoren wie Fairbairn, Winnicott, Balint sowie die Bindungstheoretiker Brisch, Dornes, u.a. Sie stellen das Interaktionistische, die Qualität der Bindung als das für die Genese seelischer Gesundheit Entscheidende in den Mittelpunkt. Winnicott spricht vom „Glanz im Auge der Mutter“, Fairbairn vom Lustprinzip als Mittel zum Erreichen des Endzieles der Beziehung oder Bindung und vom Umweltversagen als maßgebliche Ursache für Deprivation, Balint fordert einen Paradigmenwechsel weg von der „one body psychology“ hin zu einer kommunikations- und interaktionsorientierten Psychologie. Für die Bindungstheorie gar taucht Sexualität nur noch als Sexualisierung auf, der Ödipuskomplex stellt nur noch eine Entgleisung für den Fall nicht ausreichend befriedigter Bindungsbedürfnisse dar. Die klassische Triebtheorie wird von Objektbeziehungstheoretikern wie Fairbairn und den Bindungstheoretikern zurückgewiesen. (Vgl. hierzu übersichtsartig Hinz in Mertens/Waldvogel 2002, S. 502 ff.)

 

 In jüngerer Zeit jedoch wird der Verlust des Sexuellen im psychoanalytischen Diskurs wieder kritisch betrachtet (Gast, L. 1992).

 

 La Planche und Pontalis benennen als das Neue in der Diskussion der Objektbeziehungstheorie nach Freud folgendes: 1. Die Konzeption eines Objektes, welches für seine Befriedigungsform typisch ist, also oral, anal. 2. Die Berücksichtigung der Abwehrmechanismen und dem Grad der Entwicklung und der Struktur des Ichs als Modalitäten der Objektbeziehungen. Der Begriff der Objektbeziehungstheorie wird somit ein typisierender der Persönlichkeitsentwicklung. Mehrere Modalitäten von Objektbeziehungen sind kombinierbar oder können sich abwechseln.

 

 Die Autoren weisen nochmals darauf hin, dass die Ebene der Objektbeziehungstheorie die der Phantasie sei und zwar obwohl sie sich per Definition auf die realen Beziehungen des Subjektes bezieht. Die Phantasien modifizieren das Erfassen des Realen und die Handlungen, die sich daran anknüpfen (vgl. Laplanche 1999).[23]

 

Auch Otto F. Kernberg arbeitete inhaltlich stark orientiert an dem Konzept der Selbst- und Objektrepräsentanzen. Sind die Objektrepräsentanzen zu vernichtend, die Selbstrepräsentanzen zu entwertend, lässt sich in diesem ganzen Bereich kein „guter Ort“ mehr ausfindig machen oder gelingt es in der frühkindlichen Entwicklung nicht, dass „Ziel der Objektkonstanz“ (Kind, 1992) zu erreichen, so führen diese am Individuum zerrenden Fliehkräfte zu Spannungen, die nur noch in selbst schädigender Weise abgebaut werden können. Emotionen lassen sich nur noch sehr schwer regulieren. Das Bild der emotional instabilen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung ist ein sehr anschauliches Beispiel hierfür. Greift eine Therapie[24] nicht in ausreichendem Maße, werden diese Patienten nicht selten suizidal, geraten bei männlichem Geschlecht in Haft oder schädigen sich auf andere Weise.[25]

 

Wie kommt es nun zur Ausbildung dieser Objektbeziehungen? Der neugeborene Säugling hat den Übergang von einer symbiotischen Existenz im Mutterleib, in der er über die Nabelschnur versorgt wurde, hin zu einer von der Mutter getrennten autonomen Existenz, in der er seine Nahrungsaufnahme selbst vornehmen muss, zu bewältigen. Dieser Vorgang verläuft schrittweise (orale Phase, anale Phase, phallisch-narzisstische Phase, Adoleszenz, verlängerte Adoleszenz, reife erwachsene Genitalität14 und ist besonders anfällig für Störungen. Die Nahrungsaufnahme verläuft über den Mund. Der Mund bildet sich zur erogenen Zone aus, die Mutter bzw. die Mutterbrust wird zum Objekt des oralen Triebziels der Versorgung mit Nahrung. Da die Mutter nicht immer und jederzeit zur Stelle sein kann, kommt es zu einem Versagen des Bedürfnisses der Versorgung nach Nahrung. Durch dieses Versagen nimmt der Säugling sich erstmals als getrenntes Subjekt wahr. Anhand dieser Frustration bildet sich das Ich heraus. Der Säugling verspürt ein Bedürfnis, er bekommt es nicht befriedigt, er verspürt Unwohlsein und äußert dieses durch Schreien. Daraufhin wird sein Bedürfnis befriedigt. Eine erste Erfahrung von Selbstwirksamkeit stellt sich ein, auch wenn diese nicht bewusst verarbeitet wird. Entwicklungspsychologen sprechen in diesem Zusammenhang von einer „optimalen, maßvollen und sanften Frustration“. Ist die Frustration nicht optimal, nicht maßvoll sondern möglicherweise traumatisch, weil die pflegende primäre Bezugsperson das Baby vernachlässigt, führt dies zur Ausbildung negativer Objektrepräsentanz im Bereich oraler Modalität. Das von Klein vorgeschlagene Bild der bösen Brust rückt in den Vordergrund, das Bild der guten, weil optimal frustrierend versorgenden Brust tritt in den Hintergrund. Eine spätere übermäßig oral fixierte Persönlichkeit im Bereich der Objektbeziehungsmodalitäten könnte die Folge sein. Im weiteren Verlauf der Kindheitsentwicklung wird die Analregion erogen besetzt und der willkürlichen Steuerung des Kindes zugänglich. Kommt es in diesem Bereich zu Störungen, beispielsweise seitens der Form der Sauberkeitserziehung oder anderer Stressoren, kann eine anal fixierte Persönlichkeit im Bereich der Objektbeziehungsmodalitäten die Folge sein.

 

Ein weiterer sehr wichtiger Bereich ist der der Interaktionalität. Ein Kind, ein neugeborener Säugling benötigt Ansprache, Spiegelung und Containment (Bion, 1962). So ist das sog. Engelslächeln ein angeborenes Verhalten des Neugeborenen. Tritt dieses auf, wird es von den Eltern gespiegelt und in verstärkter, modulierter...

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