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E-Book

Zur Sache des Buches

AutorMichael Hagner
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783835327856
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Das gedruckte Buch galt lange Zeit unangefochten als das wichtigste Organ geisteswissenschaftlicher Forschung. Doch in den letzten Jahren ist ein ganzes Gefüge von Medien, Werten und Praktiken in Bewegung geraten. Mit den Möglichkeiten digitaler Forschung und Kommunikation sowie Forderungen nach einer Standardisierung von Publikationen wirkt das Schreiben und Drucken von Büchern bisweilen fast wie ein Anachronismus mit begrenzter Lebensdauer. Die Kritik am gedruckten Buch offenbart ein Stück Kulturkritik, die ihr Unbehagen an der Gegenwart mit einer übertriebenen Erwartung an die technischen Möglichkeiten des Digitalen verbindet. Anstatt die unterschiedlichen Stärken von Papier und Digitalisat hervorzuheben und zu fragen, wo mögliche Synergien liegen könnten, wird ein rivalisierender Gegensatz zwischen beiden postuliert, der eine Entscheidung verlangt. In seinem neuen Buch verbindet Michael Hagner seine Analyse der digitalen Kulturkritik am Buch mit einer gründlichen Betrachtung von Open Access. Dabei durchleuchtet er auch jenes Phänomen, das für die gegenwärtige Krise des Buches mit verantwortlich ist: das unübersehbare Angebot an wissenschaftlicher Literatur.

Michael Hagner ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Zuvor arbeitete er am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und war Gastprofessor in Salzburg, Tel Aviv und Frankfurt a. M.

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Leseprobe

Kulturkritik und mediale Heilserwartung


Kulturkritik – dieser Begriff ist in der Einleitung mehrfach gefallen. Das Spektrum der Kulturkritik reicht von reaktionärer Spielverderberei bis hin zum pointierten, legitimen Kommentar historischen Geschehens.1 Insbesondere, wenn es um gesellschaftliche, technologische und mediale Umbrüche geht, hat Kulturkritik stets auf der Tagesordnung gestanden. Die einen geben sich als Kulturkritiker und beklagen Trends und Tendenzen ihrer Zeit, andere halten Kulturkritik für ein Schimpfwort, mit dem sie reaktionäre Positionen abwehren. Im digitalen Raum dient der Begriff häufig als Allzweckwaffe, um Einwände gegen digitales Schreiben und Publizieren oder Argumente für das gedruckte Buch zurückzuweisen und denjenigen, die solche Positionen vertreten, destruktive Absichten zu unterstellen. Der Vorwurf, der dahintersteckt, läßt sich einfach auf den Punkt bringen: technophobe Attitüden der Ewiggestrigen, die sich nicht von der alten Zeit, in der alles besser war, lossagen können. Wir haben es hier mit einer Standardsituation der Zukunftseuphorie zu tun. Wer nach vorne schaut und mit dem Wind des technologischen Fortschritts segelt, hat es nicht schwer, den anderen Kulturkritik vorzuwerfen. Die Frage ist aber, ob Kulturkritik als Haltung und ihr vermeintliches Gegenteil so einfach auseinanderdividiert werden können. Gegen diese Trennung wäre einzuwenden, daß die emphatische Rede von der Abdankung des Buches selbst als Ausdruck einer Haltung zu verstehen ist, die im Kern kulturkritische Züge trägt. Das ist die These, die ich im Folgenden vertreten möchte. Dazu noch einige eingrenzende Bemerkungen.

Kulturkritik, wie ich sie hier verstehe, funktioniert nach einem recht simplen Schema. Sie hält sich erstens nicht mit diesem oder jenem Aspekt ihres Gegenstands auf, sondern zielt auf das Große und Ganze. Dabei behandelt sie die Phänomene, auf die sie es abgesehen hat, als Kollektivsingular. Wenn beispielsweise Das Buch oder Das Internet ins Visier gerät, dann ist damit eine ganze soziokulturelle bzw. technische Einrichtung gemeint, für die Buch oder Netz nur als Stellvertreter fungieren. Es ist immer mehr gemeint als nur ein Gegenstand oder eine technologische Errungenschaft. Zweitens: Kulturkritik ist apodiktisch. Sie kennt keine Selbstzweifel, ist sich ihrer Sache gewiß, teilt alle Diskursteilnehmer in ein Freund-Feind-Schema ein und deutet gegenteilige Ansichten und Argumente gerne im Gewimmel eines Verschwörungsszenarios. Dementsprechend lassen Anhänger solcher Szenarien nicht mit sich reden, denn sie meinen immer schon zu wissen, wie diejenigen Ansichten beschaffen sind, die von ihren eigenen abweichen. Zudem wirkt die Annahme einer Verschwörung als Aggressionsgenerator, der es ermöglicht, sich selbst als aufrechten Kämpfer zu stilisieren, der gegen einen vermeintlich übermächtigen Feind antritt. Drittens muß Kulturkritik keineswegs rückwärtsgewandt sein und sich nach einer guten alten Zeit sehnen. Es wäre ein großes Mißverständnis, Kulturkritik nur unter den Ewiggestrigen auszumachen. Die Verachtung für das Bestehende kann sich ebensogut mit einem erwartungsvollen Blick in die Zukunft zusammentun.

Diese drei Kriterien, die keineswegs immer im Gleichschritt zur Geltung kommen müssen, bedeuten im Hinblick auf die Diskussionen um das Buch, daß der Gestus der Kulturkritik Netzkritikern und Buchkritikern gleichermaßen eigen sein kann. Insofern wäre es reizvoll, die entsprechenden Kombattanten einer vergleichenden Analyse zu unterziehen, insbesondere die Art und Weise, wie sie die Rivalität zwischen Buch und Netz etablieren, die doch keine natürliche, sondern eine von verschiedenen, vor allem mit ökonomischen Absichten vorgehenden Akteuren konstruierte ist. Tatsächlich wird von beiden die Rede sein, und doch lege ich den Schwerpunkt auf die Kritik des Buches, weil ein Hauptanliegen dieses Kapitels darin besteht, eine Kontinuität der Buchkritik aufzuzeigen, die ihre Anfänge lange vor der Zeit des Internet hat.

Darüber hinaus scheint mir die gegen das gedruckte Buch gerichtete Kulturkritik ein bislang zwar beachtetes, aber zu wenig analysiertes Phänomen zu sein. Und sosehr das Netz nach den Enthüllungen durch Edward Snowden einer grundlegenden Kritik ausgesetzt ist, so wenig ist davon zu spüren, wenn es um die Erzeugung und Verbreitung wissenschaftlichen Wissens geht. Das ist eine erstaunliche Verdrängungsleistung. Als ob Attribute wie Offenheit, Zirkulation, Transparenz, Vernetzung, Schwarm oder Datenakkumulation, die einst den unwiderstehlichen Charme des Internet ausmachten und inzwischen ihre dunkle Seite hervorkehren, nicht auch für die Wissenschaften zu hinterfragen wären. Zu häufig wird suggeriert, Mißbrauch, Machtakkumulation oder Monopolisierung könnten mit ein paar neuen Regeln beherrscht werden.

Von Datenmanipulation und Plagiaten ist häufig die Rede – zu Recht, denn solche Fälle unterminieren den moralischen Kredit der Wissenschaften. Doch darüber wird vergessen, was entsprechende Machtmonopole mit sauberen Daten und ehrlichen Texten im Netz alles anfangen können. Es ist ein bißchen langweilig, immer wieder Amazon oder Google als Beispiele für zivilisationsgefährdende Entwicklungen im Netz heranziehen zu müssen, aber das liegt daran, daß diese beiden Konzerne zur Zeit eine Monopolstellung haben, an der sich solche Tendenzen exemplarisch festmachen lassen. Mittelfristig werden es vermutlich andere Akteure sein, die sich mit geistes- und naturwissenschaftlichen Daten in nicht-wissenschaftlicher Absicht befassen. Daß Wissenschaftler, Bibliothekare und Wissenschaftsbürokraten zu diesem Themenkomplex in der Regel nur wenig zu sagen haben, nährt die Vermutung, sie hätten auch im digitalen Betrieb den Elfenbeinturm nicht verlassen.

Der Untergang des Buches
nach dem Ersten Weltkrieg


Die Sottise vom stinkenden Geist ist nicht nur häufig, sie ist auch falsch zitiert worden. Rund 50 Jahre nach dem Zarathustra, 1932, führt Theodor Lessing seinen Säulenheiligen Nietzsche an: »Noch ein Jahrhundert Buchdruck und der Geist selber wird stinken.« Das ist ein kleiner, kaum zufälliger Lesefehler, der Nietzsches Satz eine ziemlich andere Wendung gibt. Nicht mehr der Leser wird dem Geist gefährlich, sondern eine ganze Kulturtechnik steht unter Generalverdacht. »Untergang des Buches«, so lautet die Überschrift im Feuilleton des Prager Tagblatts, und damit ist kein Bedrohungsszenario gemeint. Vielmehr wird das ersehnte Ende des Gutenberg-Zeitalters in Aussicht gestellt.

Zunächst konstatiert Lessing einen fundamentalen Wandel der Bedeutung des Buches seit dem 19. Jahrhundert: Während noch bis hin zu Schopenhauer Bücher unter dem Eindruck einer Unsterblichkeitsnorm geschrieben wurden, die darauf baute, daß erst die Nachwelt das eigentliche Anliegen eines Buches verstehen würde, verlagerte sich seitdem die Produktion immer mehr auf das Hier und Jetzt. Bücher dienen pragmatischen Bedürfnissen wie Unterhaltung und Belehrung, Entspannung und Spaß, allesamt Symptome einer westlichen Demokratisierung und Sozialisierung, die das Besondere und Einmalige zurückdrängen, um das Austauschbare und Reproduzierbare aufs Podest zu heben. Kein Wunder, daß Lessing Stefan George und seinen Kreis als Widerstandsnest aufruft, in dem das Esoterische der handschriftlichen Artikulation gegen die Gefahr der inflationären, kompromittierenden Publizität schützen soll. Auch da, wo Bücher die »anspruchsvolle Geistigkeit« erhöhen, erdrücken sie Unmittelbarkeit, Lebendigkeit und das Gefühl für den Augenblick. Dieses Gefühl ist gerade nicht mit einem aktuellen Faszinationserlebnis zu verwechseln, sondern gilt als authentische und schöpferische Beschäftigung der Seele. Entsprechend sind »schöpferische Menschen schlechte Leser«, sie »fürchten das Buch«.2

Hier kommen zwei Punkte zusammen, die im Prinzip unvereinbar sind. Zunächst einmal variiert Lessing Nietzsches Kulturkritik: Das Buch als Medium für Trivialitäten, Unterhaltung und Popularisierung ist an die Stelle von Belehrung, Originalität und Form getreten. Letztlich geht es ihm aber nicht darum, eine Fortsetzung des Kulturverfalls seit dem späten 19. Jahrhundert zu konstatieren. Sein Vorwurf richtet sich vielmehr gegen das Buch als Repräsentanten der neuzeitlichen Kultur schlechthin. Deswegen sollen die seit dem Buchdruck etablierten Methoden, Praktiken und Resultate der Gelehrsamkeit grundsätzlich in Zweifel gezogen werden. Bei Lessing taucht ein neues Element der Kulturkritik auf, das nichts mehr mit der Klage zu tun hat, der Siegeszug des Journalismus und des Massenmediums Zeitung habe das Buch verdorben. Im Gegenteil: Gute Tageszeitungen – Lessing schreibt seit 1922 regelmäßig für das Prager Tagblatt – garantieren eine lebendige und anregende Lektüre. Die Kalamitäten mit dem Buch liegen im Medium selbst begründet, beginnend mit dem Buchdruck, der im großen und ganzen nur Elend über die Menschheit gebracht habe: Buchdruck, das ist neben dem Schießpulver die »teuflischste Erfindung des Menschengeistes. […] Die Waffen der Fäuste wie der Gehirne sind eine schwere Last geworden.«3

Daß Schießpulver und Buchdruck in einem Atemzug genannt werden, ist keine neue Assoziation, sie reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Damals haben einige Humanisten beide Erfindungen mit viel Stolz und mangelnder Sachkenntnis auf das Konto der deutschen Nation verbucht.4 Die Trias von Buchdruck, Schießpulver und Kompaß steht dann am Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft und...

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