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Zur Sache, Deutschland!

Was die zerstrittene Republik wieder eint

AutorJochen Bittner
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783896845528
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Das politische Klima in Deutschland ist vergiftet: Die öffentliche Wahrnehmung ist auf das fixiert, was unser Land spaltet. Und die Lautstärke von Debatten wird mit ihrer Dringlichkeit verwechselt. Es ist höchste Zeit für ein Ende der Dauer-Empörung. Denn die Gräben haben sich vertieft: Immer mehr Bürgerinnen und Bürger begegnen einander misstrauisch und aggressiv. Immer mehr Menschen fühlen sich von der Politik nicht mehr repräsentiert, sondern nur noch regiert. Und die Medien stehen unter dem Verdacht, für mehr Quote Sachlichkeit und Information zu verraten. Der ZEIT-Redakteur Jochen Bittner analysiert sieben Themen, die mit zu viel Emotion und mit zu wenig Sachlichkeit debattiert werden: Migration, Integration, Islam, Leitkultur, Heimat, Feminismus und Journalismus. Dabei deckt er gesellschaftliche Lebenslügen auf und spürt starren Denkschablonen nach, die nur eins bewirken: die Atmosphäre weiter aufzuheizen. Dagegen stellt er Vorschläge für neue Denkrichtungen vor und lädt dazu ein, miteinander um die Sache zu ringen, denn - davon ist Bittner überzeugt: 'Deutschland, du kannst es besser!'

Jochen Bittner ist Politikredakteur der ZEIT und Gastautor der New York Times. Der promovierte Jurist war ab 2001 in der ZEIT-Redaktion mit den Themengebieten Terrorismus, Rechtspolitik und Geheimdienste befasst. Von 2007 bis 2011 arbeitete er als Europa- und NATO-Korrespondent der ZEIT in Brüssel, seither ist Jochen Bittner in der Hamburger Hauptredaktion vor allem zuständig für Kommentare, Europa- und Sicherheitspolitik.

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Leseprobe

Die fünf deutschen Spaltungen

1.Von Globalisten und Nativisten

Wie viel Entgrenzung darf sein?

Eine Zeitlang dachten die Europäer, vor einem tiefen gesellschaftlichen Konflikt wie in den USA geschützt zu sein. Ihr Sozialstaat, so die Annahme, puffere die Erschütterungen der Globalisierung, die in den Vereinigten Staaten ungebremst auf die Arbeiterschaft durchschlugen, einigermaßen ab. Mittlerweile ist wahrscheinlicher, dass die USA den Europäern nur zeitlich voraus waren. Früher als im Rest des Westens haben sich dort zwei soziokulturelle Lager verfestigt, die nicht nur unterschiedliche Werte und Interessen pflegen, sondern die ihre jeweiligen Welten auch voneinander bedroht sehen. Zugespitzt formuliert kann man sie als kosmopolitisch denkende Globalisten und eher national denkende Nativisten bezeichnen. Nativisten glauben, dass ihr Geborensein in einer Nation sie gegenüber Einwanderern bevorrechte (einige von ihnen benutzen die Selbstbezeichnung der »Schon länger hier Lebenden«). Globalisten betrachten das Land als Gesellschaft, die sich stetig verändert. Nativisten sehen es als Gemeinschaft, die es zu bewahren gilt.

Das erste europäische Land, das diese Polarisierung made in USA ereilte, war Großbritannien. Mit Wucht erfasste sie wenig später aber noch einen weiteren EU-Staat, von dem man es vermutlich als Letztes erwartet hatte.

Es war ausgerechnet Schweden, das wohlfahrtsstaatliche Konsens-Modell-Land schlechthin. Bis vor kurzer Zeit galt der Musterstaat nicht nur als sicherer Hort der Sozialdemokratie, sondern auch des Kosmopolitismus, also der Ansicht, nicht nur Bürger eines Landes, sondern Weltbürger zu sein. Dann, scheinbar über Nacht, trat mit den Schwedendemokraten (SD) eine radikale Gegenkraft als ernst zu nehmender Konkurrent auf die Bühne. Die Partei will die Einwanderung stoppen und Schweden, wie Großbritannien, aus der EU führen.

Für Deutschland sind diese Entwicklungen ein Alarmsignal, denn sie führen vor Augen, dass der Sozialstaat offenbar wirklich nur eine verzögernde Wirkung auf die Spaltungskräfte hat. Werfen wir deshalb einen kurzen Blick sowohl nach Norden als auch nach Großbritannien.

Schweden: Es trumpt in Bullerbü

Schweden – was für ein Land ist das heute? Im Sommer 2018 konnte man sich in ein und demselben Schweden, in ein und derselben Kleinstadt, in zwei völlig verschiedenen Welten wiederfinden.

Im Rathaus von Hässleholm sitzen in diesem Sommer zwei eingeborene Schweden, die sich vollkommen fremd sind – eine Sozialdemokratin und ein Schwedendemokrat. Die Anti-Establishment-Partei steht kurz davor, bei den nationalen Parlamentswahlen das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte einzufahren. In den 1980er-Jahren waren die Schwedendemokraten noch eine Vereinigung von Neonazis. Dann begannen sie, Mitglieder, die sich rassistisch äußerten, aus ihren Reihen zu drängen und sich neu zu profilieren: als angeblich einzige Partei, die den Schweden die Wahrheit sagt über die wirtschaftlichen und kulturellen Schäden, die die Massenzuwanderung verursache. Alle anderen Politiker und die allermeisten Journalisten sind nach Ansicht der Schwedendemokraten »Lügner«, die das Land »zerstören« wollten. Dagegen wollen die Schwedendemokraten das Asylrecht für eine gewisse Zeit aussetzen und aus der EU austreten.

In der südschwedischen Kleinstadt Hässleholm haben die Schwedendemokraten gerade die Sozialdemokraten aus der Kommunalregierung vertrieben. Die konservative Partei, die Moderaten, brach im Februar 2017 das Tabu, nicht mit den Schwedendemokraten zu kooperieren. Im Gegenzug zu deren Zustimmung zum Budget der Stadt boten sie ihnen wichtige kommunale Posten an.

Allein im Jahr 2015 wurden in Schweden rund 163 000 Asylanträge gestellt. Auf die Einwohnerzahl von 10 Millionen heruntergebrochen, hat Schweden damit mehr als zweieinhalbmal so viele Flüchtlinge und Migranten aufgenommen wie die Bundesrepublik. Die Schwedendemokraten in Ämter zu heben, das sehen die einen als notwendiges Bremsmanöver, um ihre Stadt, ja ganz Schweden zu bewahren, wie es ist. Die anderen halten es für den Beginn einer Charakterveränderung einer ganzen Gesellschaft.

Lena Wallentheim, die geschasste Ratsvorsitzende der Sozialdemokraten in Hässleholm, sitzt in ihrem Büro und schüttelt den Kopf. Sie erkenne ihre Schweden nicht wieder, sagt sie. Wie könne man nur mit Leuten paktieren, die die Menschenrechte ignorieren und rassistisch denken, fragt sie. Sicher, die vielen Flüchtlinge, die ab 2015 kamen, hätten die Ressourcen der Stadt strapaziert, aber man habe das doch alles gut bewältigt. Wallentheim begreift nicht, wie man die moralische Pflicht zur Hilfeleistung relativieren kann. Was wäre denn, wenn in Europa wieder Krieg ausbreche, fragt sie. Erwarte man dann nicht auch von anderen Ländern, dass sie einen aufnähmen?

Eine Treppe weiter unten, im Erdgeschoss des Rathauses, stöhnt Patrik Jönsson über die Sozialdemokratin. Sie erkenne ihre Schweden nicht wieder? Das sei doch lächerlich, sagt er und macht eine Handbewegung zum Fenster. Draußen auf dem Rathausmarkt sitzt eine Gruppe dunkelhäutiger Männer. Nein, sagt der Schwedendemokrat, die Schweden erkennen ihr Land nicht wieder. Nicht die Bürger hätten sich verändert, sondern die Politiker. Die seien immer weiter nach links gerückt. Dann fängt Jönsson an, die Probleme aufzuzählen, die samt und sonders durch den Zuzug von Migranten und Flüchtlingen verursacht worden seien.

Seine Tochter, Studentin, finde in Stockholm keine Wohnung mehr. Wegen der Migranten. Krebskranke stürben, weil sie nicht rechtzeitig einen OP-Termin bekämen. Wegen der Migranten. Und die Kriminalität nehme drastisch zu. Gerade empfängt er die Nachricht auf dem Handy, dass in mehreren Städten über hundert Autos angezündet wurden. Oh ja, es sei sehr wohl etwas »zerstört« worden in Schweden, sagt Jönsson – der ungeschriebene Vertrag zwischen Bürgern und Staat, der Volksheim-Gedanke, der lautet: »Du hältst dich an die Gesetze und zahlst Steuern, dafür wirst du beschützt«.

Die Wahrheit ist komplexer. Wohnungsknappheit gab es wegen des streng regulierten Immobilienmarktes in Schweden schon vor der großen Einwanderung 2015, und die Krankenhäuser leiden weniger unter Betten- als unter Personalmangel, weil Pflegekräfte vergleichsweise schlecht bezahlt werden. Die meisten Wähler durchschauten die Vereinfachungen der Schwedendemokraten, glauben Politikwissenschaftler. Aber es störe sie nicht. Viele wählten die SD nicht, weil sie die Partei mögen, sondern weil sie sich eine Erschütterung der Eliten wünschen. Der eine Populismus, der des Schönredens, wurde in Schweden ersetzt durch einen anderen Populismus, den des Schlechtredens.

Großbritannien: Das Problem London

Der britische Journalist David Goodhart hat die vielleicht treffendsten Begriffe für das Gegensatzpaar gefunden, in das sich in unterschiedlichem Grade mittlerweile alle westlichen Gesellschaften teilen. Er spricht von Somewheres und Anywheres, von Menschen, die sich dem Ort verbunden fühlen, an dem sie meist ihr ganzes Leben bleiben, und denen, die sich überall zu Hause fühlen können, sei es in London, Brüssel oder New York. Somewheres leben eher abseits der großen Städte oder in Vororten, haben häufiger eine nichtakademische Ausbildung und pflegen ein eher traditionelles Familienbild. Anywheres verfügen häufig über Hochschulabschlüsse, sprechen Fremdsprachen, und es zieht sie in die Städte, wo sie häufiger Kontakt zu ethnischen und religiösen Minderheiten haben. In Großbritannien, so Goodhart, übe die Metropole London eine starke Anziehungskraft auf (künftige) Anywheres aus, nicht zuletzt weil ein Job in der Hauptstadt als Karriereausweis gelte. Wer nicht in der Hauptstadt studiere oder später eine Stelle finde, so die Vermutung, habe es wohl nicht so richtig geschafft.

Diese Sogwirkung ins Zentrum, so Goodhart, führe nicht nur zu einer Entfremdung vieler Akademiker von der Lebenswirklichkeit ihrer Herkunftsorte, sondern oft auch zu einem Herabblicken auf die, die es nicht aus der Provinz herausgeschafft haben. Auch fehle es an Wertschätzung gegenüber Handwerksberufen – die sich in einer politischen Vernachlässigung der nichtakademischen Ausbildungswege niedergeschlagen habe. Als viele britische Handwerker erleben mussten, dass ihre Kunden nach der EU-Erweiterung polnische oder tschechische Klempner oder Tischler vorzogen, verstärkte dies das Gefühl der Herabsetzung. In der mangelnden Achtung des Wertekanons der Somewheres durch die Anywheres sieht Goodhart eine wichtige Erklärung für das Brexit-Votum: Das Referendum im Juni 2016 war eine Gelegenheit, denjenigen, die sich für etwas Besseres hielten, ihren Kosmopolitismus um die Ohren zu hauen.14

Es ist kein Wunder, dass dieser Graben auch zwischen Jung und Alt verläuft, zwischen jenen, die mit dem Internet aufgewachsen sind wie mit fließend Wasser, und jenen, für die ein App-Download eine Herausforderung bleibt. Hätten nur junge Leute abgestimmt, bliebe Großbritannien in der EU. Laut einer YouGov-Umfrage kurz vor dem Referendum sagten 64 Prozent der 18- bis 24-Jährigen, sie seien gegen den Brexit. Unter den 50- bis 64-Jährigen gaben das nur 35 Prozent an. Allerdings gingen viele junge Briten am 23. Juni 2016 nicht zur Abstimmung.

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