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Zwei Hälften des Lebens.

Hegel und Hölderlin. Eine Freundschaft

AutorEberhard Rathgeb
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783641207755
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Hegel und Hölderlin kamen 1770 auf eine Welt, die Schwäbisch sprach. Erst im legendären Tübinger Stift lernten sich die beiden angehenden Theologen kennen und schlossen Freundschaft. Jahre später wurden sie Hauslehrer, der eine hier, der andere dort. Von Anfang 1797 bis zum Sommer 1800 konnten sie sich wieder regelmäßiger sehen und über Philosophie, Dichtung und die Liebe reden. Dann liefen ihre Schicksalsbahnen, radikal und unerbittlich, in konträren Richtungen auseinander: Hölderlin, der sein Leben auf die wundersame Poesie setzte, landete als friedlicher Verrückter, der Verse schrieb, in einem Turm in Tübingen, und Hegel, der dem vernünftigen Weltgeist auf die Schulter klopfte, stieg zum gefeierten Berufsphilosophen auf, mit Sitz in Berlin.



Eberhard Rathgeb lebt als Schriftsteller in Norddeutschland. Er war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berliner Sonntagsausgabe. 2013 erhielt er den aspekte-Literaturpreis für seinen Debütroman »Kein Paar wie wir«. 2016 erschien bei Blessing sein viel gelobtes Sachbuch »Am Anfang war Heimat. Auf den Spuren eines deutschen Gefühls«. 2019 folgte 'Zwei Hälften des Lebens. Hegel & Hölderlin. Eine Freundschaft'.

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Leseprobe

Vorteile der französischen Aufklärung

Im Sommer 1788 fiel die Ernte in Frankreich katastrophal aus, und das Volk dachte, jetzt müsse der König eingreifen, helfen. Der Staat saß auf einem Berg von Schulden und konnte sich kaum mehr bewegen, und der König, Ludwig XVI., der dringend Geld brauchte, wurde nervös und wollte es mit allen Mitteln und unter allen Umständen eintreiben lassen. Er mochte nicht darüber verhandeln und diskutieren und umging und beschnitt deshalb die Rechte jener, die ein Wort bei dieser Aktion mitzureden hatten. Darauf kam es zu Protesten derer, die sich übergangen fühlten; Richter, Beamte und Adlige klagten ihre Rechte ein. Eine Gesellschaft, die etwas komplizierter aufgebaut war als ein Stamm, funktionierte nicht ohne Juristen, ohne die Rechtskundigen. Auch die Revolution in Frankreich konnte sich auf diese soziale Gruppe als Kraft, die geltende Gesetze, traditionsreiche Rechte durchzusetzen verstand, verlassen.

Der Dritte Stand der Bürger ohne adeligen Dünkel und ohne theologische Weihe, begann in dieser heiklen Lage nachzudenken, wie der Staat neu organisiert werden könnte. Es ging ihm nicht um partikulare Interessen, deren Durchsetzung bestimmten Berufen oder Ständen zum Vorteil gereicht hätte, sondern um das Wohl der Nation. Die Ausrichtung der Gedanken und Ideen am großen Ganzen, an einer Einheit, die alle Bürger umfasste, wirkte wie ein Weckruf. Die Nation machte den Eindruck eines neu geborenen Wesens, das kraftvoll war und von dem sich nicht sagen ließ, was aus ihm werden würde, und insofern war sie wie geschaffen, um damit Politik gegen die traditionellen Standesinteressen zu organisieren. Unter seiner Heimat konnte sich jeder etwas vorstellen, sein Dorf, eine Landschaft, ein Gebiet, das von Grenzen umfasst wurde und in dem dieselbe Sprache gesprochen wurde. Die Nation dagegen war eine unbekannte Aufgabe, die erst noch gelöst werden musste, eine Zukunft, die in der Gegenwart beginnen konnte. Der König sah ein, dass er im Streit um die verletzten Rechte einlenken musste, und rief aus der Schweiz den Bankier und ehemaligen Finanzminister Frankreichs, Jacques Necker, zu sich. Der Bankier sollte den maroden Staat retten. Er traf im August 1788 in Paris ein.

Die bürgerliche Partei folgte vor allem zwei Rednern, Sieyès und Mirabeau, beide waren Überläufer, ein Geistlicher und ein Adeliger, die sich Gedanken um das Wohl des Ganzen machten. Die Befürworter dieser nationalen Partei waren mit den Ideen der Aufklärung vertraut, durch Lektüre und Gespräche, sie waren mit diesen Ideen groß geworden. Ein intellektuell offenes Elternhaus, ein Salon, wie ihn Madame de Staël, Jacques Neckers Tochter, von Kindheit an gewohnt war, konnte den Lauf der Geschichte vorantreiben. Die fortschrittlichen Geister waren von der neuen politischen Lage nicht überfordert, im Gegenteil, sie waren für die ersten Stadien der Geschichte, die jetzt begann, und für das, was sie selbst dabei zu tun hatten, gut vorbereitet. Sie verfügten über einen zeitlichen Vorsprung dank der neuen Ideen, die sie aufgesogen hatten. Der mit den Gedanken von Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot, Condillac und Condorcet erfüllte Geist war zu der Zeit, bevor die revolutionären Ereignisse das Ruder übernahmen, der Geschichte um einige Schritte voraus.

»Sowie daher die reine Einsicht für das Bewußtsein ist«, heißt es im Kapitel über den Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben in der Phänomenologie des Geistes, »hat sie sich schon verbreitet; der Kampf gegen sie verrät die geschehene Ansteckung; er ist zu spät, und jedes Mittel verschlimmert nur die Krankheit, denn sie hat das Mark des geistigen Lebens ergriffen, nämlich das Bewußtsein in seinem Begriffe oder sein reines Wesen selbst … An einem schönen Morgen, dessen Mittag nicht blutig ist, wenn die Ansteckung alle Organe des geistigen Lebens durchdrungen hat; nur das Gedächtnis bewahrt dann noch als eine, man weiß nicht wie, vergangene Geschichte die tote Weise der vorigen Gestalt des Geistes auf; und die neue, für die Anbetung erhöhte Schlange der Weisheit hat auf diese Weise nur eine welke Haut schmerzlos abgestreift.« In Frankreich, wo die Aufklärung lernen musste, mit dem Hunger und der Unzufriedenheit des Volkes zu rechnen, wird der Mittag blutig sein. Revolutionen schienen, so gesehen, unnormale Entwicklungsschübe zu sein, durch die der übliche Lauf der Dinge ins Stolpern gerät. Der vorzeitige Sprung in ein anderes Stadium wird sich dadurch an den Akteuren, die ihn forcierten, rächen, dass sie Opfer der Korrekturbemühungen werden, die eine Gesellschaft durchführt, um wieder ins Gleis der Entwicklungslogik zu finden. Auf die Revolution folgte Kaiser Napoleon.

Probleme mit den großen Wörtern

Die Kindheit war vorbei, sobald die Frage auftauchte, was es mit dem Leben auf sich hat. Statt sich in die Arme der Welt zu werfen und vor Ort eine Antwort zu suchen, haben Hegel und Hölderlin sich nicht vom Fleck gerührt und eine Antwort auf die Frage im Kopf zu finden versucht. Warum und wann Hölderlin ein Dichter und Hegel ein Philosoph werden wollte, lässt sich nicht genau sagen, irgendwann, bei dem einen früher, bei dem anderen später, und auf eine Art und Weise, die sich nicht beeinflussen ließ, schoben sich äußere und innere Kräfte wie Kontinente zusammen, eine individuelle Eigenart und soziale und kulturelle Vorgaben, und verstärkten einen schlummernden Impuls, ja brachten ihn zum Ausbruch. Allen erging es so, und nicht einmal jene, die die Möglichkeit hatten, umzukehren oder die Richtung zu wechseln, konnten sich von diesen Vorgaben befreien. Auch die Korrektur eines Lebenslaufs unterlag persönlichen Beschränkungen, die aus der Freiheit, die den Menschen von Philosophen zugeschrieben wurde, einen Fundus machte, aus dem nicht alles, was sich einer für sich wünschte, geschöpft werden konnte.

Wer in der Pubertät steckt, der weiß, dass über Sex nachzudenken und Sex mit jemandem zu machen zweierlei Dinge sind, die zu unterschiedlichen Resultaten führen, zu Phantasien, Poesie und Erregung im einen Fall, zu Erfahrung, Wissen und Befriedigung im anderen. Nur bei dem, der Sex mit jemandem macht, finden Geist und Körper zusammen, deren traditionelles Doppelleben eine Voraussetzung dafür ist zu glauben, es sei sinnvoll, dem Nachdenken über die großen Dinge, Glück, Freiheit, Liebe, Selbst, viel Platz im Leben einzuräumen, statt zu lernen, wie es möglich ist, das Begehren und Sehnen zu erfüllen. Es ist besser zu tun, was möglich und sinnvoll ist, statt nur darüber nachzudenken, schon deswegen, weil sich die Probleme des Lebens im Leben stellen und nicht im Denken, das sich mit den Problemen des Denkens befasst. Wären Hegel und Hölderlin nach Paris gegangen, um sich dort auf die Seite der Revolution zu stellen, bei allen Schwierigkeiten, die sich gezeigt hätten, die richtige Seite zu finden, sie wären nicht auf den Gedanken gekommen, sich ausführlich mit Liebe und Einheit als philosophischen Ideen zu beschäftigen, nicht weil sie keine Zeit dafür gehabt hätten, sondern weil sie mit Problemen konfrontiert gewesen wären, die nur mit anderen Wörtern hätten beschrieben werden können und Lösungen forderten, die sich nicht aus Konzepten wie All-Einheit und Vereinigung ergeben hätten. Das Werk, das sie schufen, konnte nur aus einer Distanz zum Leben, wie sie es führten, und die sich durch Gewohnheit oder Ignoranz einstellte, entstehen. Das Denken ist in den Lebensvollzug auf geheime oder offensichtliche Weise eingewoben, und auch die poetische Würde und logische Kühle, die die Werke von Dichtern und Philosophen tragen und prägen, sind weder von dem historischen Ort, an dem sie entstanden, noch von der existentiellen Dynamik ihrer Schöpfer loszulösen. Etwas bleibt immer hängen.

Die Nähe, die zu Wörtern gespürt werden mag wie Leben, Liebe, Geist, Vernunft, Seele, Freiheit, Unendlichkeit und Gott, resultiert daraus, dass jene, die davon noch berührt werden, daran gewöhnt sind, sie in bestimmten Zusammenhängen zu hören und sie zu gebrauchen. Sie verwenden sie, bevor sie sich Gedanken darüber machen, was diese Wörter genau bedeuten, sie füllen sie mit vagen Vorstellungen und gehen davon aus, dass andere, die sie ebenfalls benutzen, ähnliche Vorstellungen damit verbinden. Mit anderen Wörtern wie Trieb, Wille, Staat, Gesellschaft, Wissenschaft, wird genauso nachlässig und zuversichtlich umgegangen, sie werden gebraucht, bevor jene, die sie verwenden, sich Rechenschaft darüber verschafft haben, was sie genau damit bezeichnen möchten. Es ist ungefähr so, als würden wir mit einer Handvoll Pfeilen auf ein Ziel schießen, in der Hoffnung, dass ein Pfeil das Ziel treffen wird. Manchmal beschweren wir uns, dass wir nicht verstehen, was mit einem Satz, in dem diese gewichtigen Wörter verwendet werden, gemeint ist, er sei zu abstrakt, sagen wir, und wir möchten dann lieber konkrete, einzelne Fälle hören, um auf diese Weise wieder unsere Vorstellungskraft anzukurbeln, die von den großen Wörtern, sobald sie geballt auftreten, an die Seite gedrängt wird und ihren Geist aufgibt. Die Skepsis gegenüber dem vollmundigen Denken resultiert aus diesen Erfahrungen mit der Unbestimmtheit des Lebens, die sich nicht mit Wörtern überwinden lässt.

Leser von Romanen gewinnen in dieser Hinsicht ähnliche Eindrücke wie im Leben, sie müssen keine Angst davor haben, dass sich ihnen diese unbescheidenen großen Wörter in den Weg stellen und sie dann hindern, einer Geschichte zu folgen. Die Dunkelheit der Begriffe wird durch Handlungen ersetzt, verdrängt oder erläutert. Bei der Philosophie ist das anders, sie bemüht sich aus innerem Drang, die großen Wörter zu erklären, die wie Drachen am Himmel flattern, gehalten...

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