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E-Book

Zwischen zwei Leben

Von Liebe, Tod und Zuversicht

AutorDominik Wichmann, Guido Westerwelle
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783455851595
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
'Diejenigen, die mein Schicksal teilen, will ich ermutigen, niemals, wirklich niemals aufzugeben. Und jene Leser, die glücklicherweise keine größeren Schicksalsschläge erleiden mussten, mag meine Geschichte daran erinnern, auf welch schmalem Grat wir unser Leben führen. Jeder Gedanke an das Ende kann auch der Aufbruch zu etwas Neuem sein.' (Guido Westerwelle) Von einem Tag auf den anderen ändert sich für den ehemaligen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland das ganze Leben. Wenige Monate nach dem Ende seiner Amtszeit erfährt Guido Westerwelle im Frühsommer 2014, dass er lebensgefährlich an akuter myeloischer Leukämie erkrankt ist. - Noch nie hat ein deutscher Politiker so offen und ehrlich über seine schwärzesten Stunden, aber auch über die großen Themen seines Lebens geschrieben. Von der Kindheit im Rheinland, von der Faszination der Politik, von seiner großen Liebe und der harten Prüfung, der sie durch seine Leukämie-Erkrankung ausgesetzt war.

Guido Westerwelle, Jahrgang 1961, war einer der bekanntesten Politiker Deutschlands und von 2009 bis 2013 Bundesaußenminister. Nach seiner Amtszeit gründete er die »Westerwelle Foundation«. Die Stiftung fördert mittelständische Strukturen in Umbruchgesellschaften und will damit weltweit praktische Unterstützung im Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft leisten. Guido Westerwelle verstarb am 18. März 2016 in Köln an den Folgen seiner Leukämieerkrankung.

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Leseprobe

1 In der Mitte Europas


Kiew, am 5. Dezember 2013

Wir waren schon seit einigen Stunden im Himmel über Europa, als unsere Maschine mit einem sanften Schwenk nach rechts unten den Landeanflug auf den Flughafen von Kiew begann. Ich rieb mir die Müdigkeit aus den Augen, griff nach meiner Brille, die auf einem kleinen Tischchen neben mir lag, und blickte aus dem Fenster.

Wolkenfetzen flogen an meinem Gesicht vorbei. Ich sah die ersten Ausläufer der Stadt und die umliegenden Felder. Wir überquerten den Dnepr und seine vielen kleinen Seitenarme. Der verschlungene Lauf dieses Flusses erinnerte mich an das Geäst eines Laubbaums im Winter. Ich betrachtete eine Weile die gefrorene Landschaft unter mir, stellte dann die Rückenlehne meines Sitzes gerade und steckte ein paar Unterlagen zurück in meine Aktentasche. Ich hatte die Papiere während des Fluges von Brüssel nach Kiew gelesen, um mich auf die Gespräche vorzubereiten, die mich gleich nach unserer Landung hier erwarten würden.

Auch in Deutschland war es inzwischen kalt geworden, eiskalt sogar. Ungefähr vor einer Woche hatte es zum ersten Mal geschneit, und in einigen Regionen des Landes war der Schnee auch tatsächlich liegen geblieben. Die Zeitungen überboten sich deshalb mit Prognosen, ob es auch in diesem Jahr endlich einmal wieder weiße Weihnachten gebe. Doch bis dahin waren es noch fast drei Wochen, und wahrscheinlich würde es so wie meistens ausgehen: Kurz vor dem Fest lässt irgendeine unvorhergesehene Front warmer Luftmassen die Schneedecke schmelzen und widerlegt alle optimistischen Vorhersagen der Experten.

»Lass uns an Weihnachten nach Mallorca fahren«, hatte Michael deshalb schon im Herbst vorgeschlagen.

»Hast eigentlich recht«, antwortete ich ihm. »Selbst wenn’s regnen sollte, wird es dort mit Sicherheit nicht so frostig wie zu Hause sein.«

»Außerdem haben wir unsere Ruhe nach all dem Trubel, den dieses Jahr so mit sich gebracht hat«, sagte er und tippte mit seinem Zeigefinger auf meinen Brustkorb. Wir blickten uns lange in die Augen. Nach einer Weile mussten wir lachen. Wahrscheinlich, weil wir in jenem Moment beide an die vielen Höhen und Tiefen dieses merkwürdigen Jahres zurückdachten und froh waren, dass all das nun bald vorbei sein würde und unserem Eheleben eine neue, eine endlich intensivere Zeit zu zweit bevorstand.

Später am Abend, wir lagen schon im Bett, da drehte ich mich noch einmal zu Michael hinüber und flüsterte in seine Richtung: »Du, ich kann dir gar nicht beschreiben, wie sehr ich mich auf Mallorca freue. Das wird ein Fest! – Hey, Michael, schläfst du schon?«

»Si, Señor«, antwortete er. Und lachte dabei.

 

Die Wochen und Monate vor der Bundestagswahl am 22. September 2013 waren nicht weniger anstrengend und schwierig gewesen als die Zeit danach. Abgesehen von den außerhalb Europas glühenden Krisenherden bereitete mir vor allem die zunehmende Eskalation im Osten unseres Kontinents große Sorgen. Das absichtlich entfachte Feuer der Gewalt fraß sich immer tiefer in die Ukraine und die Gemüter seiner Bürger. Die Stabilität einer ganzen Region stand plötzlich infrage, und im Auswärtigen Amt fühlten sich insbesondere ältere Diplomaten an die Logik des Säbelrasselns und die Diktion des Kalten Krieges erinnert.

Unsere Freunde und Verbündeten in Polen, Tschechien und natürlich dem Baltikum verfolgten die Provokationen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seiner Regierung mit großer Besorgnis. Während eines Abendessens mit einem europäischen Ministerkollegen notierte ich einen Satz, mit dem er den tschechischen Dichter und Politiker Václav Havel zitiert hatte: »Ein Blick auf die Landkarte und in die Geschichtsbücher zeigt, dass es schwierig sein wird, sich auf Dauer Frieden, Sicherheit und Ordnung in Europa vorzustellen, wenn nicht in der Mitte Europas Friede und Ordnung gesichert sind.«

Doch wo genau ist die Mitte Europas? Und wofür steht dieses Europa? Ich machte mir viele Gedanken darüber, denn wenn es stimmt, dass Europa überall dort ist, wo Freiheit, Menschenrechte und Pluralismus eine Selbstverständlichkeit sind, dann befand sich die Ukraine spätestens seit dem 21. November 2013 an einem Scheideweg.

An diesem Tag hatte Wiktor Janukowytsch überraschend angekündigt, das lange verhandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nun doch nicht unterzeichnen zu wollen. Für uns europäische Verhandlungspartner, vor allem aber für die vielen hoffnungsvollen und pro-europäisch gesinnten Menschen in der Ukraine war die Entscheidung ihres Staatspräsidenten ein Schlag ins Gesicht.

»Wir landen in etwa zehn Minuten«, informierte mich ein Herr vom Kabinenpersonal. Ich schrieb mir noch rasch einige Fragen für die anstehenden Gespräche auf und kramte dann in meiner Aktentasche nach einem Buch, das ich mir im Herbst gekauft hatte und in dem ich, so oft es eben ging, ein paar Seiten las: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts von dem Autor Florian Illies. Eine wunderbare Lektüre! Klug und heiter, immer unterhaltsam, nie banal. Ein Buch über ein Jahr, in dem so vieles möglich schien und doch der süßlich-morbide Geruch des nahenden Verfalls bereits allgegenwärtig war. Immer wieder staunte ich, wie viel von diesem merkwürdigen, gewaltsamen und in so vieler Hinsicht extremen 20. Jahrhundert in diesem einen Jahr 1913 bereits angelegt zu sein schien.

Ich blätterte bis zu dem kleinen Eselsohr, das ich zuvor auf meinem Hotelzimmer in Brüssel in die Seite 42 geknickt hatte. Ich las über die Stadt Wien und den Beginn dessen, was der Schriftsteller Franz Kafka einmal als das »nervöse Zeitalter« bezeichnet hatte. Wien galt damals als Frontstadt der Moderne: »Wien strotzte vor Kraft, war eine Weltstadt geworden, was man in der ganzen Welt sah und spürte, nur in Wien selbst nicht. Dort hatte man vor lauter Lust an der eigenen Selbstvernichtung übersehen, dass man unversehens an die Spitze der Bewegung gerückt war, die sich Moderne nannte.« Und einige Seiten später: »Am 16. Februar 1913 besteigt Josef Stalin am Wiener Nordbahnhof den Zug und reist zurück nach Russland.«

Wir waren auf dem Flughafen Kiew-Boryspil, etwa dreißig Kilometer östlich des Stadtzentrums, gelandet, und durch das Fenster unserer Maschine sah ich das schmucklose Gebäude am Rande des Rollfelds, das ich in diesem Jahr schon einige Male passiert hatte. Immer wieder war ich mit meiner Delegation nach Kiew gereist, um dort im Präsidentenpalast mit Wiktor Janukowytsch über die Zukunft seines Landes zu verhandeln. Wir wollten ihm, seiner Regierung, insbesondere aber der ukrainischen Bevölkerung eine Brücke in Richtung Europa bauen. Denn natürlich wussten wir, wie hin- und hergerissen das Land noch immer war: zwischen Ost und West, zwischen der Russischen Föderation einerseits und der Europäischen Union andererseits. Genau diese Gegensätzlichkeit aber, dieses Denken in Schwarz und Weiß, wollten wir auflösen. Auch deshalb habe ich in meinen Reden immer wieder betont, dass wir die Ukraine nicht vor die Wahl zwischen Europa und Russland stellen wollen. Wir wollten Brücken bauen.

Das jedoch entpuppte sich als leichter gesagt als getan: Bei meinen Treffen mit Wiktor Janukowytsch erlebte ich ihn als hart und unnachgiebig. Als ich ihm das erste Mal begegnete, da unternahm er nicht einmal den Versuch, eine Art Dialog aufrechtzuerhalten: Er trug seine Positionen vor, anschließend hörte er sich an, was ich zu sagen hatte – und das war es dann auch. Er wirkte auf mich bisweilen wie eine Karikatur jener Machthaber, an die wir uns wahrscheinlich noch alle aus der längst vergangenen Zeit der osteuropäischen Sowjetrepubliken erinnern.

Als ich ihn jedoch einige Monate später wieder in Kiew besuchte, schien er etwas Vertrauen in mich gefunden zu haben. Weder hatte ich ihn bei meinem letzten Besuch während der abschließenden Pressekonferenz angegriffen noch in Interviews schlecht über ihn geredet. Unsere Gespräche gestalteten sich jetzt offener, und er schien den Ideen Europas deutlich weniger abgeneigt zu sein als noch zu Beginn des Jahres. Ja, es würde schwierig werden: Russland setzte die Ukraine mit Handelssanktionen zunehmend unter Druck, und die gut geölte Moskauer Propagandamaschine arbeitete auf Hochtouren, um in der ukrainischen Bevölkerung diffuse Ängste vor Europa zu schüren. Aber ich erwartete, dass Janukowytsch am Ende das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen und über jene Brücke, die wir ihm gebaut hatten, gehen würde. Weil ich an seine Vernunft glaubte.

Er hatte mich getäuscht. Er hatte die Europäische Union getäuscht. Er hatte den Großteil seiner Bevölkerung getäuscht. Und nicht nur das: Als die Bürger seines Landes ihrer Wut und ihrer Enttäuschung über das gescheiterte Abkommen Luft machten und zu Tausenden auf die Straßen gingen, um friedlich für eine engere Bindung der Ukraine an die Europäische Union zu demonstrieren, da zündete Wiktor Janukowytsch die Lunte eines Pulverfasses: In der Nacht zum 30. November 2013 ließ er die Schergen der Berkut, einer Spezialeinheit der ukrainischen Polizei, unzählige Bürger mit einer nicht für möglich gehaltenen Brutalität zusammenschlagen und in die Gefängnisse der Stadt verschleppen.

Der Protest der vielen entwickelte sich jetzt zum Widerstand der Massen: Im Jahr 22 seit der wiedererlangten Unabhängigkeit der Ukraine skandierten immer mehr Menschen: Nein zu Korruption und...

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