Wurde Regierungsdirektor “O” mit dem Flugblatt des Angeklagten beleidigt?

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Amtsgericht Oldenburg
– Strafsachen –
46 Ds 600 Js 17518/08 (73/08)

Im Namen des Volkes
Urteil
In der Strafsache
gegen
den Angeklagten …

Verteidiger:
Rechtsanwalt Martin S., Bremen
wegen Beleidigung
hat das Amtsgericht Oldenburg – Strafrichter – in der Sitzung vom 18.12.2008, an der teilgenommen haben:

Richter Holger Janssen
als Strafrichter

Oberstaatsanwalt S.
als Beamter der Staatsanwaltschaft

Rechtsanwalt Martin S.
als Verteidiger

Justizhauptsekretär E.
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

für Recht erkannt:

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse, ebenso die notwendigen Auslagen des Angeklagten.

Angewendete Vorschriften:

§ 247 StPO.

Gründe:

I.
Der Angeklagte ist 1983 in Oldenburg geboren. Er ist deutsche Staatsangehöriger und zurzeit in Bremen wohnhaft. Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Er studiert zurzeit u. a. Philosophie und Soziologie.

II.
Dem Angeklagten wird in der Anklageschrift vom 06.06.2008 vorgeworfen, am 30.01.2008 den Regierungsdirektor O., dem Leiter der Aufnahme- und Ausländerbehörde (= AAB) beleidigt zu haben. Hintergrund der staatsanwaltschaftlichen Vorwürfe ist eine Vorführung des Dokumentarfilms „I Broke My Future – Paradies Europa“ durch die Projektgruppe „über-morgen“. Am 30.01.2008 fand nämlich in den Räumen eines Kinos eine Dokumentarfilmvorführung statt. Hierzu wurde neben einer Vertreterin von amnesty international auch Herr Z. als Vertreter der AAB eingeladen. Zudem erschien dort auch der Regierungsdirektor O. in seiner Eigenschaft als Leiter der AAB.

Zumindest vor Beginn der Veranstaltung verteilte der Angeklagte in der Öffentlichkeit entgegen
§ 22 des Niedersächsischen Pressegesetzes kein Impressum beinhaltende Flugblätter an dritte Personen. Die Überschrift des von ihm erstellten Flugblattes, auf dem oben links zwei Kneifzangen abgebildet sind, lautet fettgedruckt:
Diskussion über Flüchtlingspolitik
ohne Flüchtlinge?
Lagerleiter O. ausladen
Dann folgt ein aus drei Absätzen bestehender Text:
Lagerleiter O.: So sieht also jemand aus, der wesentlich mitverantwortlich ist für die Aufrechterhaltung sowie die Verschärfung der Repression gegen AsylbewerberInnen. Das Lager XY dient der Abschreckung, der Zermürbung und der Ausgrenzung der Flüchtlinge. O. treibt die Programme voran, die die schikanösen Maßnahmen noch verfeinern sollen. Taschengeldentzug und Botschaftsvorführungen sollen die Flüchtlinge weiter unter Druck setzen, entweder „freiwillig auszureisen“, in die Illegalität zu fliehen oder ihre Identität preiszugeben, um sie abzuschieben. Die Isolation im Lager, die Perspektivlosigkeit und die ständige Angst vor der Abschiebung mutet einem Kampf gegen die Flüchtlinge an.
O. ist indes ein offensiver Vertreter dieser Politik. Wenn die Flüchtlinge versuchen ihr Recht auf Selbstbestimmung und politische Meinungsäußerung wahrzunehmen, wie zum Beispiel beim Streik 2006, antwortet der Lagerleiter mit öffentlichen Diffamierungen des Protestes, tagelangen Besuchsverboten und direkten Repressionen.
Die Projektgruppe „über-morgen“ veranstaltet dieser Tage eine Filmreihe. Zum Film „I Broke My Future – Paradies Europa“ sind zwei DiskussionsteilnehmerInnen eingeladen. Ein Vertreter der Lagerautoritäten und W. von amnesty international. Außerdem hat sich der Lagerleiter O. angekündigt. Wieso die Veranstalter keine Flüchtlinge einladen, stattdessen aber ihre Veranstaltung scheinbar zu einem Podium für die rassistischen Autoritäten machen wollen, ist mehr als fragwürdig.
Links neben dem vorgenannten Absatz befindet sich ein Porträt des Herrn O. in der Größe eines Passfotos.
Abschließend steht auf dem Flugblatt fettgedruckt:
Kein Kino für Lagerleiter!
Abschiebelager XY
abschaffen!

Der Angeklagte hat sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft dahingehend eingelassen, dass er tatsächlich diese – von ihm erstellten – Flugblätter im Rahmen der oben beschriebenen Veranstaltung verteilt habe. Diese Einlassung wird auch durch die verlesenen Aussagen der Zeugen O. und Z. bestätigt, die urkundlich eingeführt wurden.

III.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft an den Angeklagten, er habe sich der Beleidigung gemäß
§ 185 Strafgesetzbuch strafbar gemacht, indem er dieses Flugblatt verteilt hat und sich damit dessen Inhalt zu eigen gemacht hat, trifft nicht zu. Das Verteilen des Flugblattes erfüllt nach Einschätzung des Gerichts nicht den Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 des Strafgesetzbuches.

Der Angeklagte war daher aus rechtlichen Gründen freizusprechen.

Der Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 des Strafgesetzbuches setzt einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre eines Anderen durch vorsätzliche Kundgabe der Missachtung voraus, vergleiche BGH St 1, 289, 290. Insbesondere unterfallen § 185 StGB Werturteile gegenüber dem Betroffenen und Werturteile über den Betroffenen gegenüber Dritten. Ehrverletzende Tatsachenbehauptungen unterfallen § 185 Strafgesetzbuch nur, soweit sie gegenüber dem Betroffenen selbst geäußert werden.

Inhalt der Äußerung muss eine Missachtung oder Nichtachtung sein. Diese können den ethischen Wert eines anderen betreffen, den er nach außen in Folge seines sittlichen Verhaltens hat, oder den sozialen Wert, den jemand wegen seiner Leistungen und Eigenschaften für die Erfüllung seiner sozialen Sonderaufgaben hat, so Kraft seines Amtes oder Berufs.

Nach der Rechtsprechung hängt die Frage, ob eine Äußerung als Tatsachenbehauptung einzustufen ist, davon ab, ob die Aussage einer Überprüfung auf ihre Richtigkeit mit Mitteln des Beweises zugänglich ist, vergleiche BGH NJW 1996, Seite 1131, 1133; BGH NJW 1998, Seite 3047, 3048.

Dagegen beinhaltet die Meinungsäußerung durch die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens. Es kann sich deshalb nicht als wahr oder unwahr erweisen, Bundesverfassungsgericht NJW 1994 Seite 1779, 1779; 2001 Seite 2957, 2958. In Abgrenzung der Meinungsäußerung zur Tatsachenbehauptung kommt es also darauf an, ob die Äußerung einer Überprüfung auf ihre Richtigkeit mit dem Mittel des Beweises zugänglich ist, BVerfGE 94, Seite 1 und 8; BGH Z 139, Seite 95, 102. Meinungsäußerungen lassen sich daher im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen nicht als wahr oder unwahr beweisen. Wirken Tatsachenbehauptung und Wertung dagegen untrennbar zusammen, wird die Äußerung grundsätzlich in ihrer Gesamtheit von der Schutzwirkung des Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz erfasst, dies gilt insbesondere in den Fallkonstellationen, in dem die Äußerungen in entscheidender Weise durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt wird, BGH Z 132, Seite 13, Seite 21 ff. Es ist jedoch zu beachten, dass allein schon das Aufstellen einer Tatsachenbehauptung als solche die Frage beinhalten kann, ob die Behauptung schon allein eine Wertung erhält. Dies muss daher auch in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz fallen.

1.
Unter Berücksichtigung des Inhalts des obigen Flugblattes ist festzustellen, dass sich aufgrund der dortigen Ausführungen des Angeklagten sowohl Tatsachenbehauptungen in dem Flugblatt finden, als auch zahlreiche Wertungen. Insbesondere die im 1. Absatz in dem Flugblatt angegriffenen angeblichen Missstände in der AAB dürften als Tatsachenbehauptung einzustufen sein. Demgegenüber sind die zahlreichen Wertungen des Angeklagten, insbesondere gegenüber Herrn O. und die Äußerung als „rassistische Autorität“ als Wertung einzustufen. Unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts des Flugblattes ist daher festzuhalten, dass Tatsachenbehauptungen und Wertungen in dem Flugblatt so untrennbar zusammenhängen, dass der gesamte Inhalt des verteilten Flugblattes von der Schutzwirkung des Artikel 5 des Grundgesetzes umfasst ist. Es lassen sich nicht die Tatsachenbehauptungen von den Wertungen des Angeklagten trennen, ohne das der Aussagegehalt verloren ginge.

Zur sicheren Überzeugung des Gerichts liegt auch keine bewusst unwahre Tatsachenbehauptung des Angeklagten vor, die dazu führen würde, dass der Schutzbereich nicht eröffnet wäre. In seinen zahlreichen kritischen Anmerkungen in dem Flugblatt ist eine deutlich wertende Stellungnahme seinerseits vorhanden, die nicht bewusst unwahr ist und stattdessen das Element des Dafürhaltens beinhaltet. Damit ist der Schutzbereich der Meinungsfreiheit für den Angeklagten sowohl in persönlicher als auch in sachlicher Hinsicht eröffnet.

2.
Demgegenüber ist ebenso festzustellen, dass die von dem Angeklagten in dem Flugblatt geäußerten Vorwürfe sowie insbesondere die Bezeichnung des Regierungsdirektors O. als „Lagerleiter O.“ und die Titulierung des Herrn O. als „rassistische Autorität“ unter Berücksichtigung der zahlreichen Vorwürfe wegen der Missstände in der AAB Herrn Regierungsdirektor O. in seinem Persönlichkeitsrecht und Ehrschutz aus Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 1 des Grundgesetzes beeinträchtigen.

Es liegt damit mit dem Flugblatt ein objektiver Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Regierungsdirektors O. vor.

Kollidiert, wie im vorliegenden Fall, der Ehrenschutz mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit, bedarf es im Einzelfall jeweils einer Güter- und Interessenabwägung, welches Recht des einzelnen Rechtsträgers überwiegt, Bundesverfassungsgericht NJW 1999, Seite 1322, 1323; NJW 2001, Seite 2957, 2959. Insofern hat vorliegend eine Abwägung der jeweils betroffenen Rechtsgüter stattzufinden, nach der die in Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetz manifestierte Meinungsfreiheit des Angeklagten mit der im 2. Absatz des Artikel 5 des Grundgesetzes geregelten Schrankenregelung des § 185 Strafgesetzbuch, der die Persönlichkeit und Ehre des Herrn O. schützt, abgewogen werden muss.

Insofern ist auch das beschränkende, allgemeine Gesetz des § 185 Strafgesetzbuch, das wiederum die Grundrechte und sonstigen Rechte mit Verfassungsrang schützt, im Sinne der überragenden Bedeutung des Grundrechts des Artikel 5 Grundgesetz auszulegen im Rahmen einer sogenannten „Schranken-Schranken-Prüfung“.

Bei der vorzunehmenden Abwägung der Meinungsfreiheit des Angeklagten gemäß Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Herrn Regierungsdirektors O. gemäß Artikel 2 Absatz 1 i. V. m. Artikel 1 des Grundgesetzes, welche die Menschenwürde konkretisiert, überwiegt bei einer Gesamtbetrachtung aller Gesichtspunkte die Meinungsfreiheit des Angeklagten.

Im geistigen Meinungskampf spricht bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede, Bundesverfassungsgericht NJW 1995, Seite 3303, 3305; NJW 1999, Seite 2358, 2359. Dies gilt auch für Äußerungen, die aus scharfer und abwertender Kritik bestehen und selbst für solche, die mit übersteigerter Polemik vorgetragen werden, Bundesverfassungsgericht NJW 1995, Seite 3303, 3305; NJW 1999, Seite 2358, 2359.

Der Persönlichkeitsschutz geht regelmäßig der Meinungsfreiheit erst dann vor, wenn sich die Äußerungen als Angriff auf die Menschenwürde als Schmähkritik oder Formalbeleidigung darstellt, Bundesverfassungsgericht NJW 1995, Seite 3303, 3304; NJW 1999, Seite 2358 und 2359.

Zu beachten ist aber, dass es sich nur dann um eine solche Schmähkritik handelt, wenn bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Herabsetzung des Gegners im Vordergrund steht. Der Begriff der Schmähkritik muss eng ausgelegt werden, weil die Meinungsfreiheit konstituierend für die freiheitlich demokratische Grundordnung ist, vergleiche insbesondere OLG Köln, Urteil vom 17.12.2002, Aktenzeichen: 15 U 95/02 mit weiteren Nachweisen – Juris -. Die Diffamierung der Person muss im Vordergrund stehen, die jenseits polemischer und überspitzter Kritik persönlich herabgesetzt und gleichsam an den Pranger gestellt werden soll, BGH Z 143, Seite 199 und 209 mit weiteren Nachweisen.

Von Bedeutung ist hierbei insbesondere, ob der Äußerung Sachnähe zu einem ihr zugrundeliegenden Tatbestand zukommt, OLG Köln, am angegebenen Ort.

Von Verfassungs wegen macht selbst eine überzogene, unmäßige oder ausfällige Kritik eine Äußerung für sich noch nicht zur unzulässigen Schmähung, Landgericht Bonn, 20.04.2005, Aktenzeichen: 10 O 539/04.

Unter Anwendung dieser Grundsätze vermag das Gericht in der Ausgestaltung des streitgegenständlichen Flugblattes und den dortigen Formulierungen und unter Berücksichtigung des dort abgedruckten Fotos des angegriffenen Herrn O. keine Schmähkritik zu erkennen, weil der Gesamtkontext des Flugblattes und dessen Hintergrund zu berücksichtigen ist.

Zum einen ist festzuhalten, dass die Umstände in der Einrichtung der AAB in XY in großen Teilen der Bevölkerung sehr umstritten sind. Es handelt sich hierbei um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage, wie sich bereits aus den Vorgängen im Herbst 2006 ergibt. Hier war es zu einem massiven Protest der Bewohner der Einrichtung XY gegen die Landespolitik und den Lebensbedingungen in der Einrichtung in XY gekommen. Es gab sogenannte „No-Lager-Aktionstage“ in XY. Es gab einen unbefristeten Boykott des Kantinenessens und es gab zahlreiche weitere Proteste. Insbesondere die Demonstration gegen Umstände in der AAB in Hannover vor dem Innenministerium des Landes Niedersachsen hat die Öffentlichkeit sehr berührt.

Damit ist festzuhalten, dass mit dem Flugblatt, in dem diese zahlreichen angeblichen Missstände der Einrichtung des AAB durch den Angeklagten angegriffen werden, es sich um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage handelt. Dies wurde insbesondere auch durch die hohe Besucherzahl der mündlichen Verhandlung vom heutigen Tage deutlich. Es besteht ein reges öffentliches Interesse hinsichtlich der hier angeklagten Vorfälle und der Situation und Lebensbedingungen in der Einrichtung der AAB.

Diesen Hintergrund berücksichtigend ist weiter festzuhalten, dass am Tattage eine Projektgruppe einen Film zeigte, der im Rahmen des bundesweiten Filmfestivals in zahlreichen deutschen Städten gezeigt wurde. Hindergrund des Filmes ist die tagtägliche Berichterstattung über die Fluchtgeschichten von Afrikaner, die versuchen Europa zu erreichen. Der Film gibt einen Einblick in das Leben von afrikanischen Flüchtlingen, die es nach Europa geschafft haben. In dem Film werden kritisch persönliche Schicksale mit politischen Rahmenbedingungen verknüpft und es wird versucht Verständnis für die Position der Asylbewerber zu gewinnen.
Nach Vorführung dieses Dokumentarfilms erfolgte eine Diskussionsveranstaltung, an den eine Vertreterin von amnesty international und eines Vertreters der AAB, nämlich Herr Z. teilgenommen haben. Herr Regierungsdirektor O. war ebenfalls anwesend bei dieser Veranstaltung. In dem Flugblatt wird nun kritisiert, und dieser Angriff dürfte sich im wesentlichen gegen die Projektgruppe „über-morgen“ wenden, dass zu dieser Diskussion keine Flüchtlinge eingeladen wurden. Nach Auffassung des Angeklagten hätten alleine die Flüchtlinge die Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen sachlich dokumentieren können. Das Fehlen dieser „Hauptakteure“ ist Hintergrund seiner Kritik. Im Rahmen dieser Formulierung im Flugblatt stellt der Angeklagte die Frage: „Wieso die Veranstalter keine Flüchtlinge einladen, stattdessen aber ihre Veranstaltung scheinbar zu einem Podium für die rassistischen Autoritäten machen wollen, ist mehr als fragwürdig“. Links neben dieser Passage ist ein Foto des Herrn O. abgedruckt.

Zwar ist festzuhalten, dass mit dem Begriff der „rassistischen Autorität“, die sich offensichtlich auch auf Herrn O. beziehen soll, der Angeklagte Kritik in überspitzter und polemischer Form geäußert hat. Auch ist zu beachten, dass sich diese Vorwürfe aus Sicht des Regierungsdirektors O. als massive, fast die Grenzen des Erlaubten überschreitende Kritik darstellt.

Gerade für ihn als Leiter der Aufnahme- und Ausländerbehörde sind Begriffe wie „rassistische Autorität“ besonders schwerwiegend, weil sie seine Amtsführung in einem äußerst schlechten Licht darstellen lassen. Diesen Begriff für eine Person zu verwenden, die eine entsprechende Behörde für Ausländer leitet, ist als äußerst schwerwiegend einzustufen. Hier hat der Angeklagte fast schon die Grenze des von der Meinungsfreiheit noch umfassten Rechts auf Kritik überschritten.

Man muss jedoch den Begriff der „rassistischen Autorität“ im Gesamtkontext des Flugblattes berücksichtigen. Gerade in dem ersten Absatz hat der Angeklagte nämlich zahlreiche aus seiner Sicht bestehenden Missstände in der Einrichtung angeprangert. Er spricht von Verschärfung der Repressionen gegenüber den Asylbewerbern. Er behauptet, dass die Einrichtung der Abschreckung, der Zermürbung und der Ausgrenzung der Flüchtlinge diene. Durch Taschengeldentzug und Botschaftsvorführungen sollten die Flüchtlinge weiter unter Druck gesetzt werden, entweder „freiwillig auszureisen“, in die Illegalität zu fliehen oder ihre Identität preiszugeben, um sie abzuschieben. Die Isolation im Lager, die Perspektivlosigkeit und die ständige Angst vor der Abschiebung mute einem Kampf gegen die Flüchtlinge an.

Nachdem der Angeklagte diese aus seiner Sicht bestehenden Kritikpunkte erörtert hat, bezieht er die Kritik gerade auf Herrn O. als Leiter der AAB und Vertreter des Innenministeriums. Hierbei wird aber deutlich, dass Herr O., obwohl sein Foto auf dem Flugblatt abgedruckt wird, ausdrücklich nicht in seiner Funktion als Privatperson, sondern nur in seiner Funktion als Behördenleiter angegriffen wird. Dies wird insbesondere auch dadurch klar, dass der Angeklagte Herrn O. nicht mit Namen, sondern überwiegend mit dem Begriff des Lagerleiters anspricht, woraus deutlich wird, dass er ihn in seiner Funktion als Behördenleiter kritisiert. Dies ergibt sich auch aus den Ausführungen im 2. Absatz, wo der Angeklagte die Behauptung aufstellt, dass Herr O. für die soeben aus Sicht des Angeklagten dargestellte Politik ein offensiver Vertreter sei. Schließlich vertrete Herr O. das Niedersächsische Innenministerium und damit das Land Niedersachsen.

Es wird ausdrücklich nur auf die Politik des Herrn O. Bezug genommen, wie sich auch aus dem 2. Absatz ergibt. Dort wird weiter kritisiert, dass wenn Flüchtlinge ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Meinungsäußerung wahrnähmen, der Lagerleiter dies mit Diffamierungen des Protestes, Besuchsverboten und Repressionen beantworten würde. Unter Berücksichtigung dieser, wenn auch überspitzten und polemischen Kritik, und unter Berücksichtigung der zahlreichen einzelnen Vorwürfe hinsichtlich der Situation der Flüchtlinge in der Einrichtung in XY, ist die Kritik des Angeklagten zu sehen. Diese projiziert er auf Herrn O. in seiner Funktion als Behördenleiter, weil dieser für die grundsätzlichen Zustände in der Einrichtung verantwortlich ist.

Hierbei ist für das Gericht nicht von Interesse, ob die Vorwürfe des Angeklagten tatsächlich zutreffen. Im Rahmen der Meinungsfreiheit kommt es hierauf nicht an. Würde man dies anders sehen, würde man den Grundrechtsschutz der Meinungsfreiheit unterhöhlen.

Diese Ausführungen und diese Feststellungen muss man berücksichtigen, wenn man die harte Tonart des Angeklagten im letzten Absatz gegenüber Herrn O. abwägt, wo er diesen als „rassistische Autorität“ betrachtet. Gerade auch durch seine ausführliche Einlassung in der mündlichen Verhandlung hat der Angeklagte deutlich zum Ausdruck gemacht, dass er bei der Verwendung des Adjektivs „rassistisch“ diesen Begriff institutionalisiert verstanden haben möchte. Es geht ihm um administratives Handeln auf Grundlage von Gesetzen und Verordnungen. Zum institutionellen Rassismus zahlen aus seiner Sicht insbesondere auch Einschränkungen wie Residenzpflichten, Unterbringung in Sammellagern, mangelnde Gesundheitsversorgung, Arbeitsverbot, Abschiebung oder das Asylbewerberleistungsgesetz mit seinem Sachleistungsprinzip. Insgesamt also das Verhalten von Ämtern und Behörden und die aus seiner Sicht bestehende benachteiligende Sozialpolitik gegenüber Ausländern zur sozialen Ausgrenzung. Gegen diese Politik wendet sich der Angeklagte und bezeichnet dies aus seiner Sicht deshalb als institutionellen Rassismus.

Sicherlich geht der Begriff der „rassistischen Autorität“ gegenüber einem Leiter einer Einrichtung für Ausländer sehr weit und stellt auch eine erhebliche Beeinträchtigung der Rechte des Herrn O. und seiner Persönlichkeit dar. Trotzdem ist festzuhalten, dass sich sowohl aus dem Flugblatt selbst als auch durch die Einlassung des Angeklagten in der mündlichen Verhandlung und gerade auch aus Sicht eines objektiven Dritten, der dieses Flugblatt unter Kenntnis des Hintergrundes der öffentlichen Kritikpunkte an der Einrichtung zur Kenntnis nimmt, dahingehend zu verstehen ist, dass der Angeklagte Herrn O. trotz der massiven Wortwahl in dem Flugblatt nicht als Privatperson, sondern in seiner Funktion als Leiter der Einrichtung in XY kritisieren möchte. Dies geht nach Einschätzung des Gerichts eindeutig aus dem Flugblatt hervor, zumindest muss zu Gunsten des Angeklagten hiervon ausgegangen werden.

Es ist weiter so, dass diese überspitzte und persönlich herabsetzende Kritik gegenüber dem Behördenleiter O. trotz der scharfen Wortwahl immer noch eine Sachnähe zu dem hier zugrundeliegenden Tatbestand zukommt. Der Vorwurf der rassistischen Autorität wird in der Sache seitens des Angeklagten durch die vorherige Auflistung der angeblichen schlechten Zustände in der Einrichtung untermauert. Damit ist festzuhalten, dass sicherlich eine überzogene unmäßige und ausfällige Kritik vorliegt. Diese weist aber eine deutliche Sachnähe zu dem zulässigerweise kritisierten Sachstand auf und ist damit noch als zulässige Schmähkritik einzustufen. Es handelt sich um einen zusammenhängenden erörternden Text, in dem am Ende der Angeklagte Herrn O. scharf kritisiert. Man kann aber alleine den Begriff der rassistischen Autorität nicht von den zuvor zahlreich genannten Beispielen und Kritikpunkten trennen. Die dort verwendeten Formulierungen beinhalten sicherlich plakative und auch tendenziell herabsetzende Wertungen des Herrn O.. Eine diffamierende Wirkung oder gar eine Prangerwirkung kann das Gericht diesen Vorwurf aber noch nicht entnehmen, wenn auch die Grenze fast erreicht zu sein scheint.

Die überragende Bedeutung der Meinungsfreiheit für eine Demokratie ist auch hier zu beachten.
Die Meinungsfreiheit soll gerade gewährleisten, dass jeder seine Meinung frei äußern darf. Er soll sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann, BVerfGE 42, 163, 170. Es ist der Sinn von Meinungsäußerungen, geistige Wirkungen auf die Umwelt ausgehen zu lassen, meinungsbildend und überzeugend zu wirken. Dabei sind Werturteile von Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz durchweg geschützt, ohne dass es darauf ankäme, ob die Äußerung wertvoll oder wertlos, richtig oder falsch, emotional oder rational begründet ist, BVerfGE 33, Seite 1 und 14.

Wie bereits ausgeführt, fallen auch scharfe und übersteigerte Äußerungen grundsätzlich in den Schutzbereich des Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Dabei spricht, wenn es um Beiträge zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geht, die Vermutung für die Zulässigkeit freier Rede, vergleiche BVerfGE 7, 198, 212. In diesem Falle ist eine Auslegung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik überhöhte Anforderungen stellt, mit Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar, vergleiche BVerfGE 42, 163, 170.

Weiter ist, und das ist für den vorliegenden Fall von höchster Relevanz, die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede in diesem Zusammenhang nicht auf spontane mündliche Äußerungen beschränkt, vergleiche BVerfGE 68, 226, 232 und Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 05.03.1992, NJW 1992, 2815 und 2816.

Nach Auffassung des Gerichts sind dadurch, dass Herr O. Leiter der kritisierten Behörde AAB ist, sogar erhöhte Anforderungen bei der Abwägung zwischen seinem Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit des Angeklagten anzusetzen sind. Normativ ist nämlich die Fähigkeit, auch als polemisch und böswillig empfundene Kritik zu ertragen, in der heutigen Gesellschaft zur unerlässlichen Qualifikation für Leistungsfunktionen geworden.

Bereits der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Bender hat hierzu, ohne dass dies für Herrn O. zynisch klingen soll, bereits den früheren amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman zitiert: “If You can’t stand the heat, stay out of the kitchen.“ „Wer die Hitze nicht erträgt, sollte nicht in der Küche arbeiten.“ Sicherlich handelt es sich hierbei um einen gewagten Vergleich, mit denen Herr O. aber ausdrücklich nicht verletzt werden soll. Es muss jedoch beachtet werden, dass weil es sich vorliegend um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage handelt, ein Behördenleiter ein „etwas dickeres Fell“ haben muss in seiner Funktion. Das Bundesverfassungsgericht geht dabei sogar zutreffender Weise davon aus, dass bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlichen berührenden Frage in aller Regel keine Schmähkritik vorliegt, diese ist auf die Privatfehde beschränkt, vergleiche Bundesverfassungsgericht, NJW 1996, Seite 709 und NJW 1999 Seite 204 und 206. Dieser Einschätzung schließt sich das Gericht vollumfänglich an, eine Privatfehde liegt vorliegend offensichtlich nicht vor.

Damit ist festzuhalten, dass durch die einzelnen Kritikpunkte in dem Flugblatt und durch die Formulierung der scharfen Wortwahl und der Bezeichnung des Behördenleiters O. als „rassistische Autorität“ die Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Herrn O. überwiegt.

3.
Der nächste Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Angeklagten geht dahin, dass dieser durch die inhaltliche und textliche Ausgestaltung des Flugblattes Herrn Regierungsdirektor O. für einen unbefangenen Dritten in die Nähe des Leiters der während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bekannt gewordenen Konzentrationslager gleichgesetzt habe, indem er Herrn O. als Lagerleiter und als rassistische Autorität bezeichnet.

Diese Parallelen ergeben sich aus dem Flugblatt zur Überzeugung des Gerichts aus Sicht eines objektiven Dritten nicht. Zwar will das Gericht nicht verhehlen, dass der Begriff des Lagerleiters sehr spitzfindig vom Angeklagten gewählt wurde. In der Tat ist dieser Begriff im Dritten Reich äußerst negativ belastet gewesen. Trotzdem ist aber festzuhalten, dass gerade in der Wortwahl auch der heutigen Bevölkerung häufig die Rede von Auffanglagern die Rede ist, wenn Asylbewerber in einer Einrichtung leben.

Wie zutreffend vom Angeklagten in seiner Prozesserklärung zitiert, war es früher sogar so, dass in zahlreichen Gesetzestexten der Begriff des Lagers verwandt wurde. Auch die Zitierung zahlreicher Chefredakteure, die den Begriff des Lagerleiters verwendeten, bestätigt dies. Herr O. ist Chef der AAB. Von einem Teil der Bevölkerung wird eine solche Einrichtung auch als Auffanglager für Ausländer bezeichnet. Deshalb kann es nicht als ehrverletzende Äußerung verstanden werden, wenn der Angeklagte, wenn auch spitzfindig und polemisch, Herrn O. als Lagerleiter bezeichnet.

Hieran ändert auch nichts, dass unten in dem Flugblatt Herr O. als rassistische Autorität bezeichnet wird. Der Begriff des Rassismus ist nicht auf das Dritte Reich beschränkt. Wie bereits oben ausgeführt, ist bezüglich dieses Begriffes ohnehin zu beachten, dass sich dieser insgesamt gegen die Institutionen des Landes Niedersachsen wenden soll, mit deren Ausländerpolitik der Angeklagte nicht einverstanden ist. Auch die Kombination dieser beiden Begriffe führt daher nicht dazu, dass dem Angeklagten der Vorwurf gemacht werden könnte, er habe Herrn O. in die Nähe des Dritten Reiches stellen wollen.

4.
Vom Angeklagten kann auch nicht verlangt werden, dass er eine Rechtfertigung der von ihm erhobenen Vorwürfe im Sinne eines Nachweises ihrer Berechtigung durch Tatsachen und Belege dazulegen habe. Ein derartiger Nachweis ist bei plakativen Werturteilen mit substanzarmen Tatsachenelementen oftmals gar nicht möglich. Seine Erforderlichkeit würde zudem der individuellen und kollektiven Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit nicht gerecht. Sie würde den Spielraum, dessen die frei geäußerte Meinung naturgemäß bedarf, zu weit einengen.

Insbesondere birgt das Erfordernis der Rechtfertigung von Meinungen die Gefahr in sich, die Bereitschaft des Einzelnen zur freien Meinungsäußerung wegen des mit ihr verbundenen Risikos von vornherein zu verringern. Damit wird aber die unbefangen geäußerte Meinung als unverzichtbare Quelle und Grundlage sowohl der privaten als auch der öffentlichen Meinungsbildung gefährdet. Zugleich würde der für die äußerungsrechtliche Zulässigkeit von Meinungsäußerungen geltende Bewertungsmaßstab mit den für die Zulässigkeit von Tatsachenbehauptungen maßgeblichen Kriterien in bedenklicher Weise vermengt.

Ob die Kritik berechtigt oder das Werturteil richtig ist, spielt grundsätzlich keine Rolle, Bundesverfassungsgericht NJW 1995 Seite 3303 und 3304. Trotz des festgestellten Überwiegens wertender Elemente und des daraus folgenden unterschiedlichen Rechtmäßigkeitsmaßstabes würde die Meinungsäußerung weitgehend der engeren, nur für Tatsachenbehauptungen geltenden Überprüfung auf ihre Wahrheit unterstellt und der Tatsachenbehauptung damit rechtlich in unzulässiger Weise angenähert, vergleiche OLG Köln, Urteil vom 17.12.2002 zum Aktenzeichen 15 U 95/02. Auf tatsächliche Bezugspunkte kann sich die geäußerte Kritik stützen. Diese erforderlichen tatsächlichen Bezugspunkte hat der Angeklagte in seinem Flugblatt und in seiner schriftlichen Einlassung zur mündlichen Verhandlung dargelegt. Er hat genau erörtert, wie er zu seinen Behauptungen und Einschätzungen kommt.

5.
Insofern ist unter Berücksichtigung des gesamten Flugblattes festzuhalten, dass die dortigen Äußerungen und Darstellungen noch von der Meinungsfreiheit des Angeklagten umfasst ist. Dem Angeklagten sei jedoch nochmals – wie bereits bei der mündlichen Urteilsverkündung – klargemacht, dass vorliegend die Verwendung des Begriffes der „rassistischen Autorität“ gegenüber Herrn O. nur deshalb von der Meinungsfreiheit noch umfasst ist, weil zuvor zahlreiche einzelne Kritikpunkte gegenüber der Politik gegen Ausländer erhoben wurde und das Flugblatt die Podiumsdiskussion kritisierte. Wäre dieser Zusammenhang nicht gegeben oder nicht deutlich gemacht worden, hätte der Angeklagte sich der Beleidigung strafbar gemacht. Dies gilt auch deshalb, weil der Begriff der „rassistischen Autorität“ in normaler Schriftgröße und nicht fett gedruckt am Ende des Textes auftaucht, so dass der Leser dieses Textes zuvor die obigen einzelnen Kritikpunkte gelesen und zur Kenntnis genommen hat und dann für sich den Schluss ziehen kann, dass aus Sicht des Angeklagten Herrn O. eine „rassistische Autorität“ ist.

Insgesamt ist daher festzuhalten, dass die Meinungsfreiheit des Angeklagten gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und Ehrschutz überwiegt. Damit ist Herr O. auch nicht in seiner Würde verletzt gemäß Artikel 1 des Grundgesetzes.

Der Angeklagte war daher aus rechtlichen Gründen freizusprechen.

Der Angeklagte hat sich nicht der Beleidigung gemäß § 185 des Strafgesetzbuches strafbar gemacht.

IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO.
Holger Janssen
Richter

Team Fachzeitung

Mainstr. 85

41469 Neuss

Die mobile Version verlassen