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Der lange Weg nach Hause

Der Sohn des Bundeskanzlers erinnert sich

AutorKurt von Schuschnigg
VerlagAmalthea Signum Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783903217157
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Kurt von Schuschnigg erlebt bis zu seinem neunten Lebensjahr eine behütete Kindheit als Sohn eines Innsbrucker Anwalts. Nach der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß wird sein Vater 1934 dessen Nachfolger. Ein Jahr später erleidet die Familie einen schweren Autounfall, bei dem Kurts Mutter Herma von Schuschnigg tödlich verunglückt. Als Bundeskanzler bemüht sich Schuschnigg vergeblich, die westeuropäischen Demokratien für Österreich zu sensibilisieren. Unmittelbar nach dem Anschluß im März 1938 wird er mitsamt seiner Familie im Belvedere 'unter Hausarrest' gestellt und schließlich ins Münchner Gestapo-Hauptquartier gebracht. Ende 1941 verlegt man ihn ins Konzentrationslager Sachsenhausen, wohin ihm Vera von Schuschnigg mit der kleinen Tochter Sissi freiwillig folgt. Sohn Kurt, der mit der Verhaftung seines Vaters ebenso zu einer 'Unperson' im Dritten Reich wird, erhält Zutritt als Besucher und wohnt dort während seiner Schulferien. In seiner Biografie erinnert sich Kurt von Schuschnigg an seine Beobachtungen und Erfahrungen sowie an seine Begegnungen mit Himmler und Hitler. Er berichtet in diesem spannenden Zeitzeugenbericht von einem ungewöhnlichen Familienleben als Sohn des Bundeskanzlers in einer politisch unruhigen Zeit, seinen Erlebnissen als Luftwaffenhelfer und Marinesoldat auf der 'Prinz Eugen' sowie seiner abenteuerlichen Flucht nach Südtirol.

Kurt von Schuschnigg wurde 1926 in Innsbruck geboren. Er wanderte 1957 in die USA aus und war als Kunsthändler tätig.

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Leseprobe

Die Wirklichkeit


Anfang 1932 wurde Vater zum Justizminister bestellt, zum jüngsten in der Geschichte Österreichs, und wir übersiedelten nach Wien. Eine neue Stadt, eine neue Wohnung, eine neue Schule und neue Freunde, hier fing mein Leben richtig an.

Die wesentlichsten Ziele der neuen Regierung waren ein ausgeglichener Budgethaushalt, die Verringerung der Arbeitslosigkeit und der Wiederaufbau der Wirtschaft. Als Folge der Weltwirtschaftskrise war Österreichs führende Bank, die Creditanstalt, 1931 in Konkursgefahr geraten und mußte durch eine Staatshaftung aufgefangen werden. Ein für das Land überlebenswichtiger Völkerbund-Kredit wurde gegen den heftigen Widerstand der politischen Linken durchgesetzt. Die Reaktionen selbst gemäßigter deutscher Blätter wie der »Frankfurter Zeitung«, die von einem »Diktat von Lausanne« schrieben, trugen naturgemäß kaum zur Beruhigung der öffentlichen Meinung bei.

Waren organisierte Störungen des Alltagslebens schon zur Routine geworden, so steigerten sich 1932 solche Unruhen in besorgniserregendem Ausmaß. Scharmützel zwischen der rechtsgerichteten Heimwehr und dem linken Schutzbund trugen dazu ebenso bei wie das Aufkommen des österreichischen Ablegers der NSDAP. Deren Anhänger begannen um diese Zeit ihr Hauptaugenmerk auf die jüdische Bevölkerung zu richten. In der Weihnachtszeit 1932 wurden »jüdische« Kaufhäuser Opfer von Tränengasattacken. Immer öfter prangten NSDAP-Symbole als Graffiti auf Hausfassaden, Gehsteigen, Brücken und Parkbänken. Das Hakenkreuz wurde geradezu allgegenwärtig.

Unser Privatleben normalisierte sich insofern, als wir wieder zusammen waren. Die Wohnung in der Mariahilfer Straße war nicht weit von Papas Büro am Minoritenplatz entfernt, ein angenehmer, viertelstündiger Spaziergang oder bei Regen eine kurze Fahrt mit der Straßenbahn. Mutter schien glücklich in der Großstadt und lebte sich rasch ein. Meine Erziehung verlief auf zwei Schienen, in einer öffentlichen Knabenschule des Katholischen Schulvereins und in der Tanzschule Elmayer.

In der Schule, wir waren zwanzig in meiner Klasse, machte man uns deutlich, daß wir zum Lernen hierwaren. Als Neuzugang, und noch dazu eher schüchtern, zögerte ich, Fragen zu stellen. Die einheimischen Buben waren für mich erschreckend selbständig. Nachdem ich wußte, daß sie mich nicht auslachen würde, fragte ich meine Mutter um Rat.

»Ein Bub hat mich gefragt, ob ich Katholik, Protestant oder Jude bin.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich war mir nicht sicher, also hab ich nur gesagt: ›Ich bin Tiroler.‹ War das falsch?«

Ihre Antwort war netter und ausführlicher als der kurze Kommentar der Mutter des anderen Buben: »Provinzler«.

»Der Elmayer« bemühte sich zu verhindern, daß wir zu gesellschaftlichen Witzfiguren würden. Rittmeister Wilhelm Elmayer hatte die Schule für Unterweisung in Tanz und gutem Benehmen nach dem Ersten Weltkrieg gegründet. Der beeindruckende Kavallerieoffizier war von der Front mit einem steifen Bein zurückgekommen. Sein goldbesetzter Stock betonte noch, als ob es notwendig gewesen wäre, die monokel-bewehrte Autorität. Offensichtlich war mit dem Herrn Rittmeister nicht gut Kirschen essen. »Onkel Willys« Manieren und sein Auftreten zeugten von Stil in jeder Lebenslage, vom Scheitel des perfekt gekämmten, dünner werdenden braunen Haares bis zur Sohle seiner stets polierten, handgemachten Schuhe.

Elmayer-Kurse waren in Altersklassen aufgeteilt. Wir Sechsjährigen wurden einer kleinen Gruppe von Damen anvertraut, die für die Durchsetzung von Onkel Willys Lehrplan zuständig war. Manchmal unterrichtete er uns auch selbst, aber nur diejenigen, die er persönlich auswählte. Unter seiner Anleitung wurde perfektes Verhalten erwartet. Er kombinierte militärische Disziplin mit dem Blick eines Scharfschützen, dem nichts entging. Ein falscher Schritt bei einem Menuett, ein Stolpern über die eigenen Füße oder, schlimmer, über die der Partnerin, die geringste Unaufmerksamkeit, und schon mußte man in der Ecke stehen, mit Blick auf die Wand. Diese besondere Art der erhöhten Aufmerksamkeit dauerte vier bis fünf Minuten, und früher oder später besuchte jeder die Ecken des Salons in der Bräunerstraße. Aber der gestrenge Onkel Willy konnte auch nett sein. Wir fanden ihn alle großartig. Unser Erfolg als Elmayer-Schüler war die treibende Kraft in seinem Leben.

Manchmal wurden Schüler ausgewählt, um an Theater- oder karitativen Auftritten mitzuwirken. Besonders diesen schenkte Onkel Willy sein Talent und seine Zeit. Er hielt solche Aktivitäten für notwendig, um an »Präsenz« zu gewinnen. Manchmal mußten wir in Biedermeierkostümen herumstiefeln, doch meistens spielten wir einen Teil einer Schneeflocke, einen Busch oder ähnlich Harmloses. Wir nahmen das überaus ernst, alles andere wäre ein Verrat an Onkel Willys Lehren gewesen. Keiner von uns ließ zu, daß auch nur ein Blatt sich vom Kostüm löste. Während einer Aufführung versuchte ein Neuling neben mir, heldenhaft ein Niesen zu unterdrücken, hielt den Atem an, bis sein Gesicht knallrot wurde und seine Augen durch die ziegeldicke Brille zu stoßen drohten. Nach ein paar Sekunden schüttelte es ihn, und die Brille fiel von seiner Stupsnase auf die Bühne. In einer fließenden Bewegung bückte er sich nach seiner Brille, trat dabei aber darauf und zerbrach sie. Und Onkel Willy? Onkel Willy war begeistert.

Die Gespräche der Erwachsenen wurden von nur einem Thema beherrscht, dem beunruhigenden Wachstum der NSDAP in Österreich. Schon Ende 1932 waren die Auswirkungen bereits auf der Straße spürbar. Öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte oder Kinos wurden von Nazidemonstranten gestört. Gruppen von Nazis versperrten die Ein- und Ausgänge der Universität Wien, bis die Polizei die Ordnung wiederherstellte.

Im März 1932 erschreckte die Entführung des Sohnes des amerikanischen Fliegers Charles Lindbergh die gesamte zivilisierte Welt. Nicht nur amerikanische Publikationen, auch alle europäischen berichteten in allen Details über das »Lindbergh Baby«, und alle Eltern waren entsetzt. Das sollte auch für mich Konsequenzen haben. Fortan hatte ich nicht nur mein Kinderfräulein, sondern auch einen Polizeibeamten in Zivil als Dauerbegleiter. Auch wenn dieser drei Meter hinter mir ging, war er so unauffällig wie eine ganze Rinderherde. Noch peinlicher war, daß er während des Unterrichts auf dem Gang vor meiner Klasse sitzen mußte. Ich flehte wochenlang, von dieser Qual erlöst zu werden, und stellte schließlich fest, daß das nicht mehr auszuhalten war. Daß Vater in der Öffentlichkeit stand, war mir egal, und daß es Unruhen auf den Straßen Wiens gab, erst recht. Meinen Eltern erklärte ich, es lieber mit einem Kidnapper aufnehmen zu wollen, als noch einen Tag diese Peinlichkeit zu ertragen. Die Sticheleien meiner Klassenkollegen waren einfach zuviel. Ich stampfte mit dem Fuß auf, um deutlich zu machen, daß es mir ernst war. Die Reaktion meines Vaters: »Was fällt dir ein, vor deiner Mutter mit dem Fuß zu stampfen!« Nachdem ich alles aufgeboten hatte, schwieg ich. Eine Art wortloser Kommunikation schien zwischen meinen Eltern stattzufinden, und schließlich gaben sie nach.

Am nächsten Tag ging ich mit einem außergewöhnlichen Gefühl von Befreiung und Leichtigkeit in die Schule, ohne über meine Schulter schauen zu müssen. Ich grüßte meinen Freund Peter Mayer und erzählte ihm sofort die guten Neuigkeiten. Er sah mich erstaunt an. Dann hob er den Kopf und drehte die Augen seitwärts. »Wenn das so ist, dann hat der einen Zwilling.« Ich drehte mich schnell um und sah ihn keine zehn Meter weit weg. Er hatte eine Zeitung vor dem Gesicht, aber auch wenn ihn das kurzfristig verdeckte, waren der karierte Anzug, die Melone und die braunen Schuhe das untrügliche Zeichen des Staatspolizisten. Mir fiel nichts mehr ein. Hatte der Mann es vergessen? Hatte man ihm nicht gesagt, daß er mir nicht mehr folgen sollte? Mittags wieder zuhause, schmollte ich, stellte meine Mutter zur Rede und erfuhr eine häßliche Wahrheit: Ist es im Interesse ihrer Kinder, dürfen Eltern auch lügen.

Um mich zu beruhigen, gab es doch ein paar kleine Änderungen. Mein »Schatten«, wie ich ihn nannte, mußte sich nun wirklich bemühen. Blitzschnell sprang er hinter Bäume (wenn es welche gab), versteckte sich hinter Autos (sofern sich diese nicht bewegten), manchmal unternahm er sogar das abgeschmackteste aller Manöver, die plötzliche Kehrtwendung. Ihn zu überraschen, verschaffte mir einige Befriedigung. Indem ich mich grundlos umdrehte, ertappte ich ihn manchmal. Er saß nicht mehr auf dem Gang in der Schule, sondern in einer Kammer. Er war da. Ich wußte, daß er da war, und er wußte, daß ich es wußte. Vermutlich hätte er mich gern dafür erwürgt, daß ich ihm das...

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