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Ich sehe das, was ihr nicht seht

Eine blinde Strafverteidigerin geht ihren Weg

AutorPamela Pabst, Shirley Michaela Seul
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783446245501
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Pamela Pabst arbeitet in ihrem Traumberuf - als erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin in Deutschland. Mit Leidenschaft und einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit hat sie dieses Ziel verfolgt. So schickten ihre Eltern sie auf eine gewöhnliche Grundschule und später auf ein Gymnasium - zu einer Zeit, als das Konzept der Inklusion, des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung, noch keine gesellschaftliche Relevanz hatte. Offen und ohne jede Larmoyanz gewährt Pamela Pabst Einblick in ihr Leben und ermutigt alle - Sehende wie Nichtsehende -, konsequent ihren eigenen Weg zu gehen.

Pamela Pabst, 1978 geboren, wurde als erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin in Deutschland bei Gericht zugelassen. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

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Leseprobe

Das Zauberwort »Mandant« –
Jura als Kindheitstraum


In den vergitterten Zellen um mich herum sitzen an die tausend Männer hinter Schloss und Riegel. Am Arm von Frau Müller, meiner Assistentin, schreite ich auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt Tegel durch die kühle Morgenluft. Das Einlassprozedere hat wie immer eine Weile gedauert.

»Rechtsanwältin Pabst?«, fragt eine Männerstimme, als wir den Vorraum erreichen. Diesen Beamten kenne ich noch nicht. Seine Stimme klingt sicher, obwohl sie nicht tief ist. Stimmen unterscheide ich oft in sicher und unsicher. Auch laute Stimmen können Unsicherheit verraten.

Durch ein Metalltor, das hinter uns krachend ins Schloss fällt, folgen wir dem Justizvollzugsbeamten in den Gang unterhalb der Kirche. Das zweiflügelige hohe Tor ist von Gefangenen geschmiedet worden und fühlt sich interessant an. Frau Müller hat mir einmal gesagt, es sehe verspielt und hübsch aus. Ja, das habe ich auch ertastet, anhand der verschnörkelten Kringel.

Wir laufen weiter. Unter meinen Füßen spüre ich die Unebenheit von Kopfsteinpflaster. Vor uns klirren die Schlüssel des Beamten. Er führt uns durch mehrere Türen, die jeweils auf- und hinter uns wieder abgeschlossen werden, bis uns hohe Mauern umfangen, angefüllt mit Stimmengewirr, dem Klappern von Metall, unverständlichen Rufen, dem Geruch von Essen und ungewaschenen Männerkörpern.

»Der Raum rechts ist frei«, sagt der Justizvollzugsbeamte.

Kurz darauf sitze ich neben Frau Müller auf einem wackeligen Holzstuhl ohne Polster. Vor mir steht ein Tisch, er ist staubig, wie ich merke, als ich mich darauf abstütze, und es ist kalt hier. Während wir noch darüber sprechen, ob man nicht besser heizen sollte, öffnet sich die angelehnte Tür, und ein Mann tritt ein. Aus den Akten weiß ich, dass er, Herr Baumann, mit einem Mittäter insgesamt zehn Autos aufgebrochen hat, um die Navigationssysteme zu entwenden. Er ist vierundzwanzig Jahre alt, deutscher Staatsbürger ohne Schulabschluss, nicht vorbestraft. Herr Baumann setzt sich an den Tisch. Ich bin gespannt: ein neuer Mandant, ein neuer Fall, eine neue Lebensgeschichte.

Frau Müller, die neben mir sitzt, niest.

»Gesundheit«, sage ich.

»Gesundheit«, sagt auch Herr Baumann. Seine Stimme klingt aufgeregt.

Ich strecke meine Hand aus. Als Blinde strecke ich sie immer zuerst aus – eine mir hingehaltene Hand kann ich ja nicht sehen. Die Hand des Mannes fühlt sich weich und warm an, ein bisschen feucht vielleicht.

Er räuspert sich. »Also danke erst mal, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich kenn ja gar keine Anwälte. Ich kenn mich mit so was überhaupt nicht aus. Aber mein Kumpel hat mir Ihre Nummer gegeben.«

»Wer ist denn Ihr Kumpel?«

»Na, der Mohammed.«

Aha, denke ich. Mohammeds habe ich mehr als einen in meiner Kartei. Manche schreiben sich mit einem, manche mit zwei »m«.

»Und der Nachname?«, frage ich freundlich. »Wie heißt der Mohammed denn weiter?«

»Keine Ahnung.«

»Macht ja nichts«, sage ich. »Hauptsache, es hat geklappt mit dem Termin.«

»Und Sie sind also blind?«, fragt er mich unvermittelt.

»Ja.«

»Macht ja nichts«, sagt er, eher zu sich. »Weil der Mohammed, der schwört echt auf Sie.«

Mund-zu-Mund-Propaganda gilt auch unter Kleinkriminellen als Gütesiegel.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich will hier raus!«, stößt er hervor.

»Das kann ich verstehen«, erwidere ich und senke meine Stimme. »Das wollen hier alle.«

Er lacht, und ich spüre, dass er sich entspannt.

»Dann werden wir mal sehen, was wir für Sie tun können.«

Er zögert. »Aber, also ... sehen können Sie doch gar nicht?«

»Auch wenn man blind ist, benutzt man dieselben Ausdrücke wie die Sehenden«, erkläre ich.

»Okay. Sorry. Ich kenn nämlich sonst keine wie Sie. Also keine Blinden und so.« Er räuspert sich erneut und fragt dann: »Woll’n Se mich mal anfassen?«

Solche Angebote erhalte ich öfter. »Nein«, lächle ich.

»Aber Sie wissen doch gar nicht, wie ich aussehe!«, ruft er.

»Es ist nicht wichtig, wie Sie aussehen.«

»Hm. Na klar. Es geht ja um den Fall«, überlegt er laut. »Da ist es egal, ob ich blaue Augen oder braune habe. Das wird den Richter nicht interessieren, oder?« Nach der Erwähnung des Richters wird seine Stimme dünner.

»So ist es«, sage ich.

Manche meiner Mandanten erleichtert es, dass ich nicht weiß, wie sie aussehen. Ich werde sie nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Von meiner Assistentin erfahre ich gelegentlich, dass einer furchteinflößend, ja sogar brutal wirkt. Tattoos vom Scheitel bis zur Sohle, Piercings, schlechte Zähne. »Seien Sie mal froh, Frau Pabst, dass Sie den nicht sehen mussten«, sagt Frau Müller dann.

Darauf erwidere ich nichts. Denn ich habe ihn ja gesehen – auf meine Art und Weise.

»Also, sind Sie jetzt meine Anwältin?«, fragt Herr Baumann.

»Ja«, antworte ich, »und Sie sind mein Mandant.«

Es passiert mir noch immer, dass ich innerlich lächeln muss, wenn ich das Wort »Mandant« ausspreche. Dieses Wort hat mein Leben verändert. Es ist zu meinem persönlichen Sesam-öffne-dich geworden – seit einem Tag im März 1990, als ich meine Mutter zu einem Rechtsanwalt begleitet habe. Ich war damals elf Jahre alt und wollte unbedingt mit, obwohl meine Mutter mich eigentlich bei meiner Großmutter lassen wollte. Der Grund für unseren Besuch beim Rechtsanwalt war eine Verwechslung gewesen. Eine Person, die den gleichen Namen trug wie ich, hatte etwas bestellt und nicht bezahlt, woraufhin bei uns zu Hause ein Gerichtsvollzieher aufgetaucht war. Im Nachhinein erscheint mir das wie eine Fügung. Der Rechtsanwalt hinter dem Schreibtisch sprach während des Gesprächs mit meiner Mutter immer wieder in ein Diktiergerät und übersetzte den Sachverhalt dabei in eine mir bis dahin unbekannte Sprache. Seine Worte klangen kühl und respekteinflößend, aber auch stolz und sehr, sehr geheimnisvoll.

Sprache hatte mich schon immer fasziniert, und nun konnte ich nicht genug von all den Wörtern hören, die der Anwalt benutzte. Eines hatte einen besonderen Zauber: »Mandantin«. Damit war ich gemeint! In mir wuchs der brennende Wunsch, zu jemandem zu werden, der dieses Wort und all die anderen so elegant und souverän in ein Diktiergerät sprechen konnte wie der Rechtsanwalt. Viel zu schnell verstrich der Termin in der Kanzlei.

Auf dem Nachhauseweg zupfte ich meine Mutter am Ärmel: »Mama! So wie der Mann will ich auch mal reden können!«

»Dann musst du Jura studieren«, erwiderte meine Mutter. In dem Augenblick bekam meine Zukunft ein Gesicht und zwei leuchtende Augen: Mandant und Jura! Jetzt wusste ich, wohin ich wollte.

Heute bin ich die erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin in Deutschland. Da ich keine Stelle im öffentlichen Dienst erhalten konnte, machte ich mich 2007 in Berlin als Rechtsanwältin für Strafrecht selbständig. Seitdem verteidige ich Drogendealer, Räuber, Mörder und Vergewaltiger in der gesamten Bundesrepublik. Darüber hinaus vertrete ich auch Menschen aus meiner Nachbarschaft vor dem Arbeitsgericht, nach Verkehrsunfällen oder bei einer Ehescheidung. Meine besondere Liebe gilt jedoch dem Strafrecht. Ich finde es spannend, in das Leben anderer Menschen einzutauchen. Mein Beruf ermöglicht mir einen tiefen Einblick in die unterschiedlichsten Milieus, vom hemdsärmeligen Banker bis hin zum Obdachlosen oder zur drogensüchtigen Prostituierten. Ich versuche, jeden dort abzuholen, wo er steht, und ihn auf seinem Weg zu begleiten.

So auch Herrn Baumann. Wir nehmen seine Unterlagen entgegen – Frau Müller wird sie mir im Büro vorlesen. Herr Baumann ist nun viel lockerer, und ich spüre, dass er sich bei mir gut aufgehoben weiß. Beim Abschied drückt er meine Hand besonders fest: »Also, ich muss jetzt ja dableiben. Sie können einfach hier rausspazieren. Aber, na ja, wenn ich mir es recht überlege, nichts für ungut ...«

»Ja bitte?« Ich ahne, was er gleich sagen wird.

»Also wenn ich hier wieder rauskomme, und ich hoffe, das ist bald, dann wird es wieder hell. Aber für Sie! Für Sie bleibt es immer dunkel.«

»Ich kenne es nicht anders. Für mich ist das normal«, sage ich ruhig.

Von Kindheit an bin ich mit der Verunsicherung, die ein blinder Mensch unter Sehenden auslöst, konfrontiert. Diese Verunsicherung rührt zum einen daher, dass der Blickkontakt fehlt, der die nonverbale Kommunikation zwischen Menschen regelt. Es ist erwiesen, dass diese Art der Kommunikation wesentlich aussagekräftiger ist als die verbale, ja dass sich Menschen, auch wenn sie miteinander sprechen, deutlich mehr von dem beeindrucken lassen, was sie sehen. Zum anderen ergibt sich die Verunsicherung daraus, dass Sehende sich nicht vorstellen können, wie das Blindsein ist. Die meisten stellen sich Blindheit schrecklich vor. Die arme Frau! Wie furchtbar! Und noch mehr verunsichert es sie, wenn ich keineswegs ihrem Bild entspreche, mein Leben furchtbar, entsetzlich oder schrecklich zu finden.

Viele Menschen stellen sich Blindheit wie eine Höchststrafe vor. Das ist sie aber nicht. Sie ist einfach eine andere Art zu leben. Niemals käme es mir in den Sinn, Lebensqualität an Sehfähigkeit zu koppeln. Meistens finde ich mein eigenes Leben sehr schön. Ich habe auch eine Vorstellung vom Sehen, denn ich verfüge auf einem Auge über einen kleinen Sehrest, der jedoch unter einem Prozent liegt. Diese minimale Sehfähigkeit ermöglicht...

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