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E-Book

Krieg um die Erinnerung

Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards

AutorLjiljana Radonic
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl422 Seiten
ISBN9783593409740
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis45,99 EUR
Seit dem Zerfall Jugoslawiens tobt in den Nachfolgestaaten ein 'Krieg um die Erinnerung'. Ljiljana Radonic untersucht erstmals den Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in Kroatien seit 1990. Sie weist nach, dass nach dem Revisionismus der 1990er-Jahre eine Annäherung an europäische 'Erinnerungsstandards' erfolgte, die jedoch nicht nur positiv zu beurteilen ist. Damit ist Kroatien ein Beispiel für die 'gespaltene' Erinnerung in Ost- und Westeuropa.

Ljiljana Radonic verfasst ihre Habilitation über den 'Zweiten Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen' an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

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Leseprobe
5. Die Tuđman-Ära: »Nationale Versöhnung« zwischen Jasenovac und Bleiburg (1990–1999) (S. 135-136)

Zur Kontextualisierung der anschließenden Analyse der Vergangenheitspolitik wird hier zunächst die politische Entwicklung Kroatiens seit dem Wahlsieg von Präsident Tuđman bei den ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990 dargestellt. Danach wird der Umgang mit der Vergangenheit auf der justiziellen, symbolischen und vor allem diskursiven Ebene untersucht, was Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen Demokratieentwicklung und Vergangenheitspolitik erlauben soll.

Wie schon im Theorieteil dargelegt, ist davon auszugehen, dass der Fokus auf gesetzliche Maßnahmen und Symbolpolitik, wie etwa Straßenumbenennungen sowie die Errichtung und Entfernung von Denkmälern, ohne Einbeziehung des diskursiven Wandels der Vergangenheitspolitik die Gefahr von Fehlschlüssen birgt. Dies kann insbesondere im Exkurs über den »Fall Šakić«, das Gerichtsverfahren gegen einen ehemaligen Kommandanten des KZ Jasenovac, verdeutlicht werden, wo der justizielle Aspekt, die Verurteilung Šakićs zur Höchststrafe, dem verschwörungstheoretischen und antisemitischen Diskurs in jener Phase gegenübergestellt wird.

5.1. Defizite in demokratischen Kernbereichen


Wie sich die Vergangenheitspolitik eines Landes gestaltet, hängt zweifelsohne mit dem jeweiligen politischen System zusammen. Jeder Umgang mit der Geschichte ist zwar instrumentell in dem Sinne, dass die vergangenen Ereignisse gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechend erinnert und vergessen, betont oder tabuisiert werden. Dennoch unterscheidet sich der Umgang mit der Geschichte in einem demokratischen Land von jenem in einer Diktatur – vor allem in der Durchsetzung hegemonialer Deutungen, in der Befestigung von Tabus und der Reaktion, wenn diese gebrochen werden. Deshalb erscheint es logisch, dass der Zusammenbruch des Sozialismus in allen betroffenen Staaten auch mit einer neuen Geschichts- und Vergangenheitspolitik einherging.

Da jedoch ferner davon auszugehen ist, dass auch das unabhängige Kroatien in den neunziger Jahren erhebliche Demokratiedefizite aufwies, wird im Folgenden die politische Entwicklung des Landes unter besonderer Berücksichtigung der für die anschließende Diskursanalyse relevanten Situation der Medien untersucht. Die vorhandene Sekundärliteratur legt dabei die Annahme nahe, dass in Bezug auf die Demokratisierung erst nach Tuđmans Tod und der Abwahl der HDZ im Jahr 2000 entscheidende Fortschritte erzielt wurden.

Die Herausforderungen, denen sich Kroatien zu stellen hatte, waren in vielen Punkten typisch für postkommunistische Staaten. Eine Besonderheit ist jedoch auch im Verhältnis zu anderen Staatsbildungen durch Sezession483 die gleichzeitige Herausforderung durch Demokratisierung und Staatsbildung einerseits und Krieg484 andererseits. Unter TransformationsforscherInnen besteht Einigkeit darüber, dass Krieg und demokratische Veränderungen nicht zusammengehen. Laut Schmitter muss die Festlegung einer nationalen Identität und territorialer Grenzen der demokratischen Entwicklung vorangehen. Kroatien hingegen war der erste postsozialistische Staat, der international anerkannt wurde, ohne dass er bis 1995 die Kontrollgewalt über seine Grenzen und sein Territorium besaß.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Danksagung8
Vorwort10
1. Einleitung14
1.1. Fragestellung und Gliederung14
1.2. Theoretische Zugänge und Begriffsklärung25
1.3. Methodologische Vorüberlegungen36
1.4. Die historisch-diachrone Analyse kroatischer Vergangenheitsdiskurse45
2. Europäischer Kontext: Post-sozialistische Geschichtsdeutungen und die Europäisierung des Holocaust54
2.1. Von Entschädigungsfragen zur symbolischen Erinnerung58
2.2. Enthistorisierung der Holocaust-Erinnerung61
2.3. Identitätsstiftung und politische Instrumentalisierung67
2.4. Holocaust vs. Gulag – Konkurrierende Erinnerungen in »West« und »Ost«?71
2.5. Resümee: Transnationale Praktiken statt eines europäischen Geschichtskanons76
3. Geschichtlicher Überblick: Der Zweite Weltkrieg (1941–1945)79
3.1. Der »Unabhängige Staat Kroatien« – Die NDH79
3.1.1. Die Ideologie der Ustascha-Bewegung80
3.1.2. Die NDH und der Widerstand gegen den Massenmord82
3.1.3. Der Bürgerkrieg83
3.2. Vom Boykott zur Vernichtung: Shoa und Genozid in Kroatien87
3.2.1. Rechtliche Grundlage der Verfolgung88
3.2.2. Deportation, erste Todeslager und die Rolle der Italiener90
3.2.3. Der Lagerkomplex Jasenovac93
3.2.4. Jüdinnen und Juden bei den PartisanInnen96
3.3. Bleiburg und der »Kreuzweg«99
4. Jugoslawien: Vom »supra-nationalen« Gründungsmythos zum nationalistischen Kampf um die Erinnerung (1945–1990)105
4.1. Rechtliche und justizielle Vergangenheitspolitik105
4.2. Eckpunkte des antifaschistischen Vergangenheitsnarratives109
4.3. Institutionen des konkurrierenden Erinnerns119
4.4. Schulbücher: letzte Residuen der »Brüderlichkeit und Einheit«125
4.5. Der vergangenheitspolitische Diskurs 1985–1990128
5. Die Tu?man-Ära: »Nationale Versöhnung« zwischen Jasenovac und Bleiburg (1990–1999)136
5.1. Defizite in demokratischen Kernbereichen136
5.2. Justizielle und symbolische Vergangenheitspolitik154
5.3. Der vergangenheitspolitische Diskurs im Detail: Die Gleichsetzung von Jasenovac und Bleiburg168
5.3.1. Jasenovac als »nationale Versöhnungsstätte«168
5.3.2. Exkurs: Der Prozess gegen Dinko Šaki? (1998–1999)215
5.3.3. Bleiburg: »Die größte Tragödie des kroatischen Volkes«230
6. Nach den Wendewahlen: Annäherung an europäische Standards unter sozialdemokratischer Führung (2000–2003)267
6.1. Justizielle und symbolische Vergangenheitspolitik267
6.2. Der vergangenheitspolitische Diskurs ohne manichäische Feindzuschreibungen271
6.2.1. Jasenovac: Abrechnung mit revisionistischen Zuschreibungen271
6.2.2. Bleiburg: Kein »serbischer Ausrottungsversuch« mehr290
7. Die europäische Integration und eine »neue« HDZ (2003–2008)319
7.1. Justizielle und symbolische Vergangenheitspolitik319
7.2. Der Europa-kompatible vergangenheitspolitische Diskurs322
7.2.1. Jasenovac: Kontinuität nach dem Wahlsieg der HDZ?322
7.2.2. Die neue Jasenovac-Ausstellung und die »Europäisierung des Holocaust«349
7.2.3. Bleiburg: »schuldige« und »unschuldige« Opfer365
8. Ergebnisse385
9. Literatur405
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis422

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