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E-Book

Neue Zeit 1919

Ein Jahr zwischen Hoffnung und Entsetzen

AutorGerhard Jelinek
VerlagAmalthea Signum Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783903217362
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Ende oder Anfang? 'Die neue Zeit beginnt 1919 unter schlechten Vorzeichen. (...) Kein Krieg mehr, aber auch noch kein Friede. Ein Staat schon, aber ohne Freiheit. Eine Notgemeinschaft, aber keine Nation. Ein Land ohne feste Grenzen.' So steht es um die junge Republik Österreich in den ersten Monaten ihres Bestehens. Gerhard Jelinek schildert in leuchtenden Farben ein Jahr zwischen Zuversicht und Ungewissheit, Freude und Leid, Hoffnung und Entsetzen. Aus dem Inhalt: •1. Jänner: Arthur Schnitzler begrüßt das neue Jahr mit einem 'Pferderlspiel' •23. Jänner: Karl Renner gibt einer amerikanischen Journalistin ein Interview •16. Februar: Bei den ersten Wahlen in der Republik dürfen 1,9 Millionen Frauen mitentscheiden •25. Februar: Der Ottakringer Telepath Erik Jan Hanussen löst Kriminalfälle •23. März: Der ehemalige Kaiser Karl reist ins Schweizer Exil •17. April: Am Gründonnerstag scheitert ein bolschewistischer Putschversuch •4. Mai: Mit der Gemeinderatswahl beginnt die Epoche des 'Roten Wien' •3. Juni: In St. Germain werden die Friedensbedingungen bekannt •6. September: Die Nationalversammlung stimmt dem Friedensvertrag zu •10. Oktober: Die Uraufführung der 'Frau ohne Schatten' ist das kulturelle Ergeignis der Republik u. v. m. Mit zahlreichen Abbildungen

Gerhard Jelinek, Prof., Dr., ist seit 1989 beim ORF tätig, u. a. Leiter und Moderator der Sendung 'Report', heute Leiter der Abteilung 'Dokumentation und Zeitgeschichte' und des Wissensmagazins 'Newton'. Der gelernte Jurist und erfahrene Journalist recherchiert umfassend und präsentiert in seinen mehrfach ausgezeichneten TV-Dokumentationen und Büchern geschichtliche Abläufe im historischen Zusammenhang spannend und verständlich. Zuletzt bei Amalthea erschienen: 'Schöne Tage. 1914' (2013), 'Die letzten Zeugen' (mit Birgit Mosser-Schuöcker, 2014), 'Sternstunden Österreichs' (2015) und 'Es gab nie einen schöneren März' (2017)

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Leseprobe

Vorwort


Am Anfang steht eine Korrektur. Auf den im Wiener Staatsarchiv in einem eher schlichten Karton verwahrten Druckfahnen des »Gesetzes über die Staatsform vom 21. Oktober 1919« sind die ersten Worte des ersten Artikels durchgestrichen: »Die deutschen Alpenlande sind eine demokratische Republik.«

Im Herbst 1919 – auf den Tag genau ein Jahr nach der ersten Sitzung der provisorischen Nationalversammlung, die sich im niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse versammelt hat – ist die Staatswerdung Österreichs mit der Findung eines Namens vorerst einmal abgeschlossen. Österreich heißt Österreich, weil es die alliierten Siegermächte so erzwungen haben. Und Österreich ist als Republik ein selbstständiger Staat, weil die Sieger einen Anschluss der deutschen Bevölkerung Österreichs ans Deutsche Reich verboten haben. Die Neue Zeit beginnt 1919 unter schlechten Vorzeichen.

Die Monate von November 1918 bis Oktober 1919 sind eine Zeit, in der die sechs Millionen »Deutschen« der untergegangenen Habsburgermonarchie auf jede Gewissheit verzichten müssen. Eine Zwischenzeit. Kein Krieg mehr, aber auch noch kein Frieden. Ein Staat schon, aber ohne Freiheit. Eine Notgemeinschaft, aber keine Nation. Ein Land ohne feste Grenzen. Das erste Nachkriegsjahr ist eine politisch und gesellschaftlich turbulente Epoche, in der in Österreich, so wie in vielen anderen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas, die politischen Weichen neu gestellt werden, der Boden schwankt und tiefe Brüche sichtbar werden. Jahrhundertealte Gewissheiten verschwinden, Zukunftsängste überlagern das anfangs so freudig begrüßte Ende des alten Regimes.

Die Gründung der »Republik Deutschösterreich« war kein revolutionärer nationaler Schöpfungsakt, sondern das Ergebnis des militärischen Zusammenbruchs und des daraus erfolgenden inneren Zerfalls der Habsburgermonarchie. Oder war es umgekehrt? Führte das schleichende Zerbrechen des k. u. k. Gebildes in Nationalstaaten, die freilich längst noch keine Staaten waren, zur militärischen Niederlage? Eine Revolution war es nicht. Der Schweizer Gesandte in Wien, Carl Jacob Burckhardt, ist ein im doppelten Sinn neutraler Zeitzeuge: »Was geschah, ist kein eruptives Ereignis; es ist ein leises, mattes, halb widerstrebendes Abrutschen in einen, auf die Dauer wohl auch unhaltbaren Zustand, etwas Schleichendes, wobei das Unheimliche nicht gewaltmäßig in Erscheinung trat, sondern nur fahl im Hintergrund erschien.«

Die Ausrufung der Republik am 12. November auf der Parlamentsrampe erfolgte nicht in einer Phase kollektiver Begeisterung. Die in den wenigen überlieferten Filmminuten eingefangene Stimmung wirkt nicht nur durch das regnerische Novemberwetter getrübt, die Befindlichkeiten der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten sind in dieser semirevolutionären Umbruchsphase keineswegs einheitlich. Zwischen dem Empfinden in Bregenz, Kufstein, Vöcklabruck oder Böheimkirchen und der Stimmung auf der Wiener Ringstraße liegen Welten. Es fehlte (und fehlt) bis heute ein alle Parteien- und Gesellschaftsschichten verbindendes Narrativ. Es gibt keines.

Der Republikgründung in Wien ist ein Hochfest der österreichischen Sozialdemokratie. Vertreter der anderen zwei politischen »Lager«, der Christlichsozialen und der betont Deutschnationalen, stehen im Schatten. Dabei proklamiert der deutschnationale Parlamentspräsident Franz Dinghofer gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Staatskanzler Karl Renner am Nachmittag des 12. November die Republik. In der provisorischen Nationalversammlung, die aus den Abgeordneten des 1911 gewählten letzten Reichsrats besteht, die in deutschsprachigen Wahlkreisen gewählt worden sind, haben die bürgerlichen Deutschnationalen mit 111 von insgesamt 208 Abgeordneten noch eine absolute Mehrheit. Die Christlichsozialen sind die zweitstärkste Fraktion. Doch diese Mandatsstärken in der »provisorischen« Nationalversammlung spiegeln längst nicht mehr die wirklichen politischen Verhältnisse wider.

Das erste Jahr der jungen Republik wird – zumindest in Wien – überwiegend von der Sozialdemokratie geprägt. Das Bürgertum scheint sich ängstlich zu ducken und beginnt erst langsam wieder am politischen Diskurs teilzunehmen. Bei der Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919, bei der erstmals 1,9 Millionen Frauen (gegenüber nur 1,65 Millionen Männern) ihre Stimme nicht nur erheben, sondern auch abgeben dürfen, werden die gut organisierten Sozialdemokraten zur stärksten Fraktion. Sie erreichen 72 Mandate, verfehlen aber eine absolute Mehrheit. Bis 1920 bildet die SDAP mit der Christlichsozialen Partei, die auf 69 Mandate kommt, die erste »große« Regierungskoalition. Neben diesen beiden großen Parteien sind mehrere deutschnationale Gruppen mit insgesamt 26 Mandaten in der Nationalversammlung vertreten. Die bürgerlich-liberalen Kandidaten sind die großen Verlierer, ein einziger schafft es ins Parlament.

Eine Republik in Angst vor revolutionären Umtrieben und eine Verwaltung in k. u. k. Tradition, die sich schon am Tage der Ausrufung der Republik zur Verfügung stellt: Ministerialrat Dr. Josef Freiherr von Löwenthal erscheint am 12. November im Parlament und teilt dem provisorischen Staatskanzler Karl Renner mit, dass er in der Herrengasse 7 gut eingerichtete Büroräume und loyale Mitarbeiter vorfinden werde. Der 46-jährige Jurist aus begütertem großbürgerlichen Haus übernimmt selbst die Leitung der Staatskanzlei. Damit ist der nahtlose Übergang von der bürokratischen Monarchie zur bürokratischen Republik – und damit auch deren Funktionieren – gesichert. Der Übergang von einer Staatsform in die andere wird in den entscheidenden Wochen ordentlich administriert. Die Institutionen mögen einen anderen Namen, ein anderes Wappen erhalten, aber sie legen weiter Akten an, erlassen Verordnungen, urteilen und agieren bescheidgemäß. Die Republik wird von den gesellschaftlichen Eliten des Kaiserreichs ausgerufen. Die sozialdemokratischen Funktionäre gehören dazu. Sie wurden schon 1907 und 1911 aufgrund eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts (für Männer) gewählt.

Der Adel ist zwar abgeschafft, lebt aber auf seinen Gütern und in den Wiener Palais fort. Die Frauen erhalten politische Gleichberechtigung und werden doch von Entscheidungen ferngehalten. Ein Hellseher taucht auf und hypnotisiert die Massen. Die von vier Kriegsjahren ausgelaugte Bevölkerung wird von der »Spanischen Grippe« erfasst. Es fehlen Kohle zum Heizen, Gas zum Kochen und Erdäpfel zum Essen. Wiens Kinder hungern, sie sterben an Tuberkulose (die zur »Wiener Krankheit« wird) und werden in die Schweiz, nach Schweden, Norwegen oder in die Niederlande zum »Aufpäppeln« verschickt. Der Diplomat Carl Jacob Burckhardt kommt in diesen Tagen nach Wien und ist entsetzt: »Die Stadt bot einen Anblick, bei dem man überhaupt nicht mehr annahm, daß noch irgendetwas in ihr geschehen könne, irgendein Ereignis hier seinen Ursprung nehmen, irgendeine Regung erfolgen werde. Man sah damals die Leute auf der Straße vor Hunger umfallen; von allem Elend, das herrschte, als der Weltkrieg in der Not der mitteleuropäischen Menschheit zusammenbrach, war das Wiener Elend das schrecklichste, die Erschöpfung der Kaiserstadt die tiefste, die Aussicht des alten Österreichs die hoffnungsloseste.« Stefan Zweig wundert sich noch Jahrzehnte später, »wie das ausgeplünderte, arme, unselige Österreich damals erhalten geblieben ist. Zur Rechten hatte sich in Bayern die kommunistische Räterepublik etabliert, zur Linken war Ungarn unter Bela Kun bolschewistisch geworden, noch heute bleibt es mir unbegreiflich, dass die Revolution nicht auf Österreich übergriff.« Der Schriftsteller vergisst auf den etwas weiteren Blick. In Berlin toben Straßenkämpfe. Reguläre Armeeeinheiten setzen Artillerie und sogar Flugzeugbomben gegen den Aufstand der »Spartakisten« ein. 1200 Menschen sterben in der deutschen Hauptstadt. Im ehemaligen russischen Zarenreich kämpfen auch noch im zweiten Jahr nach der Revolution Soldaten der »Weißen« gegen die bolschewistische »Rote Armee«. In Dalmatien meutern italienische Truppen und besetzen unter dem pathetischen Kommando des Dichters Gabriele d’Annunzio die Hafenstadt Fiume. Und bei den schottischen Orkney-Inseln versenkt ein deutscher Konteradmiral fast die gesamte wilhelminische Flotte.

Europa ist ein Tollhaus. Der Abbruch jahrhundertealter und längst überholter Staatsstrukturen wird zum Nährboden für einen »Krieg der Träume und der Ängste«. An Explosivstoff fehlt es wahrlich nicht. Zweig beschreibt die Welt von Gestern: »In den Straßen irrten die heimgekehrten Soldaten halb verhungert und in zerrissenen Kleidern umher und sahen erbittert auf den schamlosen Luxus der Profiteure des Krieges und der Inflation.«

Ob der Präsident der provisorischen Nationalversammlung, der Sozialdemokrat Karl Seitz, oder Staatskanzler Karl Renner selbst mit Bleistift die Korrektur im 1. Artikel des Verfassungsgesetzes vorgenommen...

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