Shanghai – eine versunkene Welt
So wie Casablanca oder der Orient-Express hat auch Shanghai Stoff für unzählige Filme, Schlager und Träumereien geliefert: Shanghai signalisierte Exotik und Verruchtheit, Abenteuer und schnelles Geld, Schmelztiegel der Völker und alle Variationen des Nachtlebens einer großen Hafenstadt in einem. Daneben die Vorstädte des chinesischen Elends, das andere Shanghai mit Hungerlöhnen, Kinderarbeit, Seuchen und unmenschlichen Wohnverhältnissen.
Der rasante Aufschwung Shanghais seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war eng mit der Blüte des chinesischen Kapitalismus verknüpft. Die Fabriken und Manufakturen, der Handel mit der Außenwelt machten die Hafenstadt an der Mündung des Yangtse-Flusses bis 1930 zur fünftgrößten Stadt der Welt.
Chinas Begegnungsstätte mit dem Westen ist Shanghai jedoch nicht freiwillig geworden. Mit Kanonenbooten erzwangen die Ausländer – voran die Briten 1842 im Opiumkrieg – das Recht auf Ansiedlung, freien Handel, Grundbesitz, eigene Gerichtsbarkeit und sogar die Stationierung von Truppen. Shanghai war zwar nie eine Kolonie im strengen Sinn, aber bis in die vierziger Jahre gab es eine von Fremden regierte Stadt in der Stadt: das »Settlement«. Genau genommen waren es deren zwei, die eigenständige französische Konzession und das aus den Vierteln der Briten und der Amerikaner entstandene »Internationale Settlement«, so etwas wie eine Stadtrepublik mit eigener Verwaltung und Armee. Zusammen waren sie stattliche 30 Quadratkilometer groß und umfassten das eigentliche Herz Shanghais: Das Geschäftszentrum, die Bankpaläste, Clubs und mondänen Einkaufsstraßen.
»Für Hunde und Chinesen verboten« stand zwar nicht wörtlich an den Eingängen zum gepflegten Hwangpu-Park am Hafen, aber in der langen Verbotsliste, die auf den Schildern angeschlagen war, fanden sich irgendwo eben auch Hunde und Einheimische aufgezählt.
Die chinesische Regierung hatte in den »Settlements« jedenfalls nichts mitzureden, auch wenn man später ein paar Alibi-Chinesen in die französische und internationale Stadtverwaltung aufnahm und »sauber gekleideten« Chinesen den Zugang zu besagtem Park erlaubte. Erst die japanische Besatzungsmacht schaffte 1943 die letzten exterritorialen Vorrechte der westlichen Mächte ab.
Mehr als 100.000 Europäer und Amerikaner, Japaner und andere Asiaten lebten um 1940 in der Stadt. Den Höhepunkt erreichte der ausländische Bevölkerungsanteil, als in den zwanziger und dreißiger Jahren immer mehr Flüchtlinge in Shanghai ihr Exil aufschlugen. An die 20.000 kamen allein aus Österreich und Deutschland.
Die ersten Heimatlosen waren die »Weißrussen« – Gegner der »roten« Bolschewiken, die nach der Oktoberrevolution aus Sibirien nach China geflüchtet waren. Ende der dreißiger Jahre, nach der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei durch Hitler, folgten immer mehr Opfer des Nazi-Regimes. Als der Zweite Weltkrieg näher rückte und die Judendeportationen begannen, wurden in Europa und in den klassischen Einwanderungsländern die Grenzen zunehmend dichter. Shanghai war bald der letzte Zufluchtsort, der noch ohne Visum, komplizierte Bürgschaften und Kautionszahlungen erreichbar war. So wurde die gebuchte Schiffspassage nach Shanghai für viele die letzte Rettung vor den Gaskammern der KZs.
Auch die schon vorher recht bedeutsame Stellung der Juden in Shanghai kam den Emigranten dabei zu Hilfe. Die Familien der Sassoons, der Hardoons und der Kadoories, die, aus Baghdad und Indien stammend, mit den Briten nach Ostasien gekommen waren, dominierten nicht nur das Geschäftsleben, sondern gründeten auch Sozialeinrichtungen sowie Hilfsfonds für die notleidenden Glaubensbrüder aus Europa. Sie sorgten für die ersten Unterkünfte und Notgroschen der Neuankömmlinge in Shanghai und später auch für die notwendig gewordene Arbeitserlaubnis. Viele jener, die nicht freiwillig nach Shanghai gekommen waren, lebten unter eher ärmlichen Verhältnissen, in Massenunterkünften und von Armenausspeisungen versorgt. Doch auch ihnen ging es immer noch besser als der Mehrzahl der Chinesen in der Stadt.
Aber es waren keinesfalls nur Juden, auch politische Flüchtlinge – Spanienkämpfer, Kommunisten, Sozialisten, Monarchisten – suchten in Shanghai Exil, und manch engagierter Linker fand hier Kontakt zu chinesischen Revolutionären. Sie alle gesellten sich zu den Geschäftsleuten, Journalisten, Künstlern und Weltenbummlern, die sich schon seit mehr als 80 Jahren in der Stadt angesiedelt hatten. Die Welt der Ausländer, der »Shanghailänder«, wie sie sich nannten, war jedenfalls eine sehr vielfältige: Feine britische Clubs, französische Restaurants, indische Sikh-Polizisten, Wiener Kaffeehäuser, Synagogen, die alte Jesuitenmission in Ziccawei, Bordelle mit weißrussischen Damen (aber auch anderen), Pferde- und Hunderennen mit dem dazugehörenden Wettspiel. Zeitungen und Magazine erschienen auch auf Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch und noch in einem guten Dutzend weiterer Sprachen.
1940 leben in Shanghai mehr als 3000 österreichische Juden, ein »Little Vienna« ist in der Stadt entstanden, eine Wiener Subkultur auf chinesischem Boden, mit Kaffeehäusern, einem Wiener Operettentheater und Österreichvereinen. Man pflegt ein Österreichbewusstsein zu einer Zeit, wo der Staat von den Landkarten verschwunden war. Die Wiener Kaffeehäuser mit den Marmortischen, auf denen die Ober Gugelhupf und Buchteln servieren, werden beliebte Treffpunkte für Ausländer und chinesische Intellektuelle gleichermaßen. In ganz Shanghai kennt man das Restaurant »Fiaker« in der vornehmen Avenue Joffre Nummer 997, das Gulyas, Schnitzel und Gefüllte Paprika auf der Speisekarte führt, und wo »Pepi am Klavier unterhält«, wie ein Inserat in der englischsprachigen »Evening Post« wirbt. Andere Wiener Gaststätten heißen »Weißes Rössel« oder auch »Kolibri«, das Café, das in den vorliegenden Erinnerungen von Franziska Tausig eine Rolle spielt.
Inzwischen macht Japans Expansionsdrang auch vor Shanghai nicht halt. 1937 fallen japanische Bomben, Tokios Soldaten terrorisieren mit brutalen Unterdrückungs- und Vergeltungsmaßnahmen die Chinesen in der besetzten Stadt.
Der Zustrom von Emigranten kommt Anfang der vierziger Jahre allmählich zum Erliegen. Schon der Kriegseintritt Italiens hat die Seeroute über das Mittelmeer versperrt, Juden können nur mehr in plombierten Zügen durch Russland China erreichen. Nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Paktes und dem Kriegsbeginn im europäischen Osten ist auch diese Route nicht mehr möglich.
Dafür erreicht Hitlers Rassenpolitik nun auch den Fernen Osten. Unter dem Druck Nazi-Deutschlands führen die Japaner Zwangs- und Kontrollmaßnahmen für die Juden in Shanghai ein. 1942 erhalten sie Identitätskarten mit gelben Streifen, und ab Februar 1943 müssen sie in ein eigenes Ghetto im Stadtteil Hongkew abseits des einstigen Lebensbereiches der Europäer übersiedeln und ihre Geschäfte und Wohnungen aufgeben. Zum Verlassen des Stadtteils brauchen sie eigene Passierscheine.
Dennoch haben die Japaner nie wirklich Verständnis für Hitlers Judenhass aufgebracht. Obwohl die Nazis, die für die Shanghai-Deutschen eigene Schulen, HJ-Gruppen, Zeitungen und Deutschtumsverbände betrieben, Druck auf die Japaner ausübten, ließen sie sich zu keinen weiteren Zwangsoder gar Vernichtungsmaßnahmen drängen. Es blieb bei der Internierung in dem Ghetto, in dem die Juden immer noch besser dran waren als die Angehörigen der Alliierten, die in stacheldrahtumschlossenen Lagern gehalten wurden. Zeitweise ließen die Japaner zum Entsetzen der Deutschen sogar die Shanghaier Nazi-Zeitung »Ostasiatischer Lloyd« durch zwei Juden zensurieren – »weil sie so gut Deutsch können«.
Erst 1945, als amerikanische Soldaten die Japaner nach der Kapitulation entwaffneten, konnten die europäischen Flüchtlinge langsam an Rückwanderung denken. Doch in den Nachkriegswirren brauchte das seine Zeit. Erst Ende 1946 liefen die ersten großen Schiffstransporte Richtung Österreich aus. Amerikanische und Internationale jüdische Hilfsorganisationen kümmerten sich um die im Fernen Osten gestrandeten Heimatlosen. Auch eine »Austrian Resident Association«, eine Art österreichisches Bürgerkomitee, sorgte sich um die Österreicher. Viele drängte es aber gar nicht mehr nach Europa, sondern nach Amerika oder gleich nach Palästina, wo der zukünftige Staat Israel im Entstehen begriffen war.
Shanghai jedenfalls fand nie mehr zurück zu seiner Vorkriegsatmosphäre. Auch der chinesische Bürgerkrieg warf seine Schatten auf die Stadt. Inflation und Kriminalität nahmen zu, die Wirtschaft lag danieder.
Ende Mai 1949 marschierte schließlich die »Volksbefreiungsarmee« Mao Zedongs in Shanghai ein, und die Revolution erreichte wieder jenen Ort, von wo sie 1921 mit der Gründung der...