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Überwachung, Zersetzung, Vertreibung. Die Methoden der Stasi aus der Perspektive von Tätern und Opfern

AutorAlexander Schug, Christin Wolf, Juliane Berger, Sandra Mühlbach, Stefanie Eisenhuth
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl157 Seiten
ISBN9783656844921
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Selbst ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall leiden immer noch Tausende ehemaliger DDR-Bürger unter den Folgen des Regimes. Viele als politische Gegner identifizierte Menschen wurden von der Stasi psychisch und gesellschaftlich ruiniert. Die so genannte Zersetzungsmethode bedeutete Rufmord, Zerstörung von beruflichen Laufbahnen und privaten Beziehungen. Dennoch waren auch viele normale Bürger bei der Stasi angestellt - waren auch sie Verfechter des repressiven Systems? Dieser Band beleuchtet die Methoden der Stasi sowie Beispielfälle von Tätern und Opfern: inoffizielle Mitarbeiter (IM), hauptberufliche Stasi-Mitarbeiter sowie das berühmte Stasi-Opfer Jürgen Fuchs.

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Leseprobe

Hauptteil


Personenverzeichnis


Der Übersicht halber werde ich hier eine Liste der Personen aufführen, auf deren Geschichten und Aussagen ich im Hauptteil eingehen werde. Die Quellen dieser Zeitzeugenaussagen liegen teils im schriftlichen, teils in Videoformat vor. Ich nenne kurz alle relevanten Eckdaten über die Personen, die in der Quelle enthalten sind. Bei manchen Fallbeispielen sind jedoch Schule, Alter und damaliger Wohnort anonym. Ist der Nachname unbekannt, wird er mit einem * gekennzeichnet.

Kerstin Harrabi: Schülerin der EOS Spezialschule in Wickersdorf 1971-1975, mit 17 Jahren als IM in der Schule angeworben

Elvira Tolsdorf: Schülerin der EOS Spezialschule in Wickersdorf 1975 – 1979, mit 17 Jahren als IM in der Schule angeworben

Marko Hermersdörfer: 1986–1988 Schüler der EOS Friedrich Engels in Dresden, mit 17 Jahren im Wehrbezirkskommando als IM angeworben

Renate *: 1986 mit 17 Jahren als IM in der Schule angeworben

Manfred *: 1982 mit 17 Jahren als IM in der Schule angeworben

Hannelore Schneider: Deutschlehrerin in den 1970er Jahren an einer POS in Cottbus

Tätigkeiten der jugendlichen IMs


Wurde ein jugendlicher IM erfolgreich von der Stasi angeworben, stellte das MfS ihm für den Verlauf seiner zukünftigen Arbeit einen Führungsoffizier zur Seite. Essenziell für die Bindung des Jugendlichen an die Stasi war der Aufbau eines Vertrauenverhältnisses zum MfS, speziell zum zugeteilten Führungsoffizier. Um dieses Vertrauen aufzubauen, nutzte der Führungsoffizier alle Informationen, die er über den jugendlichen IM besaß. Aus Wissen um Vorlieben, Ängste, Interessen, Selbstdarstellung und Alltagsgestaltung wurde ein individuelles Psychogramm des Jugendlichen erstellt. Der Führungsoffizier selbst passte sein eigenes Verhalten und Auftreten dementsprechend an – dem IM wurden so Verständnis, Freundschaft und Vertrauen suggeriert.[58] War diese Basis erfolgreich gelegt, wurde der Jugendliche bis zu einem gewissen Maße lenkbar und somit bereit, Aufträge des MfS auszuführen. Das Aufgabenfeld der IMs bestand aus der Überwachung und Bespitzelung anderer Jugendlicher, die vom MfS der Ausführung oder Planung staatsfeindlicher Tätigkeiten verdächtigt wurden. Das beinhaltete auch die Bespitzelung aller Räume und Gruppen, in denen frei und kritisch diskutiert und gedacht wurde, oder westliches beziehungsweise den Sozialismus gefährdendes Gedankengut geteilt wurde. Häufig waren kirchliche Jugendgruppen, Umwelt- und Friedensaktivisten und jugendliche Subkulturen wie die Punk- und Blueserszene von der Überwachung durch IMs betroffen.[59] Ziel der Staatssicherheit war die Zersetzung der Gruppierung. Gezielt sollte Misstrauen, Streit, Konkurrenzdenken und Antipathie zwischen den Mitgliedern der Gruppe geschürt werden, um sie auseinandern zu brechen oder Rädelsführer zu identifizieren.[60]

Der angeworbene IM verfügte entweder bereits über Kontakte in die entsprechende Gruppe oder sollte diesen auf Befehl der Stasi hin herstellen. Meist waren zu überwachende Jugendliche Klassenkameraden des IMs, so erfolgte auch die erste Kontaktaufnahme der Stasi meist in der Schule. Die eigentliche Tätigkeit des IMs fand allerdings meist in den genannten Freiräumen der Heranwachsenden statt. Die ehemalige IM Renate* berichet über den Beginn ihrer Arbeit für das MfS: „Ich hatte da was mitgekriegt von Mitschülern, die eben Christen waren oder Kirchgänger, aber ich hatte irgendwie Angst davor, da ich bis dahin nichts damit zu tun hatte. Im Juli bin ich dann das erste Mal da hin und bin aber gleich wieder weg und wurde erstmal krank.“ [61] Deutlich zeigt sich hier, wie das MfS die Jugendlichen zu Grenzüberschreitungen zwingt. Renate*, die schüchtern ist, muss Fuß fassen in einer Gruppe Fremder – darauf zeigt sie eine körperliche Stressreaktion und wird krank.[62] Andere IMs fanden sich in ihrer Aufgabe besser zurecht. Grundsätzlich mussten die jugendlichen IMs einige, für das MfS wichtige, charakterliche Voraussetzung erfüllen. Sie mussten sehr intelligent sein, über gute Menschenkenntnis verfügen, sich schnell in neue Gruppen integrieren können und unverdächtig wirken.[63] Neben diesen Eigenschaften, die meist Ausdruck einer starken Persönlichkeit waren, machte sich die Stasi auch pychische Schwächen der Heranwachsenden zu Nutze. So machte eine instabile Bindung der IMs an die eigenen Eltern den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses leichter, da so der Führungsoffizier die emotionalen Defizite zum Schein ausgleichen konnte. Beispielsweise sollte der damals siebzehnjährige Marko Hermersdörfer Ende der 1980er Jahren seinen besten Freund Bernhard bespitzeln. Die beiden Dresdener unterhielten einen Briefwechsel mit einer Schule in Straßbourg, der sie ins Visier der Stasi geraten ließ. Bernhard galt als selbstbewusst, Marko machte einen psychisch labilen Eindruck. Das machte sich das MfS zu Nutze – sie zwangen Marko unter der Androhung, seinen Berufswunsch nicht verwirklichen zu können, über Bernhard zu berichten.[64] Marko: „Dann sagt man immer: ok du machst mit, ist vielleicht besser für deine Zukunft. Dann wachst du am nächsten Morgen wieder auf und sagst: nee ich mach doch nicht mit.“ [65] Ähnlich wie bei Renate* zeigt sich auch hier großer Unwillen, mit der Stasi zu kooperieren. Im Gegenzug gab es jedoch auch Jugendliche, die sich aus Eigeninitiative als IM meldeten. [66]

Inhaltlich war das MfS an allen Details über Handlungen, Gespräche und Beziehungen innerhalb der observierten Gruppe interessiert. Gerade durch das Erfragen von scheinbaren Belanglosigkeiten gewannen viele jugendliche IMs den Eindruck, keine wichtigen, beziehungsweise riskanten Informationen weiterzugeben. Kerstin Harrabi, die Anfang der 1970er Jahre die EOS Spezialschule in Wickersdorf besuchte, wurde mit siebzehn Jahren als IM angeworben. Sie erinnert sich: „[…] die haben also jedes pubertäre Geschwätz aufgeschrieben und wie gesagt mir war das gar nicht bewusst, dass die das für sonst was gebrauchen können...vielleicht um jemandem sein Leben zu vermasseln.“ [67]

Vor allem bei den konspirativen Treffen, welche die IMs in etwa zweiwöchigem Abstand mit ihren Führungsoffizieren hatten, versuchte das MfS die Zweifel der Jugendlichen an ihrer Tätigkeit zu zerstreuen. Kerstin: „Geraucht wurde viel um so ein bisschen so eine Kumpel-Atmosphäre zu schaffen um mir so das Gefühl zu geben: So du gehörst dazu. Und dann noch Alkohol zu bekommen ist auch toll.“ [68] Die Methode der Stasi, sich den Jugendlichen als vertrauensvoller Freund zu präsentieren, wird hier deutlich. Außerdem durften die Heranwachsenden in ihrer Rolle als IM wie selbstverständlich Sachen tun, die ihnen sonst in ihrem Alter verboten blieben. Angesichts der engen, staatlich streng reglementierten Welt der Jugendlichen hatte dies einen zusätzlichen Reiz, der die Arbeit für das MfS attraktiv machte – trotz moralischer Bedenken.

Nach Abschluss der Schulzeit oder Beendigung der Konspiration ging die inoffizielle Tätigkeit des Jugendlichen für das MfS entweder in einen hauptamtliche Beruf über, oder wurde von Seiten des IM beendet. Gründe für das Ausscheiden aus dem IM-Dienst waren beispielsweise eine neue Freundschaft oder Beziehung, die mit der Arbeit für das MfS unvereinbar war oder der Wunsch nach Entlastung des eigenen Gewissens. [69] Manchmal waren es auch Forderungen seitens der Stasi, die selbst mit dem angeschlagenen moralischen Bewusstsein eines IMs nicht mehr vereinbar waren, die zum Abbruch der Spitzel-Tätigkeit führte. Die ehemalige IM Kerstin Harrabi wurde vom MfS dazu angehalten, mit einem Jungen, dessen Eltern vermeintlich im Begriff waren, Republiksflucht zu begehen, ein intimes Verhältnis zu beginnen. Für sie war das ein Auslöser, die Zusammenarbeit abzubrechen.[70]

Nicht alle IMs konnten ihre Zusammenarbeit mit dem MfS problemlos beenden. Oft wurde Aussteiger unter Druck gesetzt, erpresst oder regelrecht verfolgt.[71]

Folgen für den eigenen Alltag und den der Mitschüler


Vor- und Nachteile, die ein jugendlicher IM durch seine IM-Arbeit hatte, waren vielfältig, genauso wie die Folgen, die diese Tätigkeit auf den Alltag der Mitschüler hatte.

Aus pragmatischer Sicht hatte die Aufgabe als IM vor allem schulische und berufliche Vorteile für den entsprechenden Jugendlichen. Eine erfolgreich ausgeführte IM-Tätigkeit galt in der DDR quasi als Garantie für Abitur und Studium. Selbst wenn die schulischen Leistungen schlecht waren, musste als IM oder zukünftiger offizieller MfS-Mitarbeiter nicht um die berufliche Zukunft gebangt werden. Hannelore Schneider war in den 1970er Jahren Deutschlehrerin an einer EOS in Cottbus, sie berichtet über einen Schüler, dessen mangelhafte Noten unter normalen Umständen nicht zum Bestehen des Abiturs ausgereicht hätten: „[...] da hatte ich in meinem Fach die Note fünf und ich erinnere mich in Chemie war das genauso. Und da wurde von uns beiden, von der Kollegin und mir verlangt, dass wir diese Note ändern auf vier, denn dieser junge Mann würde ja, ich glaub das ist so eine Hochschule wo er zu...

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