4 Die »Fuchsmühler Holzschlacht« als politisches Sprungbrett
Während Heims Zeit in Wunsiedel strebte die Krise der Landwirtschaft ihrem Höhepunkt entgegen. Zwar versuchte das Deutsche Reich, durch Schutzzölle das deutsche Getreide konkurrenzfähig zu halten, doch Reichskanzler Leo von Caprivi löste ab 1890 das Bündnis aus »Roggen und Eisen« und wollte künftig für einen besseren Absatz deutscher Industrieprodukte im Ausland sorgen. Dafür schloss er im Gegenzug Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Belgien, Italien, der Schweiz, Rumänien und Russland, die die Senkung des Einfuhrzolles für Getreide aus diesen Ländern vorsahen.
Als noch größeres Problem erschien den Bauern zudem der Mangel an Hilfskräften: Die Zeitungen waren voll von Fahndungsinseraten, die nach Dienstboten suchten, die vorzeitig ihre Stelle verlassen hatten. Schließlich waren 90 Prozent der landwirtschaftlichen Anwesen in Bayern in ihrer Existenz bedroht. Existenzängste aufgrund dieser unsicheren Lage führten auf dem Lande zu Aggressionen. Es mehrten sich Zusammenstöße zwischen Gendarmerie und Landbevölkerung, bis die Krise schließlich gegen Ende des Jahres 1894 ihren Höhepunkt erreichte.
In den ersten Novembertagen des Jahres ging ein Schrei der Empörung durch Bayern. Der Tod des russischen Zaren, ein Ereignis von weltpolitischer Bedeutung, wurde von Vorfällen in der nördlichen Oberpfalz von den Titelseiten der überregionalen Zeitungen verdrängt: Der kleine Ort Fuchsmühl im Bezirksamt Tirschenreuth machte über Deutschland hinaus politische Schlagzeilen. Was war passiert?
Der Kampf ums Rechtholz
Über Jahrhunderte hinweg hatten die Einwohner des Ortes das Recht, sich aus den Forsten der örtlichen Gutsherrschaft ein bestimmtes Quantum Holz schlagen zu dürfen. Für viele verarmte Ortsbewohner bedeutete das »Rechtholz« oft die einzige sichere Einnahmequelle. Dieses Privileg wurde nun den Ortsbewohnern vom damaligen Besitzer des Schlosses streitig gemacht. Mehrere Prozesse zogen sich über Jahrzehnte hin; den letzten gegen den Baron Zoller, dessen Bruder der Geheimkanzlei des Prinzregenten Luitpold vorstand, hatten die Fuchsmühler schließlich im Jahr 1894 verloren. Als gegen Ende Oktober in Fuchsmühl das Urteil bekannt wurde, wollten die Rechtler wenigstens das noch ausstehende Rechtholz der vergangenen Jahre zugewiesen bekommen. Doch der Baron und dessen Förster verweigerte es ihnen erneut.
Abb. 6: Vor dem Hintergrund der Wallfahrtskirche in Fuchsmühl fragt der Gutsbesitzer: »Für wen wird das Grab gerichtet?« Antwort des Totengräbers: »Hier wird der Glaube des Volkes an die Gerechtigkeit und Humanität begraben«. – Die Karikatur aus der satirischen Zeitschrift »Münchener Ratsch-Kathl« vom 10. November 1894 fand die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft.
Was bereits den ganzen Sommer über ins Auge gefasst worden war und was die Gendarmerie als leeres Wirtshausgerede abgetan hatte, wurde nun Wirklichkeit: Am Morgen des 29. Oktober zog ein Trupp von etwa 200 Einheimischen mit Äxten und Sägen ausgerüstet in den etwa 2 km vom Ort entfernten Waldteil »Schrammlohe«. Sie begannen dort mit Holzarbeiten auf einem großflächigen Bruch, den wenige Wochen zuvor ein Sturm verursacht hatte. Das Forstpersonal des Barons verständigte umgehend die Gendarmerie im benachbarten Wiesau. Die Polizei wiederum alarmierte den Bezirksamtmann in der Kreisstadt Tirschenreuth, der sich mit einem Trupp Gendarmen zum Ort des Geschehens begab. Etwa zwei Stunden versuchte der Bezirksamtmann Wall die Holzrechtler von ihrem Tun abzubringen, doch immer wieder schallte es ihm entgegen: »Wir hauen nur unser Recht.« Als der Beamte sah, dass er mit gutem Zureden nichts erreichen würde, telegrafierte er vom Bahnhof Wiesau aus nach Amberg und beorderte für den nächsten Morgen Militär nach Fuchsmühl.
Die Amberger »Sechser« greifen ein
Eine 50-köpfige Abteilung des 6. Infanterieregiments, die sogenannten »Sechser«, wurde am anderen Morgen umgehend in Marsch gesetzt, erreichte unter der Führung des Premierleutnants Hermann Mayr gegen 10 Uhr den Bahnhof Wiesau und ging schließlich mit aufgepflanzten Bajonetten gegen die »Aufrührer« vor.
Der dramatische Höhepunkt der Affäre war der Tod von zwei alten Männern, des 69-jährigen Georg Stock und des 70-jährigen Leonhard Bauer. Elf weitere Holzrechtler erlitten zum Teil erhebliche Stichverletzungen im Rücken. Von den Soldaten wurde kein einziger verletzt.
Die Nachricht vom »Bauernaufstand« in Fuchsmühl machte wie ein Lauffeuer die Runde. Georg Heim hatte im nur wenige Kilometer entfernten Wunsiedel von dem Skandal erfahren und umgehend einen langen Artikel für die »Amberger Zeitung« seines Zentrumsfreundes Boes verfasst. Der Entwurf des anonym erschienenen Artikels liegt in Heims Nachlass. Zahlreiche überregionale Zeitungen übernahmen die Meldung. Die Bevölkerung kommentierte die Ereignisse mit zahlreichen Spottliedern, die noch Jahre später die Aufmerksamkeit des Staatsanwaltes fanden.
Das 6er-Lied
Mir san die tapfern Bayern, sagt jeder der uns kennt.
Mir waren stets die Schneidigsten vom 6ten Regiment.
Gefürchtet sind wir überall, in Amberg und Fuchsmühl,
mir stechen die Bauern nieder mit stolzem Selbstgefühl.
Wenn dann von unserm Hauptmann der Kommandoruf erschallt:
»Soldaten macht’s euch fertig, d’Fuchsmühler san im Wald,
richt’s eure Bajonette, nach vorn den Flintenlauf!«,
dann geht es auf die Bauern mit Hurrarufen drauf.
Was dou die Alten san, däi kommen z’erscht daran.
Dös junge, frische Blout, däi könna’s Laffn z’gout.
Däi Alt’n san net so schnell, däi kumma net von da Stell,
Drum ’s Bajonett neigrennt vom 6ten Regiment.
Herr Majoratsherr Zoller, sonst ein honoretter Mann,
der schickaniert die Bauern, was nur ein solcher kann.
Und als die armen Teufel sich holen woll’n ihr Recht,
da kam die schlimme Stunde, da ging es ihnen schlecht.
Die Trommel ruft zum Sturme, es kommt das Militär,
die fielen über die Bauern wie Kannibalen her.
Sie stachen und sie hieben, fürwahr es war ein Graus,
im Kriege anno 70 sah’s auch nicht ärger aus.
Ja, ja es is a Schand für’s ganze Bayernland,
wenn so a Millig’sicht die alten Leut absticht.
Da war’n in dem 70er Jahr die Franken aa sogar
bei einem bessern Regiment, wie die vom 6ten Regiment.
Die Fuchsmühler Ereignisse gaben Heim Gelegenheit dazu, auf die aktuellen Probleme der Landwirtschaft aufmerksam zu machen. Als unmittelbarer Beobachter der Vorfälle klärte er in einer Reihe aufrüttelnder Artikel über die Hintergründe der Holzschlacht auf. Der damals knapp 30-Jährige strebte wohl bereits ein politisches Mandat an, wie seine Aktivitäten zur Gründung von »Christlichen Bauernvereinen« in der Oberpfalz vermuten lassen.
Für den Mammutprozess gegen die Holzfrevler mit 145 Angeklagten war eigens der Sitzungssaal des Weidener Rathauses angemietet worden. Die Verhandlung fand vom 23. bis 27. April 1895 statt. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und einem Großaufgebot an Polizei und Presse erfolgte die Urteilsverkündung. Insgesamt erhielten nur zwei Personen einen Freispruch, die anderen wurden wegen Landfriedensbruchs in Verbindung mit einem Forstfrevel zu empfindlichen Strafen verurteilt, teilweise zu Gefängnisstrafen von über vier Monaten.
Im Vorfeld des Weidener Prozesses hatte Heim im Januar 1895 begonnen, Geld für den Rechtshilfefonds der Fuchsmühler Angeklagten zu sammeln. Unter dem Briefkopf der »Verkaufgenossenschaft der Fichtelgebirgs-Raiffeisen-Vereine« wandte er sich in Bettelbriefen an kirchliche Würdenträger, Klöster und Organisationen. Insgesamt sammelte er auf diese Weise rund 3000 Mark. Auch in der Folgezeit sollte Heim immer wieder in Fuchsmühl und Umgebung auftauchen, und es war sicher kein Zufall, dass er ausgerechnet dorthin einlud, um beim »Unteren Wirt« die Gründung eines »Christlichen Bauernvereins für die nördliche Oberpfalz« zu vollziehen.
Heim nutzte also vor allem den bevorstehenden Prozess gegen die Fuchsmühler »Aufrührer« im Frühjahr 1895 für seine politischen Ambitionen. Er versuchte, den langjährigen Zentrumsabgeordneten Johann Baptist Lehner im Wahlbezirk Kemnath zu beerben. Dieser hatte es versäumt, sich demonstrativ an die Seite der Holzrechtler zu stellen. Diese Tatsache machte sich Heim zunutze: Er griff den Parteifreund heftig an. Am Palmsonntag des Jahres 1895 eskalierte die Angelegenheit, als Heim bei einer Großveranstaltung im oberpfälzischen Auerbach nicht nur Lehner, sondern in einem Rundumschlag die Zentrumspartei heftig angriff. Der Tenor seiner Rede: »Wir verlangen neue Männer und eine schärfere Tonart!«
Die Auerbacher Versammlung füllte tagelang die Spalten der Oberpfälzer Provinzblätter. Der allseits bekannte Publizist Johann Baptist Sigl, der fanatische Bauernbündler und gefürchtete »Preussenfresser«, enthüllte in seiner Zeitung »Das Bayerische Vaterland« sogar, Heim habe sich offen als Gegner der Zentrumsführer Daller und Orterer gezeigt. Sigl kommentierte, Heim spiele jetzt in der Oberpfalz die erste Geige und er hoffte, auch im »verdallersten Wahlkreis« würde »unser Dr. Heim keinen Centrums-Esel finden, der ihn auf dem Sattel duldet«. Mit den Äußerungen des jungen Zentrumsmannes und den Nachrichten in den Presseorganen machte sich Heim in der eigenen Partei keine weiteren Freunde.
Ein Bericht des zuständigen Bezirksamtes über den Verlauf einer Wahlversammlung in Auerbach vom 9. April...